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Es war kurz vor Mitternacht, und Ella stand allein am Hintereingang des Gebäudes und sah auf den dunklen Hof mit den abgestellten Einsatzfahrzeugen hinaus. Der Hof war so groß wie ein Fußballplatz und wurde beleuchtet von den wenigen Fenstern in den wuchtigen Backsteinmauern und den Scheinwerfern über den Toren.

Du musst einfach losgehen, dachte sie, ganz ruhig, nicht rennen. Hier wird er dir nichts tun.

Ihr Blick ging über die Seitenflügel des Gebäudes hoch zum obersten Stockwerk, nach links, nach rechts, von Fenster zu Fenster, den erleuchteten und den schwarzen. Er beobachtete sie. Er stand hinter einem der Fenster und wartete darauf, dass sie endlich aus dem Eingang trat. Er saß in einem der Streifenwagen, unsichtbar bei ausgeschalteten Scheinwerfern. Er lauerte auf der Straße, hinter einem der Bäume, in einem geparkten Cabrio, einer Limousine. Er war ein Raubtier, und das Raubtier nahm ihre Witterung auf.

Ella ging los, tat einen Schritt nach dem anderen, erst zögernd, dann sicherer. Ging über den Hof, durch die Dunkelheit, vorbei an den abgestellten Streifenwagen und vergitterten Einsatzbussen. Roch die Ausdünstung warmer Motoren. Hörte ihre eigenen Schritte nicht, spürte sie nicht einmal. Ging schneller, auf das offene Tor zu, hinter dem der Verkehr vorbeiflutete. Im Gehen sah sie zu den Fenstern hoch, konnte aber niemanden entdecken, auch nicht hinter sich, als sie sich in der Mitte des Hofs kurz umdrehte.

Sie erreichte das Tor – die Pförtnerloge war leer –, und dann war sie auf dem Bürgersteig, und im nächsten Moment rannte sie. Sie lief um die nächste Ecke, rannte weiter, immer schneller, und ihre Angst verschwand. Je länger sie rannte, desto weniger Angst verspürte sie. Die Nachtluft schoss ihr in die Lungen, ihre Schuhsohlen schlugen auf den Asphalt. Sie rannte schneller als die Fahrräder, die Autos, die Motorräder, und sie ließ alle hinter sich zurück. Ihr Kopf wurde leicht, und die Muskeln begannen zu brennen, aber sie spürte die Angst nicht mehr und auch nicht das Rasen ihres Herzens.

Sie rannte bis zur nächsten Querstraße. Trat auf der Stelle, ohne mit dem Laufen aufzuhören, wartete den passenden Moment ab, die winzige Lücke im Fluss der vorbeirasenden Fahrzeuge, die Lücke, die nur für sie groß genug war, und als sie kam, lief sie los. Sie erreichte die andere Straßenseite, und auch dort rannte sie weiter, ein Stück die breite Querstraße entlang, dann um die nächste Ecke. Sie stieß auf einen Kanal, und noch immer rannte sie, rannte am Kanal entlang, bis sie das Gefühl hatte, ihre ganze Lunge sei wund und verätzt und fülle sich mit Blei statt mit Sauerstoff.

Stolpernd blieb sie stehen. Die Dunkelheit vor ihren Augen flimmerte. Sie beugte sich vor, stemmte die Handteller gegen die Knie. Ihre Muskeln brannten, und die Beine zitterten. Der Speichel auf ihrer Zunge schmeckte wie Blut. Der Puls in ihrer Halsschlagader hämmerte gegen die Kehle. Sie schloss die Augen. Keuchend wartete sie ab, bis sie wieder klar sehen konnte, dann schaute sie sich um.

Rechts von ihr führte eine Fußgängerbrücke aus verschnörkeltem Eisen über das Wasser. Sie lief über die Brücke, ihre Füße polterten auf den Holzbohlen. Mückenschwärme tanzten im Licht der altmodischen Laternen, und das Licht war gefährlich, und sie lief weiter. Hinter der Brücke führte ein schmaler Weg in den Tierpark, zwischen schwarze rauschende Bäume. Sie spürte Gras unter den Schuhsohlen, und dann lag vor ihr ein Teich, aber sie konnte nicht genau erkennen, wo das Wasser begann.

Langsam ging sie auf den Teich zu, bis sie eine Bank entdeckte. Sie setzte sich nicht auf die Bank, sondern ließ sich auf die Wurzeln eines mächtigen Baums sinken, und nach ein paar Minuten, in denen sie an nichts dachte, tauchte wieder das Bild des toten Max vor ihr auf. Ella, Bambi … Das war sein Spitzname für sie gewesen, als sie sich noch geliebt hatten. Er hatte ihr das Haar aus der Stirn gestrichen und sie angelächelt, dass ihr das Herz schmolz, und geflüstert: »Ella, Bambi …«

Warum hast du den Brief nicht abgeschickt, du verdammter Idiot?

