8

Sie saßen an einem großen Tisch in einem hell erleuchteten Raum ohne Fenster, in dem es sonst nichts gab als eine Videokamera auf einem Stativ in der Ecke neben der Tür, einen TV-Apparat mit VCR-Player auf einem zusätzlichen Stuhl und ein schwarzes Telefon mit mehreren Knöpfen auf der weißen Tischplatte. Die Männer tranken Kaffee und stellten Fragen, und manchmal ging einer von ihnen hinaus, um zu rauchen. Die Luft in dem hell erleuchteten Raum roch nach dem Rauch in ihren Kleidern.

Um das Telefon herum standen mehrere halb leere Flaschen Mineralwasser, ein paar Pappbecher, eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Milchdöschen. Als Hauptkommissar Schröder zum zweiten Mal hinausgehen wollte, um zu rauchen, sagte Ella: »Bitte, bleiben Sie jetzt da!«

Der Hauptkommissar erstarrte, die Körperhaltung eine einzige Studie in Überraschung. Hauptkommissar Aziz legte den Kopf in den Nacken und schien die dunkelgrau gestrichene Decke nach dem Loch abzusuchen, durch das der Blitz in seinen Kollegen gefahren war. Seine Lippen zuckten kaum merklich.

Ella sagte: »Sie behandeln mich nicht wie eine Zeugin, sondern wie eine Verdächtige. Ich möchte wissen, warum!«

Schröder machte kehrt, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und nickte. »Wenn Sie es so wollen …« Mehr sagte er nicht, nur: Wenn Sie es so wollen. Er beugte sich zu einem altmodischen Kassettenrekorder auf einem Beistelltisch aus schwarz lackiertem Blech und fragte mit veränderter Stimme: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir unsere Unterhaltung von jetzt an auf Band aufnehmen, Doktor Bach?«

»Nein.«

»Gut.« Er drückte eine Taste an dem Rekorder, überzeugte sich, dass die eingelegte Kassette lief und sprach in ein aus der Mitte der Tischplatte ragendes Mikrofon: »Vernehmung der Zeugin Ella Bach. Es ist 20 Uhr 47, anwesend sind Hauptkommissar Matthias Schröder und Hauptkommissar Tarik Aziz.«

Das, was seine Stimme so anders machte, war ein unterdrückter Zorn, den sie erst jetzt spürte. Sie spürte ihn so deutlich wie die nassen Stellen auf ihrer Haut, nachdem sie sich auf der Toilette des Polizeipräsidiums nicht nur die Hände und das Gesicht, sondern auch das meiste Blut aus Bluse und Jeans gewaschen hatte.

»Ich weise Sie darauf hin, dass Sie unsere Fragen vollständig und wahrheitsgemäß beantworten müssen«, sagte er.

Ella nickte. Sie hatte einen Fehler gemacht, indem sie das Heft wieder an sich reißen wollte, aber woher kommt dieser Zorn? Der Zorn war so heftig, dass sie sich fragte, wie es Schröder gelungen war, ihn bisher so gut zu verbergen.

Mit schroffer Stimme sagte der Hauptkommissar: »Sie haben vorhin ausgesagt, Sie seien sicher, dass Max Jansen – das Mordopfer – keine Feinde hatte – «

»Das habe ich nicht gesagt«, fiel ihm Ella ins Wort. »Ich habe gesagt, ich glaube es nicht. Ich habe gesagt, dass wir vorgestern Nacht verfolgt wurden – vorgestern Nacht und heute Morgen – , wahrscheinlich von dem Mann, der die Frau in der Benno-Ohnesorg-Straße fast umgebracht hat – «

»Und Sie glauben, dass es sich bei diesem Mann, der Sie verfolgt hat, um den Mörder von Max Jansen handelt und dass er sich als Polizist ausgibt, als ein – wie war der Name noch mal?«

»Hauptkommissar Kleist.«

»Den Sie heute Nachmittag angerufen haben. Verstehe ich das richtig?«

Ella rieb sich die Stirn, eine juckende Stelle über der rechten Augenbraue. »Weil er hinterlassen hatte, ich solle die Polizei anrufen, und unter der Nummer hat er sich dann gemeldet und gesagt, sie hätten heute bereits mit Max gesprochen.«

»Sie?«

»Er und seine Kollegen, habe ich angenommen.«

»Haben Sie die Nummer noch?«, fragte Aziz.

