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Wenn ein Raubtier die Witterung seiner Beute verliert, legt es sich auf die Lauer und wartet. Es wartet bis das Opfer an einen Ort kommt, den es regelmäßig aufsucht. Wo es Futter findet oder Wasser. Oder wo es wohnt, wenn es ein Mensch ist.

Ella saß in ihrem Karmann Cabrio und fuhr langsam durch die Akazienstraße. Sie fuhr an ihrem Haus vorbei und danach an den vielen kleinen Cafés, Boutiquen und Spezialitätenrestaurants, derentwegen sie hierhergezogen war. Die letzten Blütenblätter der Akazien bedeckten den Asphalt. Vor der Apostel-Paulus-Kirche fand sie einen Parkplatz, gegenüber von einem indischen Lokal mit einer flatternden Markise. Es regnete wieder schwach, die Scheiben waren beschlagen, und die Tropfen knisterten leise auf dem Verdeck. Der Himmel über den Dächern war gerötet. Dunkel erhob sich die aus roten Backsteinen erbaute Kirche über die dicht belaubten Bäume, die sie umstanden. Die grünspanbefallene Turmspitze schien bis zu den tief treibenden Wolken zu reichen.

Von ihrem Platz aus konnte Ella ihre Haustür beobachten und die Bürgersteige und die Straße und die wenigen Autos auf der Straße; es war alles wie immer um drei Uhr morgens. Ihre Wohnung lag ganz oben, halb hinter den Kronen der Bäume verborgen; die Fenster waren dunkel.

Ella holte das Handy aus der Handtasche, die offen auf dem Beifahrersitz lag. Ihr ganzes Leben befand sich in dieser Tasche: Ausweis, Adressbuch, MasterCard, Geld, Schlüssel. Genau genommen musste sie gar nicht in die Wohnung, solange das Raubtier hier irgendwo auf der Lauer lag. Aber vielleicht fiel ihr etwas auf: ein Wagen, ein Mann, ein Gesicht, selbst wenn es nur ein Schatten in der Dunkelheit war und –

Die Erkenntnis war wie ein Schlag gegen die Brust, so heftig wie damals, als sie mit dreizehn im letzten Zwielicht des Tages noch Fahrrad gefahren und gegen einen Draht geprallt war, den Kinder zwischen zwei Bäumen über den Weg gespannt hatten. Sie war aus dem Sattel gestürzt, und einige Sekunden lang hatte sie nicht begriffen, was geschehen war, warum sie nicht mehr atmen konnte.

Als sie dann aufgestanden war und den Draht entdeckt hatte, kam ihr alles um sie herum noch eine ganze Weile merkwürdig verändert vor: als läge ein leichtes Flimmern zwischen ihr und den Dingen. Sie sahen noch genauso aus wie vorher, ihren Platz hatten sie nicht verändert, aber trotzdem war etwas anders geworden. Alles kam ihr klarer vor, eindringlicher, sogar leuchtender, und die Geräusche waren plötzlich lauter.

Du hast deinen Platz in der Welt verloren.

Sie konnte nicht mehr in ihre Wohnung, vielleicht nie mehr.

Ella schaltete die Innenbeleuchtung ein. Sie suchte Annikas Nummer in ihrem Adressbuch, klappte ihr Handy auf und tippte die Ziffern ein, bevor sie das kleine Lämpchen über ihrem Kopf rasch wieder ausknipste. Das Freizeichen ertönte. Sie betrachtete den Regen, der in Rinnsalen über die Windschutzscheibe rann und kurbelte die Seitenscheibe einen Zentimeter herunter, um Luft in den Wagen zu lassen. Dann sah sie im Innenspiegel, dass der Schein des Handy-Displays ihr Gesicht aus der Dunkelheit holte. Sie unterbrach die Verbindung, schloss das Handy an die Freisprecheinrichtung an und drückte die Wahlwiederholung. Danach legte sie das Gerät in ihren Schoß.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine verschlafene Stimme. »Scheiße, ja! … Jansen, hallo?!«

»Ich bin’s – Ella«, sagte Ella leise.

