Als sie am Nachmittag erwachte, waren Ellas Gedanken sofort wieder bei der jungen Frau. Sie dachte sogar an sie, bevor sie ganz wach war; es fing schon im Traum an. Sie träumte, dass sie an die Frau dachte und aufwachte, und es wunderte sie nicht einmal, dass sie nicht zu Hause in ihrem Bett lag. Im Schlaf hatte sie den Lärm gehört, der vor der Tür herrschte, all die Geräusche der Feuerwache, ohne sich davon stören zu lassen. Es hatte auch keinen Alarm gegeben, der sie geweckt hätte. Sie dachte an die Frau, und plötzlich fing sie an, sich gut zu fühlen. Du hast jemandem das Leben gerettet. Dann fiel ihr alles andere wieder ein, ihre Angst und das Blut überall in der Wohnung, und schließlich erinnerte sie sich an den Mann, den sie in der Dunkelheit gesehen hatte, und das gute Gefühl fühlte sich etwas weniger gut an.
Sie stand auf und wusch sich in der Toilette, so gut es ging. Sie sah ihr Spiegelbild in dem fleckigen Spiegel, die immer noch glatte Haut, die großen, graugrünen Augen, die Haare von der Farbe einer polierten Kastanie. Alles so wie immer, selbst bei der schlechten Beleuchtung. Und wer rettet mir das Leben?, dachte sie fast heiter.
Noch immer war genug von dem guten Gefühl übrig, um die Frage mit einem Luftkuss über die Schulter zu werfen und wegzugehen, ohne zurückzuschauen, aber als sie anderthalb Stunden später in der Rettungsstelle der Charité nach der Frau fragte, verschwand es auf einen Schlag ganz.
»Es tut mir leid, Doktor Bach, wir haben keine Unterlagen über eine Patientin, auf die Ihre Angaben passen würden«, sagte der diensthabende Oberpfleger, nachdem er im Computer die Liste der in der vergangenen Nacht aufgenommenen Notfälle kontrolliert hatte.
Es war wie ein heftiger Stoß, als wäre sie von einer Mauer gesprungen und hätte die Entfernung zum Boden falsch eingeschätzt: der Aufprall kam überraschend und so hart, dass er ihr durch den ganzen Körper bis ins Herz schoss und ihr einen Moment der Atem stockte. »Ist sie gestorben?«
Der Oberpfleger schüttelte den Kopf. »Dann wäre sie unter den Abgängen der letzten Nacht aufgeführt. Hiernach wurde sie überhaupt nicht aufgenommen.«
Einen Herzschlag lang blieb die Welt stehen, und danach setzte sie sich nur langsam wieder in Gang. Es war, als ob der Tag selbst flackerte, nicht nur das Licht. Ihr Pulsschlag war plötzlich lauter als alle anderen Geräusche, ein stumpfes, schnelles Hämmern. Im nächsten Augenblick war alles wie vorher: Schwestern, Ärzte, Pfleger und Patienten gingen über den Korridor, erschienen und verschwanden in Türen und Fahrstühlen, die mit einem leisen Ping! hielten. Irgendwo schrillte ein Telefon. Auf den Bänken und Stühlen der Notaufnahme saßen Männer, Frauen und ein paar Kinder, alle mit denselben verstörten Mienen, Angehörige der Opfer des Großfeuers. Sanitäter und Feuerwehrmänner kamen oder gingen, und manche hielten Clipboards in den Händen, die sie sich gegenseitig zeigten.
»Ich habe sie selbst hier eingeliefert«, sagte Ella, »zusammen mit meinem Rettungsassistenten. Es war halb vier, hier ging alles drunter und drüber wegen des Feuers in der Disko, aber einer der Pfleger hat mir geholfen, sie hereinzubringen, und dann habe ich sie an einen Arzt übergeben – «
»Das kann uns weiterhelfen«, sagte der Oberpfleger. »Wie lautete der Name des Arztes?«
»Er hatte kein Namensschild«, sagte sie. »Da kamen gerade die ganzen Opfer des Brandes herein, Dutzende von Schwerverletzten und Sterbenden, es war das komplette Chaos und – «
»Ich weiß«, sagte der Oberpfleger. »Ich war hier.«
Jetzt bemerkte sie die Müdigkeit in seinem Gesicht, die scharfen Falten und die Ringe unter seinen Augen, und an seinem Blick konnte sie erkennen, dass er es noch immer vor sich sah, genau wie sie.
