12

Die Plastikplanen knatterten im Wind wie blaue Segel, und nachdem sie das Haus lange genug beobachtet hatte, betrat sie den Hinterhof durch einen dunklen Torweg, in dem Müllcontainer mit Bauschutt und eine Zementmischmaschine die Garagenzufahrt blockierten. Sie hatte nicht nur das Haus beobachtet, sondern auch die davor abgestellten Autos und die Passanten auf beiden Seiten der Straße, und sie ging erst los, als sie sicher war, dass niemand auf sie wartete.

Der Innenhofwar klein und lag im Schatten eines alten, dicht belaubten Ahornbaums. Die Luft schien verwischt, als tanze die Stille flimmernd zwischen den erhitzten Backsteinmauern der angrenzenden Häuser. Die meisten Fenster standen offen. Auf einigen der Eisenbalkone hing Wäsche zum Trocknen. Satellitenantennen reckten ihre Kelche dem All entgegen. An den roten Fassaden rankte sich halb vertrockneter Lorbeer zu den rostigen Dachrinnen empor, über denen ein kleines Stück Himmel zu sehen war.

Es war ein Gewitterhimmel, pflaumengrau, von dem das Nachmittagslicht wie eine schwach körnige Strahlung auszugehen schien. Hin und wieder loderte ein lautloses Wetterleuchten hinten den Wolken. Der Wind roch frisch, nach fernem Regen und nur ganz schwach nach Feuerstein.

Ella entdeckte eine Aluminiumleiter am Fuß des mit den Planen verkleideten Metallgerüstes. Die Leiter führte zu den Holzplanken in Höhe des ersten Stocks, und von dort führten weitere Leitern zu den nächsten Stockwerken. Die Luft hinter den Planen war heiß und stickig; die Augustsonne hatte den ganzen Tag auf den dünnen Kunststoff gebrannt. Alles war in einen blauen Schimmer getaucht. Die Schrauben an den Eisendübeln im Mauerwerk des Hauses knirschten leise, als Ella das Gerüst bestieg, und die Holzplanken bebten unter ihren Schritten.

Auf den Brettern standen Farbtiegel und Plastikeimer mit trockenem Mörtel. In Höhe des dritten Stocks lag eine vergessene Bohrmaschine, deren Stromkabel in einem Fensterspalt verschwand. Neben den Leitern führte ein Schuttschlauch wie ein silberner Schlangenleib vom Dach in den Hof.

Als Ella das Penthouse erreichte, lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter, wo er kalt wurde, bevor er sich im Hosenbund sammelte. Die Fenster der Penthousewohnung waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Ella drückte gegen die Scheiben, vergeblich. Sie ging zu einem farbverklebten Spachtel, der ein paar Schritte weiter auf der Holzplanke lag, und als sie sich bückte, entdeckte sie das getrocknete Blut. Erst war es nur ein Fleck – klein, fuchsrot –, dann noch einer, etwas größer, und endlich fast ein halber Schuhabdruck. Es gab mehrere winzige Spritzer auf der Plane und eine Schleifspur an der Mauer. Genau an dieser Stelle hatte sich die Plane aus ihrer Halterung gelöst und flatterte am Gerüst hin und her.

Ella hob den Spachtel auf, ging zum Fenster zurück und schlug mit dem Spachtelgriff die Scheibe ein. Das Klirren des splitternden Glases schien im ganzen Hof widerzuhallen. Sie ließ den Spachtel fallen, schob die rechte Hand vorsichtig durch das dreieckige Loch und zog die hochgekippte Fensterklinke in ihre Richtung. Ihr Atem ging schnell. Sie lauschte, versuchte, ruhiger zu atmen, aber das Flattern der Plastikplanen im Wind übertönte jedes andere Geräusch.

Sie drückte das Fenster ganz auf, stieg von der Holzplanke über das Fensterbrett und kletterte in die Wohnung. Lauschte wieder. Es war dunkel und heiß so dicht unter dem Dach. Trotzdem fröstelte sie. Ein muffiger Geruch hing in der stickigen Luft. Die schweren Samtvorhänge waren noch immer halb zugezogen, sodass der große Wohnraum in Zwielicht versank.

Eine Bewegung am Boden ließ Ella zusammenzucken – kein Geräusch, nur ein Schatten, der seine Form änderte. Dann sah sie genauer hin und bemerkte eine abgemagerte Katze, die über einem Fischgerippe kauerte und sie reglos mit großen gelben Augen anstarrte. Nur der Schwanz wischte hin und her. Wo kommst du denn her? Haben sie dich hier eingeschlossen? Ella tat einen Schritt auf sie zu. Die Katze raste entsetzt davon, und plötzlich hatte Ella das Gefühl, dass die Angst der Katze ihre eigene widerspiegelte.

