Der dunkelgraue Audi Quattro stand in der Parkbucht vor der Einfahrt zum Campusgelände, halb hinter dem Virchow-Denkmal verborgen. Ella sah ihn erst, als sie schon fast vorbeigefahren war. Gerade ging die Sonne auf, und die Fenster des Bettenhauses warfen das Licht zurück. Das blendende Gleißen der Fenster füllte den ganzen Rückspiegel aus, und Ella konnte nichts mehr erkennen, bis sie den Rettungswagen durch eine Lücke im Gegenverkehr in die Reinhardtstraße gesteuert hatte. »Ich glaube, da war er wieder«, sagte sie.
Max hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt und summte vor sich hin, Bruchstücke eines Songs, den sie nicht kannte. Dann sagte er: »Ich habe Hunger«, ohne die Augen zu öffnen.
»Worauf?«
»Wodka. Eine ganze Flasche.«
»Wodka ist ein Getränk«, sagte Ella. »Hunger hat man auf Essen.«
»Hast du Hunger?«, fragte Max.
»Weiß ich noch nicht«, sagte sie.
»Möchtest du einen Wodka?«
»Später.«
»Und einen Döner?«
»Nein.«
»Ich möchte einen Döner«, sagte er.
»Soll ich zum Türken fahren?«
Er nickte. »Fahr zum Türken.« Er schloss die Augen und schien wegzudämmern.
Sie fuhr ein Stück weit die Reinhardt entlang in Richtung S-Bahn Oranienburger Straße. Jetzt gehörte die Stadt dem Morgen – den Sprengwagen der Straßenreinigung, den Briefträgern, den Zulieferern der Supermärkte. Sie gehörte den ersten Ladenbesitzern, die ihre Rollläden hochzogen. Sie gehörte den Arbeitern und Angestellten, den Geschäftsleuten und berufstätigen Frauen, die aus den Eingängen der U-Bahn-Stationen quollen, die Eisentreppen der S-Bahnhöfe herabeilten oder mit Bussen, auf Fahrrädern und in ihren Wagen in die Stadt strömten. Sie gehörte dem Leben, dem Licht.
Studenten, Ärzte und Pfleger bevölkerten die Bürgersteige rund um die Charité. Servicekräfte, die man früher Kellner genannt hatte, stellten die Stühle an die Tische vor den Straßencafés, Backfactorys und vegetarischen Frühstücksshops. Schulkinder mit Rucksäcken und bunten Ranzen überquerten fröhlich kreischend die Zebrastreifen, und Ella dachte, sie sind so unschuldig, jeder von ihnen, keiner hat gesehen, was ich heute Nacht gesehen habe. Keiner weiß, wie nah sie dem Grauen sind; wie nah es ihnen ist. Und der Himmel war von einem strahlenden Blau.
»Er war da. Er war in der Wohnung«, sagte sie unvermittelt.
»Wer war in der Wohnung?«, fragte Max schläfrig.
»Der Mann, der sie so zugerichtet hat.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe ihn gesehen.«
Er öffnete nicht einmal die Augen. »Ach ja? Wie sah er aus?«
Sie antwortete nicht. Sie versuchte Ordnung in die Gedanken zu bringen, die in ihrem Kopf kreisten. Max fragte: »Was hast du eigentlich vor dem Haus noch mit dem Nachbarn der Frau geredet?«
Ella sagte: »Ich hab mir seinen Namen notiert und ihn gefragt, ob er es war, der den Notruf gewählt hat. Icke? Nee … «, machte sie ihn nach. »Dann hab ich ihn gefragt, ob er weiß, wie die Frau heißt, und er sagt, nee, ich glaub, die ist nicht von hier. Er hätte aber mal Post für sie angenommen, einen Brief mit französischer Marke drauf und einem Absender in Paris. Aber ihr Deutsch wäre tadellos.«
Sie setzte den Blinker und bog nach rechts ab. »Und wie die Leute heißen, wüsste er auch nicht, sagt er, nee, die hätten immer schön Abstand gehalten. Feine Leute. Er glaubt, denen gehört das Haus sogar. Ich hab ihm gesagt, dass wir sie in die Charité bringen und ihn gebeten, die Polizei zu informieren.«
»Wetten, das wollte er nicht«, sagte Max.