Aber sie sah noch mehr: Sie sah sich selbst inmitten des Infernos der letzten Nacht. Zusammen mit dem Pfleger schob sie ihre Patientin zum Fahrstuhl. Sie sah den Arzt, der plötzlich aufgetaucht war, wie ein Geist, das Gesicht hinter einem grünem Mundschutz verborgen, eine Kappe auf dem Kopf, aber kein Namensschild und kein Blut auf den Handschuhen.
»Ich bin ihm hier noch nie begegnet«, sagte sie. Jetzt, wo sie sich daran erinnerte, suchte sie nach einem Anzeichen, das ihr hätte auffallen müssen, dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ihr fiel ein, dass sie ihn sogar nach seinem Namen gefragt hatte, bevor die Fahrstuhltür sich schloss, vor ihm und dem Jungen und der –
Sie sah das Bild ganz scharf vor sich: der kleine, bleiche Junge mit dem kahl rasierten Schädel, höchstens sieben Jahre alt, der sich das rechte Auge zugehalten hatte und barfuß in dem grellen Licht des edelstahlverkleideten Lift stand, nur mit einem knielangen, weißen Klinikhemd bekleidet. »Wie hieß Ihre Patientin denn?«, fragte der Oberpfleger. »Vielleicht ist sie in eine andere Klinik verlegt worden, und wir können eine Suchanfrage starten – «
»Ich weiß nicht, wie sie hieß«, sagte Ella. »Aber in dem Zustand, in dem sie sich befand, war sie nicht mehr transportfähig. «
Er deutete auf den Computer. »So weit es danach geht, hat es Ihre Patientin nie gegeben, jedenfalls nicht bei uns. Aber manchmal verschwinden Patienten plötzlich und tauchen genauso plötzlich wieder auf, und manchmal schließen sich die Wunden über Nacht, und manchmal stehen die Kranken einfach auf, nehmen ihr Bett und wandeln, genau wie in der Bibel. Sie erwachen aus dem Koma, stellen fest, dass sie gar nicht so krank sind, wie es den Anschein hatte und beschließen, dass sie genauso gut zu Hause gesund werden können.« Er warf einen Blick auf Ellas Gesicht und schaute rasch wieder weg. »Entschuldigen Sie, Doktor …« Er seufzte, Reue in der Stimme. »Nobody knows the trouble I’ve seen.«
»Nobody knows but Ella«, ergänzte sie. »Trotzdem glaube ich nicht, dass eine Patientin so einfach verschwinden kann. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich mal auf der Intensivstation umsehe?«
Der Oberpfleger breitete die Arme aus. Bitte, was immer Sie glücklich macht, sollte das wohl heißen. Im selben Moment wurde ihr klar – sie wusste nicht, warum –, dass sie die Frau hier nicht finden würde. Es war mehr eine Ahnung als eine Erkenntnis, denn jetzt fiel ihr auch der Audi wieder ein, den sie in der Nacht und dann wieder am frühen Morgen gesehen hatte, aus den Augenwinkeln ihres Bewusstseins und geblendet von der gleißenden Sonne.
Wieder schien es ihr, als flackere die Welt für einen winzigen Sekundenbruchteil. Eine hundertstel Sekunde vielleicht gab es einen Kurzschluss im Licht des Tages, des strahlenden Himmels. Ein unsichtbarer Ruck ging durch die Wirklichkeit, die sich nicht mehr ganz davon erholte.
Und wenn es gar kein Arzt war?, dachte Ella. »Können Sie mir sagen, welche Ärzte gestern Nacht Dienst hatten?«
Eine blasse junge Frau in einem Schwesternkittel erschien neben dem Oberpfleger, in der Hand eine Karte. »Entschuldigung, sind Sie Doktor Bach?«, fragte sie.
»Ja.«
»Zwei Männer waren hier und haben nach Ihnen gefragt«, sagte die Schwester und reichte ihr die Karte, auf der mehrere Ziffern standen. »Sie sollen diese Nummer anrufen, bitte.«
»Weswegen?«, wollte Ella wissen.