»Sie müsste in meinem Handy gespeichert sein.« Ella griff in die Tasche, um ihr Handy herauszuholen, und suchte das Protokoll der Anrufe. »Hier ist sie.«

Hauptkommissar Aziz streckte die Hand aus, sie reichte ihm das Handy, und er drückte die Wahlwiederholung. Er hielt das Handy ans Ohr. »Freizeichen.« Nach einigen Sekunden ließ er es wieder sinken. »Geht niemand dran. Überrascht mich nicht.«

»Wieso nicht?«, fragte Ella.

»Wir verwenden solche Nummern nicht«, sagte Schröder. »Und es gibt keinen Hauptkommissar Kleist bei uns, weder bei der Kripo noch beim Landeskriminalamt.«

»Direktion 5, Abschnitt 52?«, fragte Ella.

»Bei der ganzen Berliner Polizei nicht. Wo waren Sie noch mal zu dem Zeitpunkt dieses Telefonats?«

»In der Charité.«

»Und da war es – ?«

»Ungefähr halb sechs.«

Aziz fragte: »Was genau wollte er eigentlich von Ihnen?«

»Er wollte wissen, ob die Patientin uns in der Wohnung oder auf dem Weg ins Krankenhaus etwas gesagt oder gegeben hätte.«

»Das war alles?«, fragte Schröder. »Keine Fragen zum möglichen Hergang der Tat oder nach Ihren Beobachtungen am Tatort?«

»Nein«, antwortete Ella und merkte selbst, wie unglaubwürdig das klang. Die beiden Männer schwiegen eine Zeit lang, wie um ihr Zeit zu geben, noch etwas hinzuzufügen, etwas Glaubwürdigeres, aber ihr fiel nichts ein, und deswegen schwieg sie auch.

Endlich fragte Schröder: »Und danach – was haben Sie dann gemacht? Sind Sie sofort in Jansens Wohnung gefahren?«

»Ja. Ich habe den Bus von der Klinik genommen.«

»Und Sie hatten keine Ahnung, dass er da schon tot war?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Max Jansen wurde gegen 15 Uhr heute Nachmittag umgebracht«, erklärte Schröder. »Wo waren Sie um diese Zeit – heute um 15 Uhr?«

»In der Feuerwache«, sagte Ella. »Ich habe geschlafen.«

Schröder beugte sich wieder vor, um zu sehen, ob die Kassette sich noch drehte. »Ich nehme an, dafür gibt es jede Menge Zeugen – Feuerwehrmänner, Rettungssanitäter, die Putzkolonne? «

»Nein.« Ella schüttelte den Kopf. »Ich habe auf einer Pritsche in einer Materialkammer geschlafen. Ob mich da jemand gesehen hat, weiß ich nicht.«

»Und als Sie dann in der Wohnung waren und auf die Leiche gestoßen sind, haben Sie sofort die Polizei gerufen?«

»Nicht sofort.«

»Warum nicht?«

»Ich – ich hatte das Gefühl, ich müsste noch etwas mit ihm allein sein.«

»Obwohl Sie sich nicht mehr so nahestanden?«

»Wir standen uns nah. Wir waren nur nicht mehr zusammen.«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit Max Jansen geschlafen? «, fragte Aziz.

»Wie bitte?« Ella hatte das Gefühl, als beginne der Raum, sich um den Stuhl zu drehen.

»Sie haben gesagt, Ihre Affäre mit ihm läge schon länger zurück«, erklärte Aziz und drehte sich ebenfalls langsam um Ella und ihren Stuhl. »Hatten Sie danach noch einmal Sex mit ihm? Vielleicht vor Kurzem erst?«

»Nein.« Ihr wurde etwas schwindlig. »Kann ich ein Glas Wasser haben, bitte?«

Aziz schenkte Mineralwasser aus einer der halb leeren Flaschen in einen Pappbecher und stellte ihn vor sie hin auf den Tisch. Sie griff danach und trank ihn mit schnellen, kleinen Schlucken aus, bevor sie ihn wieder genau auf den feuchten Ring auf der langsam rotierenden Tischplatte zurückstellte. Sie konzentrierte sich auf die Stelle, und der Tisch und die Wände hörten auf sich zu drehen.

