7

Durch die geschlossene Tür hörte sie die Polizeibeamten die Treppe hinaufstürmen. Gleichzeitig setzte sich der Fahrstuhl in Gang, und als die Schritte nah genug waren, öffnete sie die Tür und sagte: »Ich bin Doktor Bach. Ich habe Sie gerufen.« Die uniformierten Beamten, eine Frau und ein Mann, starrten sie an. Der Mann griff unwillkürlich nach seiner Pistolenhalfter und sagte: »Bitte, lassen Sie die Hände da, wo wir sie sehen können, Doktor Bach!« Da sah sie sich selbst mit den Augen der Beamten, und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie voller Blut war, ihre Kleider, ihre Hände und vielleicht sogar ihr Gesicht.

»Bitte, treten Sie zur Seite, Doktor Bach«, sagte die Frau und leuchtete mit einer Taschenlampe an Ella vorbei in die dunkle Diele. Das Licht im Treppenhaus war an, aber es reichte nicht sehr weit in die Wohnung hinein. Die Frau tastete nach dem Lichtschalter, während der Mann seine Hand nicht von dem Lederhalfter der Dienstwaffe nahm.

»Er liegt in der Küche«, sagte Ella. Sie wollte vorangehen, aber die Frau machte eine Bewegung mit ihrer Taschenlampe und sagte: »Bitte, bleiben Sie, wo Sie sind.« Dann gingen sie und der Mann in die Küche, und Ella hörte die Frau nach Luft schnappen, und danach hörte sie eine Zeit lang gar nichts, bis der Mann zurückkam und fragte: »Haben sie die Leiche gefunden?«

»Ja.«

»Haben Sie etwas angefasst?«

»Ja.«

Die Fahrstuhltür ging auf, und noch zwei Beamte in Uniform erschienen vor der Wohnung, beides Männer. Ihre Funkgeräte knackten und knisterten. Der erste Beamte sagte: »Rufen Sie die Mordkommission. Wir haben hier einen 110«, und einer der beiden Neuankömmlinge machte wieder kehrt.

Der erste Beamte ging zurück in die Küche, wo er der Beamtin begegnete, die jetzt sehr blass war. Die Streifenpolizistin verließ die Küche, und sah Ella auf einmal ganz anders an. »Benötigen Sie einen Arzt?«, fragte sie.

»Nein. Ich bin selbst Ärztin und – «

»Haben Sie eine Waffe?«, fragte die Beamtin.

»Nein«, sagte Ella.

»Würden Sie bitte Ihre Taschen ausleeren und den Inhalt dort auf die Kommode legen«, sagte die Beamtin.

»Warum?«, fragte Ella.

»Tun Sie bitte, was ich sage.«

»Der Tote war mein Freund«, erklärte Ella. »Wir haben zusammen gearbeitet.«

Die Beamtin deutete mit der Taschenlampe auf die lackierte Metallkommode neben der Garderobe. »Bitte, folgen Sie meinen Anweisungen.«

Ella fand, dass die Beamten sie nicht richtig behandelten, eher wie eine Verdächtige, nicht wie eine Zeugin. »Falls Sie sich wegen des Blutes wundern, ich bin Notärztin. Ich habe Max untersucht, als ich ihn gefunden habe.«

»Ist das der Name des Toten?«, fragte der Mann aus der Küche. »Max, und wie weiter?« Sein Funkgerät knisterte und knackte, und eine metallisch verzerrte Stimme in dem Gerät sagte etwas zu ihm. Er bestätigte, dass er verstanden hatte, dann sagte er zu der Frau im Flur: »Das LKA ist da.«

»Das ging aber schnell«, antwortete die Streifenpolizistin. Sie sah zu, wie Ella ihren Schlüsselbund auf die Metallkommode legte, gefolgt von dem Handy, ein paar Geldscheinen und einem Haufen Münzen. »Ist das alles?«, fragte sie. »Kein Kamm, Lippenstift, sonst irgendwas?«

»In der Handtasche im Wohnzimmer«, sagte Ella.