»Nee, nee, das machen Sie mal lieber selbst!« Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, aber der Verkehr war inzwischen zu dicht, und alle Frontscheiben reflektierten die Sonne. »Max, fragst du dich nicht, was da los war, in der Wohnung? Wer war der Mann? Wer ist die Frau? Warum hat er das mit ihr gemacht, warum hat er sie so zugerichtet? Wer hat uns gerufen? Warum war der Mann noch da, als wir gekommen sind? Wir haben über acht Minuten gebraucht – zehn, bis wir oben waren –, und die ganze Zeit ist er da oben durch Blut gewatet. Sie muss geschrien haben vor Schmerzen, also warum war er noch da? Warum war er nicht längst weg? Interessiert dich das alles nicht?«
»Mich interessiert, wann ich was zu essen kriege.« Max öffnete ein Auge, musterte sie kurz, richtete es dann auf die Straße. »Da vorn ist der Türke.«
Ella schaltete das Blaulicht ein und ließ kurz das Martinshorn aufheulen, um einen Mercedes zu vertreiben, der gerade rückwärts in die einzige Parklücke vor dem Imbiss manövrieren wollte. Während sie bremste, kuppelte, in den Rückwärtsgang wechselte und das Lenkrad einschlug, redete sie weiter. »Ich hatte jedenfalls Angst, richtig Angst! So ein Gefühl hatte ich noch nie bei einem Einsatz. In Neukölln bin ich mal angespuckt und von so ’nem verrückten Kickboxer bedroht worden. In Wedding haben Araberclans unseren Wagen mit Steinen beworfen, und in Marzahn haben sie uns die Reifen zerstochen. Bei einer Demo ist vor meinen Augen ein Mädchen von Bullen in voller Montur mit Schlagstöcken dermaßen zusammengeknüppelt worden, dass ich den Schädel knacken gehört habe. Ich war nur eine Handbreit weit weg, als vermummte Autonome Polizisten mit Pflastersteinen und Brandsätzen beworfen haben, und ich hab Decken über die brennenden Männer geworfen. Ich bin umgerannt, umgestoßen und einmal beinahe überfahren worden. Aber das alles«, sie schwieg kurz, dann holte sie tief Luft, »das alles war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, als ich plötzlich in der Wohnung spürte, dass da noch jemand war. Es war nichts gegen diese würdelose Angst.«
Sie hielt am Bürgersteig, meldete sich in der Leitstelle ab und schaltete den Funk aus. Max hievte sich mühsam von seinem Sitz. »Ich glaube, ich nehme keinen Döner«, sagte er. »Ich nehme ein Hähnchen.« Er stützte sich auf Ellas Schulter und humpelte neben ihr auf die offene Tür des Imbissladens zu. Über dem Eingang stand in grünen Buchstaben auf rotem Grund Dürüm Salat Iskender Pommes Burger Pizza Pasta Hähnchen, und neben dem großen Schaufenster prangten Farbfotos von krossen Grillhähnchen, goldgelben Pommes frites, überquellenden Dönertüten und bunten Salaten. Im Inneren gab es eine Reihe schlichter Holztische und einen Kühlschrank mit Getränkedosen. Türkische Musik hallte von den rot gestrichenen Wänden wider. Ein Dönerspieß drehte sich langsam vor den glühenden Grillstäben, und in der öligen Hitze wurde man fast schon vom Luftholen satt.