Aziz fragte: »Wie lange kannten Sie ihn, sagten Sie?«

»Max? Eine Ewigkeit. Sieben Jahre.«

Der Hauptkommissar nickte nachdenklich und wechselte einen Blick mit seinem Kollegen, bevor er in seinen Becher starrte, als könnte ihm der Kaffeesatz auf dem Grund neue Erkenntnisse über den Mord und Ellas Verhältnis zu dem Toten vermitteln. Dann fragte er: »Möchten Sie hören, was ich über die ganze Angelegenheit denke?«

Nein, dachte Ella, will ich nicht; ich will, dass dieses Verhör endlich vorbei ist, damit ich nach Hause kann, falls ich überhaupt noch ein Zuhause habe. Dann dachte sie: und wenn nicht? Wohin kann ich denn überhaupt gehen, wenn ich zu Hause nicht mehr sicher bin?

Schröder lächelte mit seinen farblosen Lippen, die sie an einen frisch desinfizierten Wundmund erinnerten. »Ich denke, Max Jansen war auch nach ihrer Trennung noch in Sie verliebt, und irgendwann haben Sie diese Liebe doch noch einmal erwidert. Und wo wieder Liebe ist, da ist auch wieder Eifersucht, meistens jedenfalls. Es soll sich damals ja um eine ziemlich stürmische Affäre gehandelt haben …«

»Woher wollen Sie das wissen? Worauf wollen Sie hinaus?«

Aziz fragte: »Haben Sie sich nicht kürzlich erst von Ihrem letzten Liebhaber, einem – wie war der Name noch gleich? Silvester?, nein, Silvan – einem Doktor Silvan Grothe getrennt, weil Sie wieder zu Max Jansen zurückwollten?«

»Wer sagt denn das? Silvan? Haben Sie etwa mit ihm gesprochen? «

»Sind Sie als Notärztin schon mal gerufen worden, wenn eine eifersüchtige Frau mit einem Messer auf Ihren untreuen Liebhaber oder ihre Nebenbuhlerin losgegangen ist?«, wollte Schröder wissen. »Nein? Wir schon, und glauben Sie mir, das sieht nicht viel anders aus als bei Max Jansen. Ein Messer in der Hand einer enttäuschten, verletzten Geliebten …«

»Wir haben uns im Guten getrennt«, erklärte Ella, plötzlich von kalter Ruhe erfüllt, »und seitdem waren wir Freunde, sonst nichts, egal, was Doktor Grothe behauptet. Ich wollte nicht zu Max zurück und er nicht zu mir.«

Schröder fuhr unbeeindruckt fort: »Wenn wir also mal für eine Minute annehmen, diese ominöse verschwundene Patientin von Ihnen war wirklich so zugerichtet, wie Sie behauptet haben, woher wissen wir, dass nicht Sie das waren? Vielleicht haben Sie ja festgestellt, dass Max, wegen dem Sie den Herzchirurgen mit der tollen Karriere verlassen haben, sich in der Zwischenzeit vorübergehend anderweitig orientiert hatte. Sie wollten eine Aussprache herbeiführen, alle drei in der Wohnung der Nebenbuhlerin, es kommt zum Streit, da liegt ein Messer herum – «

»Ich will einen Anwalt«, sagte Ella.

»Wie bitte?« Schröder schloss die Augen, wie jemand, der sich etwas Unvorstellbares wenigstens entfernt auszumalen versucht.

»Wenn Sie mich nicht als Zeugin, sondern als Verdächtige behandeln, will ich auf der Stelle einen Anwalt«, sagte Ella.

»Brauchen Sie denn einen?«, fragte Aziz.

Ella antwortete nicht.

Aziz schien sich unvermittelt einem anderen Teilchen des Puzzles zuzuwenden. »Können Sie mir erklären, warum die Frau noch gelebt hat, als Sie sie aufgefunden haben?«

»Sie lag im Sterben«, sagte Ella.

»Aber Max Jansen war nicht mehr am Leben, und ihn hatten die Täter nicht so zugerichtet wie die Frau, oder?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte Ella.