»Welche Ella? Ella Fitzgerald?«

»Bambi«, erklärte Ella. »Erinnerst du dich nicht an mich?«

»Bambi?! Du hast ja Scheißnerven, mich mitten in der Nacht – «

»Max ist tot«, sagte Ella. Sie hatte es anders sagen wollen, aber sie wusste nicht, wie, und sie wusste auch nicht, wie viel Zeit sie dafür hatte. Sie wusste nur, dass Annika es von ihr hören musste, nicht von der Polizei; nicht von jemandem, der sie für die Täterin hielt.

»Drei Jahre lang lässt du nichts von dir hören, seit du mit Max Schluss gemacht hast, und jetzt fällt es dir ein, mich – « Annika unterbrach sich, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme anders. »Was ist mit Max?«

»Er ist tot«, wiederholte Ella.

Zwei bis zu den Augen verschleierte Frauen näherten sich auf dem Bürgersteig, gingen an dem Wagen vorbei und bogen in eine Seitenstraße. Sie unterhielten sich laut und schnell auf Arabisch. Eine lachte. Ein Taxi mit eingeschaltetem Schild auf dem Dach rollte langsam die Straße herunter. Die Scheinwerfer streiften den Karmann, und Ella duckte sich und blieb unten, bis das Taxi vorbei war.

»Er ist ermordet worden«, sagte Ella.

»Das ist überhaupt nicht komisch, Ella«, sagte Anika. »Ich habe noch Dienstagnachmittag mit ihm telefoniert, und da war er so – «

»Ich habe ihn gefunden.« Ella schmeckte plötzlich etwas Bitteres ganz hinten auf ihrer Zunge, weil sie es zum ersten Mal aussprach, und es kam ihr vor, als würde es dadurch erst Wirklichkeit. »Er hatte sich den Knöchel verstaucht, und die Mörder sind in seine Wohnung gekommen – «

»Stopp!«, fiel Annika ihr ins Wort. »Redest du wirklich von meinem Bruder? Wer sollte denn Max ermorden?« Sie schwieg, und während ihres Schweigens füllte sich die Leitung mit einem rauschenden elektrischen Nebel, dem fernen Echo unausgesprochener Gedanken und unvorstellbarer Bilder.

»Ich weiß es nicht«, sagte Ella. Durch das Rauschen konnte sie Annika atmen hören und dazu das Knistern des Regens auf dem Verdeck. Dann sagte sie noch einmal: »Ich weiß es nicht.« Ein heißer Schmerz stieg in ihrer Kehle hoch. »Es war so schrecklich, Anni, das kannst du dir gar nicht vorstellen …« Der Schmerz waren lauter Worte, die jetzt aus ihr hervorbrachen, als sie Annika, mit der sie drei Jahre nicht mehr gesprochen hatte, alles erzählte, was seit vorgestern Nacht passiert war. Als sie fertig war, schwieg Annika noch immer. »Deswegen musste ich dich anrufen. Damit du es von mir hörst, bevor die Polizei sich mit dir in Verbindung setzt.«

Annika sagte weiter nichts, aber jetzt konnte Ella hören, dass sie schniefte. »Und die denken, das warst alles du?«, fragte sie endlich. Ihre Stimme klang gepresst.

»Ja.«

»Sie halten dich für schuldig, und trotzdem haben sie dich auf freien Fuß gesetzt?«

»Ja.«

»Weißt du, wie das klingt?«

»Glaubst du mir?«, fragte Ella.

Annika antwortete nicht.

»Du glaubst mir doch, oder?!« Ella merkte, dass sie das Lenkrad umklammerte. »Ich bin es nicht gewesen, und ich bin nicht paranoid.«

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein leises Scheppern wie von Tabletten in einer Plastikdose, dann ein Fluch, »Nein, verdammte Scheiße, nicht jetzt – !« Ein Glas klirrte, gefolgt von Schluckgeräuschen. Was nimmt sie da?, dachte Ella.