»Jeder Mensch hat über zweihundert Knochen«, sagte Ella zehn Minuten später und schwenkte einen Hühnerknochen, den sie eben heißhungrig abgenagt hatte, »die meisten davon in Händen und Füßen. Wir haben über sechshundert Muskeln, ein Herz, ein Gehirn, Nieren, Leber, Augen, aber das größte Organ ist unsere Haut, und da hat der Kerl gründliche Arbeit geleistet. Er hat sie ihr praktisch in Streifen geschnitten.«
»Iss«, sagte Max. »Vielleicht waren es die Fische.« Er wedelte mit fettglänzenden Fingern in der Luft herum, um die kleinen zuckenden Leiber nachzuahmen. »Die Fische auf dem Boden, Pirañhas, die sie mit ihren Zähnen – «
»Pirañhas reißen keine Fingernägel aus«, sagte Ella, »und sie brechen auch niemand die Rippen. Weißt du, ich habe schon viel gesehen – Drogentote, die mit einer schmutzigen Spritze im Arm tot in ihrer eigenen Kotze lagen. Selbstmörder, die aus dem Fenster im siebten Stock gesprungen sind. Leute, die so brutal zusammengeschlagen worden waren, dass man ihre Schädel mit Nägeln und Silberplatten restaurieren musste; Kinder mit Stich- und Schusswunden. Ich war bei Verkehrsunfällen, Zugunglücken, Bränden, und einmal habe ich eine junge Frau, die auf dem Wannsee beim Schlittschuhlaufen eingebrochen war, auf dem Bauch liegend aus dem eisigen Wasser gefischt. Ich habe Leuten das Leben gerettet, die es wahrscheinlich eher verdient hätten zu sterben, aber so mitgenommen wie das vorhin hat mich noch nie was davon. Nichts.«
»Warum kannst du nicht aufhören, davon zu reden?«, fragte Max.
»Wenn ich aufhöre, darüber zu reden, kann ich nicht aufhören, davon zu träumen.«
Max seufzte, wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab und setzte eine halb volle Bierflasche an den Mund. »Wie war eigentlich das Konzert?«, fragte er. Um seinen Teller war der Holztisch mit Salatblättern, Brotkrümeln und Fettspritzern übersät wie der Boden eines Vogelkäfigs mit Körnern.
Ella sah durch die offene Tür auf die Straße hinaus, wo die Luft über den Autodächern zu flimmern begann. Ein Müllwagen fuhr vorbei; ihr Blick blieb an der Aufschrift an der Seite hängen, We kehr for you. »Gut«, sagte sie, »ziemlich gut sogar, außer dass es da passiert ist.«
»Was ist da passiert?«
»Dass wir Schluss gemacht haben, Silvan und ich.«
Silvan hatte ihr das Konzert zum Geburtstag geschenkt. Sie ging so gern tanzen, und im Strobo Club spielte eine wirklich gute Band. Aber Silvan war an dem Tag eine Operation missglückt, er hatte von Anfang an schlechte Laune gehabt, schon im Wagen. An seinem gereizten Schweigen konnte sie erkennen, dass es einer von den schlechten Abenden werden würde, und plötzlich hatte sie keine Lust mehr auf diese schlechten Abende. »Wir müssen nicht hingehen, wenn dir nicht danach ist«, sagte sie. »Wir können woanders was essen – «
»Mir geht’s gut«, sagte Silvan, mehr nicht. An der nächsten roten Ampel nahm er seine Brille ab und rieb sich die Augen, immer noch schweigend. »Ich will hier aussteigen«, sagte Ella. Sie hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, etwas zu sagen, schon gar nicht das.
»Wir sind gleich da«, sagte Silvan. Er sah sie nicht einmal an, sondern starrte weiter auf die rote Ampel und die Lichter der Straße. »Da vorn ist der Club.«
»Ich rede nicht von dem Club«, sagte sie.
»Wovon redest du dann?« Die Ampel schaltete auf Grün, und er gab Gas, zu viel, zu schnell.
»Ich rede von uns«, sagte Ella. »Wenn ich von aussteigen rede, rede ich nicht von deinem schönen roten Porsche«, und etwas in ihrer Stimme ließ ihn merken, dass sie es ernst meinte, und er änderte seinen Ton und sagte: »Es tut mir leid, ich hatte einen beschissenen Tag«, und als sie darauf nicht reagierte, sagte er:
»Ich weiß, in letzter Zeit lief es nicht so besonders. Lass uns nach dem Konzert darüber reden.«
»Ich will nicht mehr reden.«
»Wir wohnen zusammen, schon vergessen? Sollen wir uns in Zukunft anschweigen?«
»Ich will auch nicht mehr mit dir zusammenwohnen.« Sie spürte, wie ihre Hände kalt wurden bis in die Fingerspitzen, obwohl es ein heißer Abend war. »Ich will, dass du ausziehst.«
»Darauf antworte ich gar nicht«, sagte Silvan. »Das sagst du jetzt nur. Das meinst du in Wirklichkeit gar nicht. Du meinst ja nie, was du sagst, und du änderst deine Meinung dauernd.«
Ella sagte nichts, weil er recht hatte, und sie wollte nicht, dass er recht hatte, nicht jetzt und in diesem Punkt.