»Ihn haben sie mehr oder weniger schnell getötet, weil sie überzeugt waren, er könnte ihnen doch nicht weiterhelfen – wenn wir uns an Ihre Theorie halten«, fuhr Aziz fort. »Aber die junge Frau – Ihre verschwundene Patientin – hatte kein so großes Glück, falls man in diesem Zusammenhang von Glück reden kann. Sie wurde gefoltert, auf grausame, unmenschliche Weise, wie Sie sagen. Warum also hat sie dem oder den Tätern nicht gesagt, was die wissen wollten? Oder wenn sie etwas haben wollten, warum hat sie es ihnen nicht gegeben? Weil sie es selbst gar nicht wusste? Weil sie das Etwas nicht besaß? Hat sie durch den Schock das Bewusstsein verloren, sodass die Schmerzen ihr nichts anhaben konnten? Hat sie durch die Qualen vorübergehend die Sprache verloren?«

»Kein Mensch hält so was aus«, warf Schröder ein. »Er redet!«

»Das alles habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Ella. »Wie ist es möglich, dass jemand so lange nichts sagt, wenn man ihn bei lebendigem Leib so zurichtet? Entweder wusste sie wirklich nichts – oder – «

»Oder? Wie geht Ihre Theorie weiter?« Aziz starrte sie mit seinen schwarzen, glänzenden Augen an, als wollte er hinter ihre Stirn sehen, und sogar Schröder öffnete die Lider wieder. Die Atmosphäre in dem hell erleuchteten Raum schien plötzlich elektrisch aufgeladen.

»Sie wusste, dass er sie töten würde«, sagte Ella leise. »Sobald sie ihm sagte, was er wissen wollte, sobald er ihr das Geheimnis entrissen hätte, würde er sie töten. Sie hat all diese Qualen erduldet, um am Leben bleiben zu können. Deswegen hat sie so lange durchgehalten, weil sie nicht sterben wollte.«

Sie schwieg erschöpft, ein neues, anderes Schweigen. Auch die Männer schwiegen wieder. Sie versuchte in ihren Gesichtern zu lesen. Was denkt ihr wirklich?

Schröder brach das Schweigen zuerst. »Das ist alles?«, fragte er. »Mehr haben Sie uns nicht zu sagen?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

»Sie haben uns alles gesagt, was Sie zu wissen glauben oder meinetwegen auch, was Sie zu wissen behaupten«, sagte Schröder. »Sie sind aber gleichzeitig auch der einzige Mensch, dessen Fingerabdrücke außer denen des Toten am Tatort gefunden wurden, an beiden Tatorten, um genau zu sein.« Er breitete die Hände aus und legte sie vor sich auf die Tischplatte, als wollte er zeigen, wie armselig seine Ausbeute bisher war. »Finden Sie nicht, dass das alles etwas merkwürdig klingt? Diese halb tote Patientin, die vor ihrem geheimnisvollen Verschwinden aus der Klinik nur Sie und Ihr Rettungsassistent gesehen haben …«

Erst jetzt fiel Ella auf, dass an der Kamera auf dem Stativ neben der Tür ein winziges rotes Lämpchen glühte. Was bedeutete das? Nahm die Kamera ihr Verhör auf oder übertrug es in einen anderen Raum? Lief sie schon die ganze Zeit? Wer befand sich in dem anderen Raum?

»Es gibt sie aber doch!«, rief sie, der Kamera zugewandt. »Der Mieter aus dem zweiten Stock hat mir geholfen, sie hinunterzutragen, und mehrere Leute vom Klinikpersonal haben sie ebenfalls gesehen – «

»Wie praktisch, dass ausgerechnet in dieser Nacht wegen des Brands in der Disco alles drunter und drüber ging in der Notaufnahme«, sagte der Hauptkommissar. »Da wurden doch sicher haufenweise Schwerverletzte eingeliefert?«

Ella gab sich Mühe, ruhig zu bleiben, aber sie spürte, wie sie ihre Ruhe verließ; wie sie selbst zornig wurde. Bleib ruhig, ermahnte sie sich, das wollen sie doch nur; sie wollen, dass du wütend wirst.

Unvermittelt schrillte das Telefon auf dem Tisch. Einmal, zweimal, dreimal. Aziz und Schröder starrten den Apparat an, ohne sich zu rühren, fast als hätten sie den Anruf erwartet. Es schrillte weiter – viermal, fünfmal, sechsmal. Als wüssten sie schon, wer sie sprechen will und was er ihnen zu sagen hat, dachte Ella. Kommt daher Schröders Zorn?