Annika atmete tief ein und wieder aus, dann sagte sie: »Max hat dich immer noch geliebt, die ganze Zeit, weißt du das?«

Ella sagte nichts. Nach einer kurzen Pause fuhr Annika fort: »Was hast du jetzt vor?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Ella.

»Haben sie … hat die Polizei gesagt, du sollst dich zu ihrer Verfügung halten? Dass du ständig telefonisch erreichbar sein sollst?«

»Ja.« Ella blickte in den Rückspiegel. Hinter ihr, an der Ecke zur Grunewald Straße, verließen drei schlanke Asiaten in schwarzen Hosen und weißen Hemden ein Restaurant, dessen dunkle Fenster mit Lampions und bunten Papierdrachen verziert waren. Einer brüllte in sein Handy, die beiden anderen unterhielten sich lärmend in einem chinesischen Dialekt. Dann schlugen sie sich lachend auf die Schultern; ihre Brillengläser blinkten, spiegelten die Straßenbeleuchtung. Die Ampel neben ihr wechselte zu Rot, ein Volvo hielt, und das dumpfe Wummern von Musik drang durch die geschlossenen Fenster, Drum ’n Bass. »Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden«, sagte Ella.

»Ich sagte, von wo rufst du an? Aus einer Telefonzelle?«

»Nein, aus meinem Wagen.«

»Mit dem Handy?«

»Ja.«

»Hör sofort auf«, sagte Annika.

»Warum?«

»Hör auf und fahr los, sofort!«

Plötzlich begriff Ella, noch bevor Annika weiterredete: »Vielleicht versuchen sie, dich anhand deines Handys zu orten. Sie haben deine Nummer, oder? Wenn du diesen Kleist von unterwegs mobil angerufen hast, dann – «

»So schnell geht das nicht«, sagte Ella, aber sie drehte trotzdem den Schlüssel im Zündschloss und startete den Wagen. Sie fuhr ein weiteres Mal an ihrem Haus vorbei. Sie versuchte, einen Blick in die am Straßenrand geparkten Fahrzeuge zu werfen, aber die nassen Fenster reflektierten die Laternen, die an Stahltrossen im Wind über der Straße schaukelten, und sie konnte nicht sehen, ob jemand darin saß.

»Auf alle Fälle brauchst du einen guten Anwalt«, sagte Annika. »Jemand, der zwei Hauptkommissaren Befehle geben kann, muss in der Hierarchie des LKA ziemlich weit oben stehen. Allein kommst du gegen den nicht an.«

»Morgen ist Sonntag«, sagte Ella. »Vor Montag hat kein Anwaltsbüro – «

»Und du musst in Bewegung bleiben«, fuhr Annika fort, als wäre sie neben ihrem Medizinstudium jahrelang noch Mitglied einer Terrorzelle gewesen. »Du darfst dich nie lange an einem Ort aufhalten. Ich würde ja sagen, komm her, aber London ist einfach ein bisschen weit weg. Am besten wirfst du das Handy in eine Mülltonne, sobald wir aufgelegt haben. Besorg dir ein neues in irgendeinem Telefonladen, der sonntags aufhat. Ruf mich morgen wieder an, dann habe ich einen Anwalt für dich.«

»London?«, fragte Ella überrascht. »Was machst du denn in London?«

»Da lebe ich«, sagte Annika. »Falls man das Leben nennen kann. Ist ’ne ganze Menge passiert bei mir in den letzten drei Jahren, weißt du.«

Was?, dachte Ella, was ist passiert?Warum hat Max mir nichts davon erzählt? Was für Tabletten nimmst du? An der Ecke Hauptstraße bog sie nach links ab. Auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz saßen immer noch vereinzelte Nachtschwärmer auf den Steinbänken, hörten Musik aus Ghettoblastern und tranken Bier. »Annika, bei Max’ Beerdigung werden sie bestimmt in der Nähe sein«, sagte Ella. »Wenn ich nicht – «

»Warte ab, was der Anwalt sagt«, sagte Annika, ohne darauf einzugehen, als wäre der tote Max ein Geist, der verschwand, wenn man nicht über ihn sprach.

Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten Ella, und das Licht blieb zwischen ihren Wimpern hängen, bis sie es wegblinzelte. »Ich musste daran denken, wie wir Max damals – «, fing sie an, hörte aber mitten im Satz auf und sprach nicht weiter.

»Ich kümmere mich um die Beerdigung«, sagte Annika.

»Wir waren noch befreundet«, sagte Ella. »Max und ich. Wir sind Freunde geblieben.«

»Ich weiß«, sagte Annika und unterbrach die Verbindung, aber Ella schaltete ihr Handy nicht aus. Sie wünschte sich, Max’ Schwester wäre jetzt hier; sie wünschte, keine von ihnen beiden müsste in dieser Nacht allein sein. Sie sah sie vor sich, Annika, mit ihren tiefseeblauen Augen, dem hellbraunen Kurzhaarschnitt und der Milchstraße von Sommersprossen im Gesicht, und auf einmal war es, als hätte es die vergangenen drei Jahre nicht gegeben.

Aber da waren die Tabletten, die veränderte Stimme, die jähe Schärfe – irgendetwas war passiert in dieser Zeit. Was erwartest du denn? Ella wusste, dass Annika ihren Bruder geliebt hatte, mehr als alle Männer, mit denen sie im Lauf der Jahre zusammen gewesen war. Sie hat ihn mir anvertraut, die ältere Schwester, ihrer besten Freundin. Und jetzt ging mitten in der Nacht das Telefon, und die beste Freundin war dran und sagte: Max ist tot, Anni, die Polizei denkt, ich hätte ihn ermordet.

Endlich schaltete Ella das Handy aus, und unter einer S-Bahn-Überführung kurbelte sie das Fenster herunter und warf das Gerät hinaus. Sie fuhr weiter die Potsdamer Straße hinunter, über den Kanal und bog in die Ebertstraße ein. Dann sah sie hinter den Häusern den Fernsehturm mit seiner bunten Beleuchtung aus der Nacht auftauchen, und sie fuhr weiter in Richtung Mitte.

Sie versuchte, sich an das erste Telefonat mit Kleist zu erinnern, an die Fragen, die er gestellt hatte. Er hatte nicht nach der Patientin gefragt, danach, was mit ihr geschehen sein konnte, sondern nur danach, wer den Notarzt informiert hatte. Und was sie vielleicht noch gesagt hatte, das auch. Warum hatte er nach nichts von dem gefragt, was Polizisten normalerweise fragen?

Weil er weiß, was mit ihr geschehen ist. Er wusste es die ganze Zeit. Der Polizist und die Mörder stehen in Verbindung. Deswegen hatte er sie in der Wohnung angerufen, um sie zu warnen, genau in dem Moment, in dem sie den Notruf gewählt hatte.

Reden Sie nicht mit der Polizei, Doktor Bach. Reden Sie mit uns.

Er war kein falscher Polizist, er hatte nur einen falschen Namen benutzt, und jetzt wusste er, dass sie mit seinen Kollegen redete. Er war keiner von den Tätern, aber er gehörte zu ihnen. Und als er von ihr erfahren hatte, war er sofort losgegangen, um sie unter die Lupe zu nehmen, diese ganzen Informationen über sie zu sammeln – blitzschnell, innerhalb weniger Stunden – , mit denen er dann seine Kollegen gefüttert hatte: Schaut sie euch an, so eine ist das, eine Lügnerin, eine gewalttätige Frau, instabil. Eine Mörderin.