»Liebst du einen anderen?«
»Nein.«
»Ist es dieser Rettungsassistent – Max? Willst du zu Max zurück? «
»Nein.«
Er steuerte den Wagen an den Straßenrand, ein paar Meter vom Club entfernt. Er hielt in zweiter Reihe. »Ich will nicht, dass wir uns trennen«, sagte er. »So kenne ich dich gar nicht.« Er schaltete die Warnblinkanlage ein. »So kannst du mit mir nicht umgehen.«
»Yes, I can«, sagte sie.
»Ich bin ein Mensch.«
»Nein, du bist ein Chirurg.«
»Ich habe Gefühle.«
»Wo steht das? In deinem Pass?«
Er schwieg, und sie sah durch die Windschutzscheibe auf den Eingang des Clubs, und dann sah sie doch zu Silvan hinüber, und jetzt schimmerten Tränen in seinen Augen. »Silvan«, sagte sie leise, »Silvan, weinst du etwa?«
Er presste die Lippen zusammen, sein Kinn zitterte. Er nahm die Brille ab, damit sie die Tränen sehen konnte. »Mit dir – «, sagte er und schluckte.
»Was ist mit mir?«
»Mit dir habe ich mich immer so lebendig gefühlt …«
»Ja«, sagte sie. »Aber du bist es nicht.«
»Was bin ich dann?«
»Du bist nur eine Kühlbox für ein Herz, das auf dem Weg zu einem Lebenden ist.«
Er wandte ihr sein Gesicht zu, und jetzt waren die Tränen plötzlich verschwunden. »Du hast doch einen anderen«, sagte er so kalt, dass ihre Seele beschlug.
»Ja«, log sie.
»Seit wann?«
Sie antwortete nicht.
»Liebst du ihn?«
»Ja.«
»So schnell? Das ist keine Liebe, das ist nur eine von deinen Launen. Was gefällt dir denn an ihm?«
»Wenn ich mit ihm zusammen bin, vergesse ich alles um mich herum.«
»Was ist er – Anästhesist? Ich glaube dir nicht.«
»Nein«, sagte sie, »natürlich nicht. Aber dir bleibt nichts anderes übrig.«
Damit stieg sie aus und ließ ihn in seinem in der zweiten Reihe stehenden Porsche sitzen. Sie ging die paar Meter bis zum Eingang des Clubs. Drinnen standen die Zuhörer dicht gedrängt vor der Bühne, aber ganz hinten gab es eine leere Tanzfläche, wo Ella sich an die Wand lehnte. You can cry me a river, sang die Sängerin, I cried a river over you, und Ella dachte, schade, wirklich schade, genau in dem Moment, als Silvan neben ihr auftauchte, und ihr ins Ohr schrie: »Rede mit mir, verdammt noch mal!« Seine Brillengläser funkelten zornig. Kleine Speicheltröpfchen sprühten ihr ins Ohr. »Herrgott, was ist denn bloß in dich gefahren?«
»Ein roter Skoda«, schrie Ella zurück. »Er kam von rechts und hatte Vorfahrt, aber wir hatten das Blaulicht an, und beinahe hätten wir uns überschlagen und wären in die Spree gerast. «
Yes, cry me a river, sang die schöne blonde Sängerin.» Davon hast du gar nichts erzählt!« Silvan versuchte betroffen zu klingen, bloß, dass es ihm nicht gelang bei der Lautstärke.