Und da endlich begriff sie. Sie begriff es, weil das Telefon klingelte. Sie begriff, dass sie hier in diesem hell erleuchteten Raum in einer tödlichen Falle saß. Die Mörder waren nicht nur draußen auf den Straßen; wenigstens einer von ihnen hatte Zutritt zu diesem Gebäude. Sein Name lautete vielleicht nicht Kleist, und wahrscheinlich war er auch kein Hauptkommissar. Aber er wusste wieder, wo sie sich aufhielt. Nach dem achten Klingeln schwieg das Telefon, aber Ella kam es vor, als schrillte es weiter, bis ihr Gehirn wund war. Sie hörte es noch klingeln, als es längst still war, und dann hatte sie auf einmal auch die Antwort auf die Frage, warum das Telefon in Max’ Wohnung genau in dem Moment geklingelt hatte, als sie mit der Polizei verbunden worden war.

»Ich möchte sofort mit einem Anwalt sprechen«, erklärte sie.

Ich brauche jemand, der mich hier sieht, jemand, der weiß, dass ich hier bin.

Hauptkommissar Aziz nickte, langte über den Tisch nach dem Telefonhörer und fragte: »Jemand Bestimmten?«

»Ich kenne keinen«, sagte Ella. »Ich habe nie einen gebraucht. «

»Es ist Samstagabend«, sagte Aziz. »Ich könnte es beim Anwaltsnotdienst versuchen, wenn Sie möchten.«

»Bitte.« Du darfst sie nicht merken lassen, dass du Bescheid weißt. Sie werden irgendwann den Raum verlassen, und dann wird jemand anderer kommen; oder sie bringen dich woandershin, an einen Ort, an den du auf keinen Fall mitgehen darfst.

Aziz wählte eine Nummer und wartete, während Schröder mit den Fingern einen gereizten Bolero auf der Tischplatte trommelte. Er sah Aziz an, dann Ella, und plötzlich stand er auf und ging zur Tür, doch statt sie zu öffnen, blieb er nur mit gesenktem Kopf davor stehen. Aziz sagte: »Hier Hauptkommissar Aziz, Mordkommission. Wir bräuchten hier einen Anwalt, beim Landeskriminalamt in der – «

»Wir«, Schröder drehte sich um und kehrte zum Tisch zurück. »das heißt, die Kollegen, die den Fall bearbeiten, sind noch nicht dazu gekommen, alle Bewohner des Hauses in der Benno-Ohnesorg-Straße zu befragen. Aber einer der Mieter bestätigt einen Notarzteinsatz vorgestern Nacht und auch, dass eine Frau aus der Penthouse-Wohnung abgeholt worden ist …«. Einen Moment lang dachte Ella, er hätte beschlossen, die Daumenschrauben etwas zu lockern, denn seine Stimme klang fast wieder so, als wollte er eine vernünftige Befragung durchführen. Aber dann fuhr er fort: »Das Problem ist – was geschah zwischen der Abfahrt in der Benno-Ohnesorg-Straße und der Ankunft in der Charité? Wann ist die Patientin wirklich verschwunden? Bedenkt man das Chaos, das in jener Nacht geherrscht hat, und den Umstand, dass es zwar einen Zeugen für die gemeinsame Abfahrt gibt, aber keinen für eine ebensolche Ankunft – jedenfalls keinen, der noch am Leben wäre –, dann könnte sie genauso von Ihnen unterwegs irgendwo entsorgt worden sein, nicht wahr?«

»Das ist doch Blödsinn!«, widersprach Ella heftig. »Der Arzt, der sie in der Klinik übernommen hat, kann meine Aussage bestätigen …«

»Der Arzt, ja, richtig. Gut, dass Sie den erwähnen. Sie kennen ihn natürlich.«

»Nein.«

»Sie arbeiten an der Charité und kennen Ihre Kollegen nicht?«

Aziz legte den Hörer auf und sagte: »Sie schicken jemanden her.«

Ella sah zu Schröder auf. »Wissen Sie, wie viele Ärzte es in den Kliniken der Charité gibt, auf dem Campus Mitte, in Wedding und in Steglitz? Hunderte! Vielleicht war er neu in Mitte, oder er ist gar nicht fest angestellt, sondern arbeitet dort nur vorübergehend auf Honorarbasis so wie ich selbst. Oder …« Sie unterbrach sich. »Wollen Sie sagen, dass ich einen Kollegen beschuldige, eine Patientin verloren zu haben?«