»Das haben sie nicht gesagt.«
»Was für Männer? Wann waren sie da?«
»Heute Morgen, gegen sieben«, antwortete die Schwester. »Sie sagten, sie wären von der Polizei. Sie haben nach Ihnen gefragt – NAW 4305, Blitz in die Benno-Ohnesorg-Straße, das waren Sie doch? Sie haben sich nach Ihrem Namen und dem Ihres Rettungsassistenten erkundigt, und dann haben sie gesagt, Sie möchten bitte diese Nummer anrufen. Es klang sehr dringend.«
»Danke«, sagte Ella. »Haben sie auch nach meiner Patientin gefragt?«
»Von einer Patientin war nicht die Rede.« Die Schwester nahm den Platz des Oberpflegers ein, der sich mit einem Nicken entfernte. »Sie sagten, Sie würden es bei Ihnen zu Hause versuchen, aber falls wir Sie hier eher zu Gesicht bekämen, sollten wir Ihnen auf alle Fälle – «
»Ja, gut. Ich rufe gleich an«, sagte Ella. »Ich war heute noch nicht zu Hause.« Sie betrachtete die Karte, die weder Namen noch Dienstrang oder Adresse des Beamten aufführte, auch kein Revier, nur die von Hand geschriebenen Ziffern. Sie holte ihr Handy aus der Tasche des ungebügelten beigen Leinenjacketts, das sie letzte Nacht zusammen mit einer Jeanshose und einem hellblauen T-Shirt in ihrem Rucksack dabeigehabt hatte. Sie wählte die Nummer, und während sie auf die Verbindung wartete, ging sie vor die Tür, wo sie im Schatten des Vordachs stehen blieb.
Am anderen Ende der Leitung wurde nach dem ersten Freizeichen abgehoben. »Polizeidirektion 5, Abschnitt 52«, sagte eine Männerstimme.
»Mein Name ist Doktor Bach, Ella Bach«, sagte sie. »Sie haben um Rückruf gebeten.«
»Einen Moment, ich verbinde.«
Nach einer kurzen Pause, ausgefüllt mit fast vollkommener Stille, meldete sich eine andere Männerstimme: »Hauptkommissar Kleist.«
»Ella Bach. Sie wollten mich sprechen?«
»Ja, danke, dass Sie zurückrufen, Doktor Bach. Es geht um den Vorfall in der Ohnesorg-Straße 7 heute Nacht. Sie hatten dort einen Notarzteinsatz?«
»Ja.«
»Wir würden uns gern persönlich mit Ihnen darüber unterhalten. « Einen Moment klang seine Stimme undeutlich, als spräche er nicht mehr direkt in den Hörer, dafür hörte Ella ein Rascheln wie von einem Blatt, das von einem Block gerissen wurde. »Wir haben schon versucht, Sie zu Hause zu erreichen. Können wir zu Ihnen kommen? Wo befinden Sie sich gerade?«
»Auf dem Campus Mitte der Charité. Ich wollte mich nach dem Zustand des Opfers erkundigen, aber es scheint, als – «
Hauptkommissar Kleist sagte: »Genau darüber möchten wir mit Ihnen reden. Können Sie dort auf uns warten? Es dauert nicht lange, wir sind ganz in der Nähe.«
Auf der Straße näherte sich ein Linienbus und hielt ein paar Meter von der Rampe entfernt. Die aussteigenden Fahrgäste hatten den gleichen verstörten Gesichtsausdruck wie die Wartenden auf den Bänken der Notaufnahme. Ella ging ein paar Schritte, um ihnen nicht im Weg zu stehen.
»Hallo, sind Sie noch da?«, fragte der Hauptkommissar.
»Ja«, sagte sie. So wie seine Stimme klang, schien er mit einem Handy zu telefonieren und sich dabei von einem Ort zum anderen zu bewegen, denn die Hintergrundgeräusche änderten sich, als ginge er aus einem geschlossenen Raum über freies Gelände in einen anderen geschlossenen Raum.
»Mit wem außer uns haben Sie noch über den Vorfall gesprochen? «, fragte er jetzt.