Bild für Bild jagte der ganze Tag an ihr vorbei. Keins der Bilder schien wirklich zu ihrem Leben zu gehören, vor allem nicht das des toten Max in seinem Blut auf dem Küchenboden. Max war nicht jemand, um den man weinte; er war jemand, mit dem man lachte. Sie war so gern mit ihm zusammen gewesen, lieber als mit jedem anderen Mann. Er war zärtlich gewesen, klug und komisch. Es gab nicht viele Männer, mit denen man so lachen konnte, dass man alles vergaß, für ein paar Stunden wenigstens oder auch nur für einen Moment.

Sie lauschte den Geräuschen des nächtlichen Parks, dem Wind in den Baumkronen, dem Dröhnen des Verkehrs auf dem KuDamm in der Ferne und dem leisen Plätschern im Wasser, wenn eine der Enten erwachte oder ein Fisch an die Oberfläche stieß. Sie dachte wieder an Max, und da fielen ihr die Krebse ein. Weißt du noch, die Nacht, als wir das Krebsessen veranstaltet haben und danach verkleidet durch Kreuzberg getobt sind?

In jenem Sommer kannten sie sich erst kurze Zeit. Nachts zogen sie immer zusammen mit seiner Schwester Annika durch die Kneipen, und manchmal schlugen sie auch ein bisschen über die Stränge, so wie an dem Abend der Krebse. Es war Semesterende, Annika hatte gerade ihr Praktikum in der Psychiatrie angefangen, und zur Feier des Tages hatte Max auf dem Fischmarkt einen Eimer voll lebender Krebse besorgt, mit denen sie den Abend in Annikas kleiner Küche beginnen wollten.

Während sie das Essen vorbereiteten, öffnete Max eine Flasche Champagner, woher hatten wir eigentlich das Geld dafür?, schenkte allen ein Wasserglas voll ein und leerte seins sofort. Annika – schön und groß und Ellas beste Freundin zu der Zeit – stellte eine Pfanne und einen großen Kochtopf voll Wasser auf den Herd. Als es zu sieden begann, legte sie ein großes Küchensieb in die Spüle und leerte den Eimer in das Sieb. Danach nahm sie es, schüttelte die Krebse durch und kippte sie in das sprudelnde Wasser. Das Wasser schäumte hoch. Einer der Krebse wurde gegen den Topfrand gespült, wo seine rudernden Beine Halt fanden. Der nächste kletterte über ihn hinweg und fiel mit einem leisen Knacken vom Topfrand auf den Küchenboden, gleich darauf ein zweiter und ein dritter. Flink krabbelten sie mit vorgereckten Scheren und tastenden Fühlern über die Kacheln, weg vom Herd.

Ella brachte ihre nackten Füße mit einem Satz auf die Bank am Esstisch in Sicherheit. Annika stürzte kreischend auf den Balkon hinaus, und dann fing auch Ella an zu kreischen, weil ein Krebs den Kurs änderte und auf die Bank zukrabbelte. Ella sprang von der Bank und lief zu Annika auf den Balkon hinaus, wo sie beide gemeinsam schrien.

Die Passanten auf der Straße blieben stehen und sahen zu ihnen hinauf. Einige Männer lachten und stießen andere Männer an, die ebenfalls zu lachen anfingen und näher ans Haus traten. Erst als Ella eine Frau sah, die missbilligend den Kopf schüttelte und ihren Begleiter von dem Platz unter dem Balkonrost wegzerrte, wurde ihr klar, wohin die Männer starrten. »Hast du wieder kein Höschen an?«, fragte sie Annika.

Annika schien plötzlich zu frösteln. »Du meine Güte, ja!«, rief sie, kicherte und wollte zurück in die Küche laufen, was ohne Weiteres möglich gewesen wäre, wenn Max nicht die Tür verriegelt hätte. Ein breites Grinsen im Gesicht, stand er auf der anderen Seite und winkte ihnen fröhlich zu. »Dafür wirst du büßen«, sagte Annika leise, aber inbrünstig.

Als Ella die Kerzen auf dem Küchentisch anzündete, weil sie endlich mit der Suppe anfangen konnten, war Max bereits betrunken. Die mit Champagnersauce und Butter zubereiteten Krebse schmeckten ihm so gut, dass er einen nach dem anderen hinunterschlang, ohne Salat oder Weißbrot dazu zu essen. Bald türmten sich in der Keramikschale vor seinem Platz Köpfe, Scheren und Panzer, und als es keine Krebse mehr gab, fing er an, die Schwänze auszulutschen. Etwas später war auch der Champagner zu Ende.