Schröder sagte: »Haben Sie nicht mal einen anderen Arzt tätlich angegriffen? Sind Sie nicht mit der Faust auf ihn losgegangen und haben ihn als Mörder beschimpft?!«

Ellas Herz begann wieder zu rasen. Woher haben sie diese Informationen? Wann haben sie das alles in Erfahrung gebracht? »So war das nicht. Der Kardiologe hatte …«

»Ihre Kollegen in der Klinik und ehemalige Kommilitonen von Ihnen sagen, Sie seien ein bleeding heart«, meinte Aziz jetzt. »Sie identifizierten sich zu sehr mit den Patienten, ließen alles zu dicht an sich heran, schon während des Studiums hätten Sie unter einem Helferkomplex gelitten, Ihr Herz schlägt in den Wunden ihrer Patienten soll mal jemand über Sie gesagt haben …«

»Was ist falsch daran, wenn man dem Leid seiner Patienten gegenüber nicht gleichgültig ist?«, fragte Ella und dachte, bleib ruhig, gleich ist der Anwalt da. Sie atmete durch. So gelassen sie konnte, sagte sie: »Sie können bestimmt herausfinden, wem das Haus gehört. Der Mieter aus dem zweiten Stock sagte …«

»Das ist bereits geschehen«, erklärte Aziz. »Das Haus gehört einem Patentanwalt namens Freyermuth – Dr. Randolph Freyermuth, und die Wohnung im obersten Stock ist als Schenkung auf seine Tochter Sonja übergegangen.«

»Dann wissen Sie ja, wer die Frau war – «

»Sonja Freyermuth, Spitzname: Sunny«, assistierte Aziz seinem Kollegen. »Hat die Wohnung aber angeblich nicht selbst bewohnt. Lebt in der Schweiz, genauer, in Genf, studiert da Wirtschaftswissenschaft. Sie sehen, wir waren ganz und gar nicht untätig. Wir haben versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, hatten aber bisher noch keinen Erfolg.«

»Haben Sie versucht, das Mädchen zu erreichen oder die Kollegen?«, fragte Ella.

Es hat keinen Notruf bei der Polizei gegeben, trotzdem weiß sogar die Mordkommission, dass in der Wohnung ein Verbrechen begangen worden ist und dass du den Einsatz durchgeführt hast. Seit wann wissen Schröder und Aziz das? Von wem?

»Das geht Sie nichts an«, sagte Schröder.

Aziz seufzte. »Wissen Sie, warum es uns so schwerfällt, Ihnen zu glauben, Doktor Bach? Weil Sie eine Lügnerin sind. Sie sagen uns einfach nicht die Wahrheit.«

»Ich habe Sie nicht belogen«, sagte Ella schließlich, aber ihre Stimme zitterte.

Aziz holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche und legte es auf den Tisch. »Wie erklären Sie sich dann diesen Brief, den Max Jansen Ihnen ungefähr vor drei Wochen geschrieben hat und in dem sich ein paar ergreifende Zeilen über seine Liebe zu Ihnen finden? Die offenbar, das geht aus diesen Zeilen hervor, durch eine gemeinsam verbrachte Nacht neue Nahrung erhalten hat, und zwar an dem Wochenende vor der Niederschrift dieses berührenden – «

»So einen Brief habe ich nie bekommen!« Ella streckte die Hand nach dem Blatt Papier aus, und Aziz schnippte es in ihre Richtung. Sie faltete es auseinander, warf einen Blick darauf. Sie erkannte Max’ Schrift: Ella, Bambi …

»Weil er ihn nie abgeschickt hat«, antwortete Aziz. »Wir haben ihn in seiner Wohnung gefunden. Also, wenn Sie nicht gelogen haben, was Ihre platonische Beziehung angeht, warum erfindet Max Jansen dann …«

»Ja, ich habe noch einmal mit ihm geschlafen.« Sie spürte, wie das Blut ihr ins Gesicht stieg, erst in den Hals, dann in die Wangen und schließlich in die Stirn, eine jähe Hitze. Ihre Stimme zitterte nicht mehr, dafür klang sie jetzt trotzig. »Das ist ja kein Verbrechen, oder?«

Schröder schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie rasch fort: »Ich hatte es vergessen«, und jetzt sah sie sich wieder mit ihren Augen, eine Lügnerin, die schon einmal gewalttätig geworden war.