Der Fahrstuhl setzte sich wieder in Gang, ratterte nach unten oder oben, und etwas später trat der Streifenpolizist, der auf dem Flur vor der Tür Posten stand, beiseite, um zwei Männer in Zivil eintreten zu lassen, gefolgt von einem halben Dutzend Frauen und Männern in weißen Overalls.

»Hauptkommissar Schröder, LKA«, sagte der eine der beiden Männer, nachdem er kurz einen in Plastik eingeschweißten Ausweis mit seinem Foto neben einem Stern präsentiert hatte wie ein müder Zauberer ein Pik Ass bei einem angestaubten Kartentrick. »Wir übernehmen jetzt.« Es klang nicht so, als ob er es zu Ella sagte, aber er sah sie dabei an. Der zweite Mann sah sie ebenfalls an, allerdings ohne seinen eigenen Ausweis vorzuzeigen.

Die Frauen und Männer in den Overalls trugen Plastikhauben und Latexhandschuhe und in den Händen kantige Koffer oder bauchige Taschen. Sie drängten sich an Ella vorbei und schwärmten in der ganzen Wohnung aus, wo sie anfingen, kleine Schilder mit Ziffern und Zahlen aufzustellen, Flächen mit Pinseln abzuwischen und mit Pinzetten vom Boden winzige Objekte aufzuklauben, die sie in durchsichtigen Zellophantüten verstauten. Hauptkommissar Schröder warf einen Blick in die Küche, betrat sie aber nicht. »Haben Sie den Toten gefunden?«

»Ja«, sagte Ella.

Der Hauptkommissar holte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich die Hände ab, dann fuhr er sich damit über die Stirn. Seine Haut war grau, und die Ringe unter seinen dunkelblauen Augen schienen zusehends tiefer zu werden. Im Licht der weißen Punktstrahler an der Decke wirkte sein Gesicht wie aus Wachs modelliert: keine Haut, keine Knochen darunter, lediglich kaltes, leicht angeschmutztes Wachs mit tief in den Höhlen liegenden blauen Augen. Wenn er redete, bewegten sich seine farblosen Lippen kaum; auch das Kinn blieb reglos. Das dunkelblonde Haar war stumpf vor Schweiß und wurde an den Schläfen grau. Er trug ein safrangelbes Sporthemd, eine abgewetzte schwarze Lederjacke, ausgebleichte Jeans und ehemals hellgraue Laufschuhe mit offenen Schnürsenkeln.

Der andere Beamte hatte schwarzes, lockiges Haar, feuchte schwarze Augen und olivbraune Haut, die über den hoch angesetzten Wangenknochen glänzte, obwohl er nicht schwitzte. Er roch nach einem orientalisch anmutenden Eau de Toilette, Sandelholz, eine Prise Zimt und Moschus wahrscheinlich. Sein anthrazitfarbener Seidenanzug wirkte, als wäre er direkt auf seinen schlanken Körper gesprüht worden. »Ich bin Hauptkommissar Aziz«, sagte er zu Ella mit einer Spur Neukölln im ansonsten akzentfreien Deutsch. »Tarik Benjamin Aziz. Möchten Sie sich etwas frisch machen, bevor wir fahren? Vielleicht die Hände waschen?«

»Wohin fahren wir denn?«, fragte Ella.

»Ins LKA«, sagte Hauptkommissar Schröder, »um Ihre Aussage aufzunehmen.«

Einen Moment lang flimmerte die Luft vor ihren Augen. »Entschuldigen Sie, ich war seit zwei Tagen nicht zu Hause, und das alles hier kommt mir vor wie ein Albtraum. Ich möchte mich gern umziehen, und ich – «

Aziz sagte: »Es wird nicht lange dauern. Ein paar Fragen nur, dann bringen wir Sie, wohin Sie wollen. Glauben Sie, dass Sie ein paar Fragen beantworten können, Doktor Bach?«

»Das kommt auf die Fragen an«, sagte Ella. Sie dachte, woher kennt er deinen Namen? Hat der Polizist ihn über Funk durchgegeben? Ich habe ihnen meinen Namen nicht –

»War sonst noch jemand in der Wohnung außer Ihnen und dem Toten?«, fragte Schröder.