»Wir brauchen noch Champagner«, rief Max. »Lass uns was trinken gehen, irgendwo in Kreuzberg, okay?« Er stand unsicher auf, klopfte seine Hosentaschen ab, dann sah er seine Schwester an. »Ich hab mein Portemonnaie vergessen, schießt du mir was vor?«

»Okay«, sagte Annika, und Ella entdeckte einen Glanz in ihren Augen, der nichts Gutes ahnen ließ, »aber nur, wenn du in einer Zwangsjacke gehst.«

»In einer Zwangsjacke?«

»Genau«, bestätigte Annika. »Ohne Zwangsjacke kein Champagner. «

Max ließ seinen Blick zwischen ihnen hin- und herwandern. »Klar, warum nicht«, meinte er gleichmütig und blinzelte Ella zu. »Du hast nicht zufällig eine da?«

Annika stand auf, ging ins Nebenzimmer und kehrte mit einer weißen Zwangsjacke zurück. »Eine gute Therapeutin«, verkündete sie, »hat dergleichen immer zur Hand. Vor allem, wenn sie einen Freund hat, der auf Fesselspiele steht.« Sie trat auf ihren Bruder zu. »Hier, du ziehst sie an, und Ella und ich spielen deine Pflegerinnen.«

»Und dann?«, erkundigte Max sich misstrauisch, sah aber keine Möglichkeit mehr zu einem ehrenvollen Rückzug.

»Wir erschrecken auf der Straße ein paar Leute, und danach binden wir dich wieder los.«

»Das ist alles?«

»Mehr oder weniger«, sagte Annika unschuldig.

Kurz vor elf stiegen sie am Mareinekeplatz aus Ellas offenem Karmann Ghia und führten Max zwischen sich die Bergmannstraße hinauf. Sie hatten ihm die Zwangsjacke angezogen und die Arme vor dem Bauch verschnürt, sodass er nur noch den Kopf und die Beine bewegen konnte. Annika und Ella hatten weiße Kittel über ihre Kleider gezogen, und diesmal trug auch Annika Unterwäsche. »Wir hätten uns noch ein Stethoskop besorgen sollen«, sagte Annika.

»Irrenärzte tragen keine Stethoskope«, sagte Ella.

»Ein Stethoskop kommt immer gut«, sagte Annika.

Mit wilden Blicken, schüttelte Max den Kopf, bis ihm die blonden Haare in die Stirn hingen. Er rannte ein paar Schritte und drehte sich einmal um die eigene Achse, wobei er ein lang gezogenes Wolfsgeheul ausstieß. »So gut?«, fragte er.

»Perfekt«, erklärte Annika. »Du hast dir deinen Champagner verdient.«

Es war eine warme Nacht, fast so wie diese, und an den Tischen vor den Restaurants, Cafés und Bars gab es kaum einen freien Platz. Autos auf der Suche nach Parklücken rollten im Schritttempo an den rechts und links abgestellten Fahrzeugen entlang. Aus den Lokalen spülte Musik auf die Gehwege. Kinder, die zu niemandem zu gehören schienen, spielten im Schein der bunten Lichter Fangen zwischen den Tischen. Passanten flanierten über die Trottoirs, und die Luft roch nach exotischen Gewürzen, und irgendwo erklang die Trompete eines Straßenmusikanten.

»Was soll ich eigentlich mit dem Strohhalm?«, wollte Max wissen.

»Ich wüsste nicht, wie du sonst mit gefesselten Armen was trinken willst«, sagte Annika.

Max starrte erst sie an, dann Ella. »Wieso, ihr bindet mich doch wieder los, oder?«

Annika und Ella gingen weiter, ohne zu antworten. Er sah ihnen einen Moment lang bewegungslos nach, dann lief er mit wackelndem Oberkörper hinter ihnen her, bis er sie wieder eingeholt hatte. »Oder?«, rief er.

»Hast du die Küchentür vergessen?«, fragte Annika.

Ella ergriff seinen rechten Oberarm und zog ihn weiter. »Komm schon, Wolfsmann«, sagte sie.

»Nein!«, schrie er, riss sich los und rannte auf eine Gruppe von Frauen und Männern zu, die im Lichtschein eines Fast-Food-Lokals standen. »Hilfe! Helfen Sie mir, bitte! Befreien Sie mich!« Seine Augen loderten, und ein wenig Speichel rann ihm über die Unterlippe. »Bitte!«

Die Gruppe wich unbehaglich zurück, während die Gäste an den Tischen eines Restaurants nebenan neugierig die Köpfe hoben. Max lief zu den im Freien stehenden Tischen und begann, wahllos auf Kellner und Gäste einzureden, von denen einige ihn einfach ignorierten, während andere lachten, aber keiner half ihm aus seiner Zwangsjacke. Als Ella und Annika bei ihm eintrafen, war er erschöpft und verschwitzt, aber seine Augen glänzten wie nasse Murmeln. »Das ist Freiheitsberaubung«, erklärte er mit einem Anflug von Würde, wie sie so nur ein Betrunkener aufbringen konnte.