»Es war nur einmal, und es war falsch«, sagte sie, dabei war ihr längst klar, dass sie sagen konnte, was sie wollte – es ging ihnen gar nicht darum. Sie war ihre einzige Verdächtige.

Plötzlich griff Schröder in die Außentasche seiner Lederjacke, holte sein Handy heraus und warf einen Blick auf das Display. Er stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung Tür. »Schröder«, meldete er sich. Er lauschte.

Ella beobachtete ihn, beobachtete, wie sich sein Rücken plötzlich versteifte und sofort wieder entspannte, wie er sich umdrehte, sie fixierte und den Blick im selben Moment abwandte, in dem er merkte, dass sie ihn ansah. »Nein«, sagte er leise, »nein …« Er lauschte wieder, und dann sagte er: »Ja, natürlich – natürlich, Chef, wir können sie ohne Weiteres – « Seine Stimme stieß die Worte hervor, ein scharfes Flüstern. Wieder so zornig. »Aber wir haben sie fast – « Sein Hals rötete sich. »Ja, ja, ja, sind Sie sicher? Ja, natürlich, das geht – «

Was geht?, dachte Ella, gerade als Schröder das Gespräch abrupt beendete und mit einer unbeherrschten Geste das Handy wieder in die Tasche stieß. Er sah Ella an und sagte: »Sie können jetzt gehen.«

»Was?«, fragte Aziz überrascht.

»Er hat gesagt, wir sollen sie gehen lassen.«

Aziz sah ihn fassungslos an, erst ihn, dann sie, und da wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte. Der Mörder ist irgendwo da draußen. Sie schicken dich raus zu ihm. Du hast gerade erlebt, wie er ihnen befohlen hat, dich zur Schlachtbank zu schicken. Es ist jemand, der ihnen Befehle erteilen kann – Befehle, die sie nicht verstehen und nicht ausführen wollen, aber er duldet keinen Widerspruch.

»Was ist mit meinem Anwalt?«, fragte sie. »Kann ich hier auf ihn warten?«

»Das ist kein Wartesaal«, erklärte Schröder. »Sie sollten unsere Geduld nicht überstrapazieren.«

Sie wissen nichts. Sie gehören nicht dazu. Aber für sie bin ich schuldig. Sie hielt noch immer Max’ nie abgeschickten Brief an sie in der Hand. »Kann ich den behalten?«

»Das ist Beweismaterial«, sagte Aziz, jetzt ebenso schroff und zornig wie sein Kollege. »Viel haben wir ja nicht!« Er stand auf, drückte die Stopp-Taste des Rekorders und nahm die Kassette aus dem Gerät. »Wissen Sie, was komisch ist?«, sagte er. »Ich hatte vorhin ein Gespräch auf dem Gang – die Spurensicherung hat nicht den geringsten Hinweis auf die Anwesenheit eines Mannes in der Wohnung des Mädchens gefunden. Und falls es dort wirklich einen Überfall gegeben haben sollte, existieren auch dafür keine Beweise. Bei so einem Gemetzel müsste es doch irgendwas geben – Blut, Fingerabdrücke, verschmierte Fußspuren da, wo er sich vor Ihnen versteckt hat, rote Spritzer an den Wänden oder dem Fenster, durch das er abgehauen ist, nicht? Wir haben also Ihr Wort und das des Nachbarn aus dem zweiten Stock, aber der ist sich plötzlich gar nicht mehr sicher, was er nun genau da im Dunkeln gesehen hat.« Er ging zur Tür. »Mal schauen, was bei der Untersuchung der Wohnung Ihres Freundes rauskommt. Bleiben Sie für uns erreichbar, ja?«

»Bringen Sie mich nicht nach Hause?«, fragte Ella. »Kann irgendjemand von Ihnen mich nach Hause fahren?«