Denn jetzt nahm sie das ganze Bild wahr: die Scherben des zerborstenen Aquariums, die kleinen, toten Fische, umgeben von schillernden Schuppen und glitzernden Glassplittern, das alles war nicht mehr da. Es gab auch keine Blutlachen mehr auf dem Boden und keine Spritzer an den Wänden. Nicht einmal das getrocknete Wasser hatte Flecken und Ränder auf den frisch gebohnerten Ebenholzbohlen hinterlassen.

Jetzt roch Ella Bohnerwachs und frische Farbe. Kein Blut mehr, keine Kampfspuren, die Wände frisch gestrichen. Nur das Fischskelett, dünn und weißlich wie Glasnudeln, das die hungrige Katze irgendwo hervorgezerrt hatte, um es mitten im Zimmer abzunagen. Und da ein Glitzern: eine Scherbe von der zerbrochenen Fensterscheibe. Es wirkte, als wäre die Zeit zurückgedreht worden, aber nicht ganz im richtigen Moment stehengelieben.

Es ist die Stille, dachte Ella; daher kommt deine Panik, deswegen kriegst du kaum noch Luft. Auf einmal begriff sie, warum Max die Stille nicht ertragen hatte. Stille war ein Geräusch, das Atmen der eigenen Angst.

Wer hat hier aufgeräumt? Was habt ihr gesucht? Habt ihr es gefunden? Sie sah sich um. Wo sollte sie anfangen? Links von ihr befand sich ein mächtiger, rustikaler Schreibtisch, auf dem ein Computer mit einem großen Flatscreen stand, flankiert von einer Lampe mit einem Schirm aus grünem Glas auf der einen Seite und einem Telefon auf der anderen. Der Rest der Schreibtischplatte war mit Büchern und Zeitschriften in verschieden hohen Stapeln bedeckt.

Auf der anderen Seite des Raums klaffte die rußschwarze Wölbung eines provenzalischen Kamins, komplett mit Schürhaken, Holzzange und Ascheschaufel aus Schmiedeeisen. Ein Dutzend klobiger Kiefernscheite stapelte sich in einer schwarzen Marmorschale. Davor lag ein Zebrafell, das Ella vorgestern Nacht nicht aufgefallen war. Das Gemälde über dem Kamin – was für eine Verschwendung, so ein Bild über eine Feuerstelle zu hängen – war im selben Stil gefertigt wie die Bilder im Korridor, und jetzt erkannte sie, dass es sich um Gemälde der Leipziger Schule handelte.

Eine dreiteilige Sitzgruppe – zwei Sessel und eine riesige Couch, bezogen mit taubengrauem Nappaleder – blickte über das Zebrafell auf den Kamin und das Gemälde. Kein Couchtisch, keine Coffeetable Books oder Hochglanzmagazine. Die Polster der Couch und der Sessel wirkten neu und nicht ganz passend, als wären die alten aufgeschlitzt worden und hätten zu schnell ersetzt werden müssen.

Irgendwo hier muss es einen Hinweis darauf geben, was die Entführer gesucht haben, was sie wissen wollen.

Neben dem Durchgang zu dem Korridor, in dem Ella den blutbespritzten Mann gesehen hatte, stand ein Globus aus dem 18. Jahrhundert, gehalten von einem dunkel gebeizten Holzgestell. An sämtlichen Wänden reichten mit den Wänden verdübelte Bücherregale aus Ebenholz und Stahl vom Boden bis zur Decke.

Der erste Eindruck: keine Romane, nur Sachbücher, vor allem historische, juristische und wissenschaftliche Texte, Bücher über Politik und Wirtschaft – Memoiren von Willy Brandt, Winston Churchill und General de Gaulle, Biografien von Napoleon, Hitler oder Stalin. Abraham Lincoln lag neben Papst Pius XII., John F. Kennedy neben Zar Nikolaus Romanow und Pol Pot. Es gab umfangreiche Analysen alter und neuer Weltmächte, der USA, der Deutschen, der Franzosen, der Niederlande oder Spaniens.