»Stimmt«, pflichtete Annika ihm bei, »und die erträgt man besser im Sitzen. Kellner, bringen Sie uns eine Flasche Champagner! «

»Sie werden den doch jetzt nicht etwa losbinden«, sagte ein Mädchen mit einer roten Irokesenfrisur am Nebentisch.

»Keine Sorge«, erklärte Annika, »er ist ausgebrochen, und wir bringen ihn wieder zurück. Er ist nicht wirklich gefährlich, solange er etwas zu trinken bekommt.«

»Es kann höchstens sein, dass er Sie beißt«, warf Ella ein.

»Aber wir haben Spritzen gegen Tollwut dabei«, sagte Annika.

Max sank auf einen freien Stuhl. Der Kellner erschien an ihrem Tisch und sagte: »Entschuldigen Sie, dieser Tisch ist leider reserviert. Tut mir leid.«

»Ja, mir auch«, sagte Annika. »Denn wenn er nicht sofort seinen Champagner bekommt, kriegt er vielleicht wieder einen Anfall, und dann …« Sie ließ den Satz unvollendet und blickte nachdenklich auf die Kehle des Kellners, die verletzlich und preisgegeben aussah.

»Champagner und einen Strohhalm«, sagte Ella. »Das beruhigt ihn.«

»Mich nicht«, sagte das Mädchen mit der Irokesenfrisur am Nebentisch. Es zog sich etwas tiefer in seine übergroße schwarze Lederjacke zurück. »Mich beruhigt das nicht.« Ein silberner Ring in seinem linken Nasenflügel fing das Licht von der Markise und ließ es über ihrer gepiercten Oberlippe zittern.

»Er heißt Max«, sagte Annika. »Meistens macht er keine besonderen Probleme, aber in manchen Sommernächten – «

» – wenn Vollmond ist – «, ergänzte Ella.

»Ich hole den Champagner«, sagte der Kellner und eilte davon.

Das Mädchen mit der Irokesenfrisur holte Geld aus der Seitentasche seiner Lederjacke und legte es neben sein halb ausgetrunkenes Weinglas.

»Bitte, gehen Sie nicht«, bat Annika.

»Warum nicht?«, fragte das Mädchen.

Annika fuhr Max mit der Hand über das wirre Haar, eine Geste, zu der Ella schon die ganze Zeit Lust gehabt hatte. »Er braucht viele Liebe. Wenn Sie jetzt gehen, fühlt er sich zurückgestoßen. «

Das Irokesen-Mädchen betrachtete ihn teilnahmsvoll. »Er sieht süß aus. Irgendwie traurig und verloren.«

»Wir passen auf, dass er sich nicht selbst verliert«, sagte Ella.

»Durst«, rief Max. »Durst, Durst, Durst!«

Der Kellner kehrte an ihren Tisch zurück, in den Händen ein Tablett, auf dem ein Kübel mit zerstoßenem Eis, eine Flasche Champagner und drei Gläser standen. »Wir haben innen noch Platz, da ist es etwas leerer«, sagte er, »falls es Ihnen hier draußen vielleicht zu kühl wird – «

»Es gefällt uns sehr gut hier draußen«, sagte Ella.

Es war eine warme Nacht gewesen, genau wie heute Nacht, und die Markise des Cafés flatterte im Wind, der vom Mehringdamm herunterwehte. Ella hatte Max beobachtet, wie er in seine Zwangsjacke geschnürt dasaß und den Champagner mit dem Strohhalm schlürfte, und sie fand, dass das Mädchen namens Spinne recht hatte – er sah tatsächlich süß und verloren aus, und wenn er lächelte, schmolz etwas in ihrem Herzen.

Kurz nach jener Nacht hatte es angefangen zwischen ihnen, und eine Zeit lang war es das Beste gewesen, das ihr je widerfahren war, und wenn sie jetzt daran dachte, war es in der Erinnerung immer noch gut. Nur dass Max jetzt tot war. Er war tot, und sein Mörder lief frei herum. Ich zahle es ihm heim, Max, dachte Ella. Wenn die Polizei ihn nicht erwischt oder wenn sie ihn nicht einmal sucht, weil er dort Freunde hat, dann kümmere ich mich darum. Du wirst staunen, wozu ich fähig bin.

Jetzt merkte sie, dass sie weinte, aber es störte sie nicht. Nach so einer Nacht und so einem Tag durfte man weinen. Es war in Ordnung.