Ella schrie: »Die Tür auf meiner Seite war von oben bis unten aufgeschlitzt. Als ich sie endlich aufgekriegt hatte, da war mir plötzlich klar … Da dachte ich, das ist nicht das einzige Wrack, aus dem ich raus möchte!«
»Du Schlampe!« Jählings schlug Silvans Stimmung um, das geschah oft bei ihm, seine Chirurgengene, und er versetzte ihr einen Stoß. Sie prallte mit dem Hinterkopf gegen die Betonmauer, aber niemand bemerkte es. Alle starrten auf die Bühne, auf der die schöne blonde Sängerin im Scheinwerferlicht geschmeidig in das nächste Lied glitt, Willow weep for me. Silvan schüttelte Ella mit den Fäusten und warf sie immer wieder gegen die Wand. Endlich ließ er von ihr ab und bahnte sich einen Weg zum Ausgang, dann war er verschwunden, aus dem Club und aus ihrem Leben, und Ella schüttelte sich wie ein nasser Hund, schüttelte Silvan ab für immer, willow weep for me, listen to my plea, hear me willow and weep for me.
»Davon habe ich gehört«, sagte Max, inzwischen wie in Trance von dem Schmerzmittel, »von dem Unfall. Aber dir ist nichts passiert. «Denkst du? Ella stand auf. »Lass uns fahren, ich möchte ins Bett.«
»Weißt du, was die Kollegen über dich sagen?« Max hielt mühsam die Augen offen. »Dass du mit jedem Leben die ganze Welt retten willst. Dass du einen Samariterkomplex hast. Jeden Morgen steht sie freudestrahlend auf und kann es gar nicht erwarten, den ersten Einsatz zu kriegen, wieder Superdoc zu sein, ihre Flügel auszubreiten und loszuschießen, um Leben zu retten. Mit dem blauen Flammenschwert auf dem Dach eines roten Rettungswagens den Sterblichen zur Hilfe zu eilen.«
»Wer sagt das? Welche Kollegen?«
»Alle.«
Er hatte recht, alle hatten recht: Sie liebte ihre Arbeit. Es gab nichts, was sich mit dem Gefühl vergleichen ließ, jemanden vor dem Tod bewahrt zu haben. Man schwebte, es war ein Rausch, wie wenn man zum ersten Mal verliebt ist, nur ohne den Schmerz. Man liebte und wurde wiedergeliebt, so ein Gefühl war das.
Ella stand neben dem Tisch, sah erst Max an und dann auf die Straße hinaus in das Licht des frühen Morgens. »Und was sagen sie sonst noch so über mich?«
»Alles verletzt sie«, Max stemmte sich mühsam hoch, »aber nichts kann sie erschüttern. Niemand nimmt es so schwer wie du, wenn er einen Patienten verliert. Einfach weiterleben wie alle anderen, wenn einer sterben musste, weil du ihn nicht retten konntest – für Superdoc unmöglich.«
»Und warum ist das so, was meinst du?«
»Weil du die Lobotomie nicht machen lässt, zu der ich dir dauernd rate«, sagte Max.
Sie fuhr ihn zu seiner Wohnung am Hackeschen Markt und hielt vor dem schäbigen, schlecht verputzten Haus, in einer schmalen Straße, die noch nicht luxussaniert worden war. Die Sonne stand inzwischen so hoch, dass sie bis auf den von Schlaglöchern und Rissen zernarbten Asphalt schien. Die Fenster eines auf den Stahlbrücken zwischen den Dächern vorbeirollenden S-Bahn-Zuges spiegelten den blauen Himmel. Max war eingenickt, aber jetzt wachte er auf und griff nach seiner Krücke. »Du schaffst das schon, Bambi«, sagte er.
»Was?«
»Alles.« Er blinzelte, langsam wie ein Leguan. »Du hast eine saftige, junge Seele, wie frisches Moos. Egal, wie oft man darauf tritt, es richtet sich immer wieder auf und strahlt so frisch und grün wie eben erst gewachsen.«
»Und du bist ein lieber Kerl, Max …«
»… den du nicht mehr liebst.« Er schwang sich aus dem Wagen und humpelte zum Eingang, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie sah ihm nach, bis er durch die mit roten und blauen Graffiti besprühte Holztür verschwunden war. Ich liebe überhaupt niemand mehr, dachte sie. Dann fuhr sie den Sprinter zur Feuerwache, wo er vor dem nächsten Einsatz gewaschen und desinfiziert werden musste. Das ziegelrote Backsteingebäude war wie ausgestorben, die Tore der leeren, schattigen Garage standen weit offen. Jedes Fahrzeug befand sich im Einsatz. Der Schichtleiter saß grau und erschöpft hinter seinem Schreibtisch, dunkle Schweißringe unter den Achseln seines Uniformhemds, eine Hand auf dem Regler der Sprechanlage, in der anderen den Telefonhörer.