Ella sagte: »Mit niemandem außer unserer Leitstelle. Als ich darum gebeten habe, Sie zu informieren, damit Sie – hallo?«
Eine Autotür schlug zu, ein Motor wurde gestartet, irgendwo dort, wo der Hauptkommissar sich gerade befand. »Ich bin noch da«, sagte er. »Hat die Patientin auf der Fahrt in die Klinik noch etwas zu Ihnen gesagt?«
»Das müssen Sie meinen Rettungsassistenten fragen. Er saß hinten bei ihr.«
»Max Jansen?«
»Ja. Aber ich glaube nicht, dass sie noch etwas sagen konnte in der Verfassung, in der sie war. Sie hatte viel Blut verloren und – «
»Wir haben schon mit ihm gesprochen. War er allein hinten bei ihr?«
Was sind das für komische Fragen?, dachte Ella; warum will er das wissen? »Ja.«
»Wissen Sie, ob sie in der Klinik noch mit jemand sprechen konnte?«, fragte der Hauptkommissar.
»Nein, wie ich schon sagte, war sie nicht in der – «
»Und wer den Notarzt gerufen hat, wissen Sie das?«
»Nein. Es war ein anonymer Anruf.«
»Warum hat man gerade Sie dorthin geschickt? Kreuzberg gehört nicht zu Ihrem Einsatzgebiet, oder?« Das Motorengeräusch veränderte sich, der Wagen fuhr jetzt offenbar.
»Es war ein Blitzeinsatz«, erklärte Ella. »Wir hatten uns kurz vorher frei gemeldet, und die näher gelegenen Kliniken hatten alle Wagen im Einsatz.«
»Ich verstehe«, sagte der Hauptkommissar. »Haben Sie etwas aus der Wohnung mitgenommen?«
»Nein.«
»Hat Ihr Assistent etwas mitgenommen?«
»Sie meinen, außer der Patientin?«
Was sind das bloß für Fragen? Warum fragt er nicht nach dem Zustand der Patientin oder ob ich jemanden gesehen habe?
Ella sah zu, wie die Fahrgäste aus dem Bus die Luisenstraße überquerten und zur Notaufnahme hinaufgingen. Jetzt ließ der Busfahrer für einen jungen Mann im Rollstuhl, der an der Haltestelle gewartet hatte, eine Eisenrampe herunter.
»Sie hat Ihnen auch nichts gegeben?«, hakte Hauptkommissar Kleist nach.
»Nein.«
»Haben Sie zwischendurch irgendwo haltgemacht?«
»Zu welchem Zweck? Um schnell eine Pizza to go zu holen, während die Patientin hinten im NAW mit dem Tode ringt?«
Es gab eine kurze Pause, und Ella dachte schon, die Verbindung wäre unterbrochen, aber gleich darauf fuhr Kleist in demselben mechanischen Tonfall fort. »Ist Ihnen in der Wohnung sonst noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Der Mann, dachte sie; ich habe den Mann gesehen, der das Blutbad angerichtet hat. »Meinen Sie die Fische?«, fragte sie stattdessen.
»Welche Fische?«
Diesmal lief kein Ruck durch die Welt, und auch das Licht flackerte nicht. Er war gar nicht in der Wohnung, dachte Ella; er weiß überhaupt nicht, worüber ich rede. Dann dachte sie, warum hat er nicht gefragt, ob die Frau in der Wohnung noch etwas gesagt hat? Er hat sich nur erkundigt, ob sie auf der Fahrt in die Klinik etwas gesagt hat. Warum hat er nicht nach der Zeit davor gefragt?
Sie spürte eine plötzliche Kühle in der Brust, als hätte sie Polarluft eingeatmet. Ihr Herz zog sich zusammen, und die Schläge schmerzten.
Er hat nicht danach gefragt, weil er über die Zeit davor Bescheid weiß. Er weiß, dass sie da nichts gesagt hat. Er weiß es von dem Mann, den ich in dem dunklen Korridor gesehen habe, dem Mann mit dem Messer.
»Sie haben also mit niemandem darüber gesprochen?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung noch einmal.
»Nein.«
Wir sind ganz in Ihrer Nähe.