»Wann?«, fragte Ella.

»Seit Sie ihn gefunden haben.«

»Nein.« Aber jemand hat angerufen, dachte Ella; einer der Mörder hat angerufen.

»Das Messer da – haben Sie das angefasst?«, fragte Schröder.

»Nein«, sagte Ella. »Heute nicht.« Sie spürte, wie ihr schlecht wurde, und sie hätte sich gern hingesetzt.

»Heute nicht?«, fragte Hauptkommissar Aziz. »Wann dann?«

»Früher war ich öfter hier. Wir waren befreundet.« Ella sah, wie sich etwas in den Augen der Männer veränderte.

»Befreundet oder zusammen?«, fragte Aziz.

Ella wusste, worauf er hinauswollte, und sie fragte sich, warum? Ihr Mund war trocken. Es war keine Beziehungstat, dachte sie, das muss man doch spüren. Sie versuchte sich und den Toten, den ganzen Tatort mit seinen Augen zu sehen, aber alles, was sie sah, war Max Jansens Körper in der Blutlache auf dem Küchenboden.

Sie versuchte sich vorzustellen, was sich in der Wohnung zugetragen hatte; wie Max ums Leben gekommen war. Sie sah seine Brust vor sich, die Rippen, die so weiß aus den klaffenden Wunden im zerschnittenen Fleisch schimmerten. Sie sah ihn vorher, wie er aufschreckte, als er das Geräusch an der Tür hörte, das Schloss, das von außen geknackt wurde. Sie sah, wie er sich auf der Krücke in den Gang schleppte, halb benommen von den Tabletten, dem Wodka, sah den Mann mit dem Messer, nein, zwei Männer. Sah sie, wie sie Max packten und in die Küche drängten. Sah sie nur von hinten, ihre Schultern, die Hinterköpfe. Das einzige Gesicht war das von Max, verwirrt, dann entsetzt.

Sie fragte sich, wie lange es gedauert hatte, bis die Männer eingesehen hatten, dass er nichts wusste und nichts hatte. Nicht das, was sie suchten. Sie fragte sich, ob er tot gewesen war, als sie die Wohnung verlassen hatten, und ob sie sich jetzt noch in der Nähe aufhielten, in dem grauen Audi Quattro vielleicht, unten auf der Straße.

Jemand hat angerufen; einer der Mörder hat angerufen.

Wir sind immer schon da. Und wenn wir nicht da sind, wissen wir, wo Sie sind.

Sie wissen es, weil sie dich verfolgt haben. Sie haben in der Klinik nach dir gefragt, und jemand hat ihnen gesagt, dass du in den Bus gestiegen bist.

Sie sind dir nachgefahren, aber du hast sie abgehängt, als du in die S-Bahn gestiegen bist. Du warst zu schnell für sie.

Nein, sie haben das Haus beobachtet, weil sie wussten, dass du irgendwann hier auftauchen würdest, wenn du nichts von Max hörst. Sie haben deine Wohnung beobachtet und die von Max.

Sie sind noch da. Sie sind irgendwo da unten auf der Straße, im Auto. Es gibt nur eine Möglichkeit für dich, hier mit heiler Haut herauszukommen.

»Wenn Sie wollen, können wir jetzt sofort ins Präsidium fahren«, sagte sie zu Hauptkommissar Aziz, und wenig später fuhr sie mit ihm und Hauptkommissar Schröder im Fahrstuhl hinunter, und als sie auf die Straße traten, hielt sie Ausschau nach dem Audi Quattro, und es war fast eine Überraschung, dass sie ihn nicht sehen konnte. Denn sie wusste, dass er da war; er war da.