Ella hängte den Fahrzeugschlüssel in den Schlüsselkasten. Einen Moment lang sah sie alles unscharf vor Müdigkeit. Nicht mehr nach Hause, dachte sie; es war zu weit weg, einfach zu weit jetzt. Sie öffnete die Tür zur Materialkammer, in der eine Pritsche stand. Die Pritsche war leer, und Ella schloss die Tür und legte sich auf die dünne Matratze. Sie hörte den Schichtleiter telefonieren, und seine Stimme beruhigte sie. Sie hörte das Knacken im Lautsprecher der Funkanlage, abgehackte Stimmen, eine ferne Sirene, und auch das beruhigte sie.
Sie dachte an Max. Schlaf gut, Max, dachte sie; ich weiß nicht, warum ich aufgehört habe, dich zu lieben, es ist einfach passiert. Dann dachte sie an Silvan, und bei ihm wusste sie, warum sie aufgehört hatte, ihn zu lieben. Sie fragte sich, ob es gar nicht sie war, die zu lieben aufhörte, sondern ob nicht einfach die Liebe aufhörte, ganz ohne sie, so wie ein Medikament irgendwann einfach verfiel und nicht mehr wirkte.
Stell dir vor, dachte sie, Liebe wäre ein Notfallkoffer, in dem man einfach die abgelaufenen Gefühle ersetzt oder die verbrauchten austauscht – neues Adrenalin, neuer Sauerstoff, meinetwegen auch neues Morpium, Hauptsache, der Koffer bleibt und man hat wieder ein Leben gerettet, das eigene, das des anderen. Man hat beatmet, wiederbelebt, den Kreislauf in Gang gebracht, vielleicht ein bisschen intubiert, vielleicht einen kleinen Elektroschock verabreicht, die Brüche fixiert, die Wunden gesäubert, und niemand muss sterben, man kann zusammenbleiben. Das Herz schlägt wieder, bis zum nächsten Mal.
Sie dachte daran, wie sie gestern Nacht um halb zwei in ihrem alten Karmann Ghia Cabrio mit offenem Verdeck durch die halbe Stadt gefahren war und Silvans Sachen auf die Straße geworfen hatte, als Erstes seine Joop!-Shorts direkt vor der Haustür in der Akazienstraße, Schöneberg, den albernen roten Jogginganzug mit den schwarzen Streifen von Puma in der Uhlandstraße, Wilmersdorf, das graue Ermenegildo Zegna-Sakko auf dem Kurfürstendamm, schon fast Tiergarten, die schwarzen Prada-Schuhe – wenigstens den einen, den sie in der Eile erwischt hatte – irgendwo in Kreuzberg, und zwei Armani-Jeans waren schließlich von der Kolonnenbrücke auf die S-Bahngleise geflogen, wieder Schöneberg. Mit jedem Stück, das sie im Fahren bei laut aufgedrehtem Radio hinter sich aus dem Wagen geschleudert hatte, war ein bisschen von ihrer Wut verraucht, und als sie dann den Jeans nachgeschaut hatte, wie sie von der Brücke auf die Gleise segelten, war ihr auf einmal so leicht zumute geworden, als könnte sie selbst fliegen. Ja, es war alles geklärt.
Zuletzt, als es sich einfach nicht mehr vermeiden ließ, dachte sie an ihre Patientin, an das Grauen in ihren Augen, das Blut in der dunklen Wohnung, die Schmerzensschreie. Auf ihrer Haut befand sich noch die ganze DNA der jungen Frau. Aber das ließ sich abwaschen. Was sie nicht abwaschen konnte, waren die Spuren in ihrer Seele, in ihrem Herzen und der Erinnerung.
Du bist jetzt ein Teil von mir, und ich kann nichts dagegen tun, nicht das Geringste.