»Und die Patientin hat wirklich nichts gesagt? Keinen Namen? Etwas auf Französisch vielleicht, das Sie nicht verstanden haben?«
Das war kein Arzt gestern Nacht, und das ist kein Polizist.
»Nein. Nichts.«
Die Hintergrundgeräusche in der Leitung veränderten sich erneut. Ella hörte quietschende Reifen, hektisches Hupen und eine ferne Sirene. Der Mann sagte: »Bitte, sprechen Sie auch jetzt mit niemand darüber. Nicht, bevor wir mit Ihnen geredet haben. Wir sind gleich bei Ihnen.«
Der Busfahrer hatte dem jungen Mann im Rollstuhl in den Bus geholfen, und jetzt fuhr er die Rampe wieder hoch. Ella ging langsam die Auffahrt hinunter, das Handy am Ohr. »Mir fällt gerade etwas ein«, sagte sie, »ich muss noch ein Kleid aus der Reinigung holen, bevor sie zumacht. Ich komme besser zu Ihnen. Wo ist Ihre Dienststelle genau, Hauptkommissar Kleist?«
»Ich bin nicht im Büro«, antwortete der Mann, und alles blieb gleich, Stimme, Atmung, Tonfall. »Wir sind nur noch ein paar Straßen von der Charité entfernt. Es dauert nicht lange. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie danach zur Reinigung.«
Unwillkürlich ging sie schneller. Vergiss die Intensivstation. Verschwinde von hier. Nimm den Bus. Sieh zu, dass du es in den Bus schaffst.
Sie fing an zu laufen. Die automatischen Türen des Busses schlossen sich, aber sie schaffte es noch, die hintere zu erreichen, und schlug mit der flachen Hand dagegen. Der Fahrer öffnete die Tür noch einmal. Sie stieg ein und ging nach vorn, um ihm ihre Monatskarte zu zeigen. »Es tut mir leid, ich muss los«, sagte sie zu dem Mann am anderen Ende der Leitung, »ich rufe wieder an.« Dann unterbrach sie die Verbindung. Sie schob das Handy in die Jackentasche, zeigte ihre Karte vor, und weil alle Sitzplätze besetzt waren, ging sie zurück zur Hintertür und blieb stehen.
Das Handy klingelte. Sie nahm es heraus und kontrollierte das Display. Sie stellte den Ton ab und schaltete um auf Vibration. Während sie die Nummer des Anrufers betrachtete, kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht einfach paranoid war. Er kann trotzdem ein echter Polizist sein, auch wenn er nicht in der Wohnung war. Sie wählte die Nummer der Feuerwehr-Leitstelle. Der Disponent, der in der letzten Nacht Dienst gehabt hatte, war erst wieder für den nächsten Morgen eingeteilt. Sie ließ sich seine Privatnummer geben. Als er ihren Anruf entgegennahm, fragte sie: »Bruno, hast du heute Morgen die Polizei in die Benno-Ohnesorg-Straße geschickt? Wegen der Frau mit der starken Blutung – «
»Ich weiß«, sagte der Disponent nach einer kurzen Pause, in der sie im Hintergrund ein Kind schreien hörte. »Nein, ich – ich glaube nicht.«
»Warum nicht?«
»Das habe ich vollkommen verschwitzt. Tut mir leid, Ella, ich bin einfach nicht dazu gekommen.«
»Kannst du es jetzt machen, bitte?«, sagte Ella.
»Jetzt?«
»Bitte, es ist sehr wichtig«, sagte Ella und dachte, wenn es die Leitstelle nicht war, dann war es vielleicht doch der Nachbar aus dem zweiten Stock. Sie dachte es, aber sie glaubte es nicht. »Danke, Bruno.« Mal sehen, was Max dazu sagt. Sie drückte die Taste mit seiner gespeicherten Nummer. Er meldete sich nicht. Das Freizeichen wiederholte sich, und jedes Mal kam es ihr lauter vor, und nach einer Zeit wurde die Stille zwischen den Tönen lauter als die Töne selbst.
Du kannst mit deinem Fuß doch nirgendwohin! Schläfst du noch, einen tiefen Wodka-und-Pillen-Schlaf?
Aber dann fiel ihr ein, dass er eigentlich wach sein musste.
Wir haben schon mit ihm gesprochen.