Auf und neben dem Schreibtisch türmten sich Gesetzesbücher in verschiedenen Sprachen, Kommentare zu Straf- und Wirtschaftsrecht aus mehreren Jahrhunderten und den verschiedensten politischen Systemen. Dazwischen fanden sich Artikel und CD-Roms, etikettiert nur mit Zahlen und Buchstaben. Nach und nach entdeckte Ella in den Regalen, auf Stühlen, Holzkisten und Kartons weitere Bücher, einige davon aufgeschlagen: Das Kapital von Karl Marx, Die Rothschilds, ein umfangreiches Werk über Ökonomie und Krise, die Roaring Twenties und den Bankencrash von 1929. Il Principe von Niccolò Machiavelli schaute unter Sun Tsus Kunst des Krieges hervor, daneben lagen Abhandlungen über die Medici und die Fugger, teilweise mit handschriftlichen Anmerkungen versehen, Kommentare aus Forbes, Fortune, der Financial Times und anderen Wirtschaftszeitungen, einige zerschnitten und wieder aneinandergeklebt, zusammengesetzt wie Puzzles.

Eine Ausgabe des Spiegel lag aufgeschlagen auf dem Boden. Die Seite zeigte einen Artikel mit Foto: streng durch ihre Sonnenbrillen blickende Chinesen in schwarzen Anzügen. Darunter stand: Die Industrial Bank of China ist – gemessen an ihrem Börsenwert – die größte Bank der …

Neben dem elfenbeinfarbenen Telefon lehnte ein ungerahmtes Foto, das Ellas Aufmerksamkeit fesselte. Es zeigte zwei junge Frauen – Schwestern vielleicht oder Freundinnen –, die einander die Arme um die Schultern gelegt hatten und in die Sonne blinzelten. Im Hintergrund konnte man eine Kirche sehen. Ella brauchte ein paar Sekunden, ehe sie die Kirche als Notre-Dame erkannte. Eine der beiden Frauen hatte rotes Haar, das der anderen war blond. Ella sah das blassgoldene, wie gesponnen wirkende Haar, das in der Sonne schimmerte, und sie dachte: Das ist sie. Sie betrachtete ihre Augen, die das Lächeln des Mundes nicht teilten, sondern voller Skepsis waren, Hoffnung und Skepsis und noch etwas – eine Art nervöser Mut.

Die andere Frau war etwas jünger – ein, zwei Jahre vielleicht – und hatte ein blasses, etwas spöttisches Gesicht, die Stirn und Wangen eingefasst von dem Kupferglanz ihrer kräftigen Locken. Ella war sicher, dass es sich bei dem Mädchen mit dem goldgelben Haar um ihre Patientin handelte. Das Bild war voller Licht und Leben, die umso leuchtender wirkten, als es eine Vergangenheit zeigte, die niemals wiederkehren würde. Sie steckte das Foto in die Innentasche ihres Leinensakkos, dann sah sie sich weiter um.

Ihr Blick fiel auf ein Büchlein mit dem französischen Titel Le Crash, als ein Lichtpunkt über den Tisch huschte. Sie drehte sich um. Der Lichtpunkt flog zurück – Sonnenschein, reflektiert von einer spiegelnden Scheibe. Ella lief zum Fenster, spähte hinaus. Da, wo sich die Plane gelöst hatte, konnte man das Haus auf der anderen Seite des Hofes sehen.

Über den Dächern lag jetzt das fließende Schimmern eines Regenbogens. Späte Sonnenstrahlen stießen durch die Wolken und lösten das Wetterleuchten ab. Eine der Balkontüren ging langsam im Zugwind auf und zu, auf und zu, und in einem bestimmten Winkel warf das Fenster einen blendenden Blitz in den Hof.

Da passiert etwas Schreckliches gegenüber – alles ist voller Blut! – Sie stirbt – sie stirbt – Mein Gott, ich glaube, das war ein Messer! – es ist gegenüber – gegenüber – ich kann es sehen –

Ella veränderte ihre Position, zog den Vorhang ein Stück beiseite. Von welchem Fenster aus konnte man die Wohnung sehen? Wo hatte der Anrufer gestanden? Sie ging durch den ganzen Raum, und dabei ließ sie den Blick nicht von den Balkonen des gegenüberliegenden Hauses. Wo bist du, anonymer Anrufer? Beobachtest du mich gerade?

Die blitzende Tür ging zu und nicht wieder auf. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm Ella eine Bewegung wahr, die Umrisse einer Gestalt, dann wurde rasselnd eine Jalousie heruntergelassen. Das Rasseln war so laut, dass Ella das andere Geräusch hinter sich in der Wohnung erst gar nicht bemerkte.

Es war ein leises Kratzen, unregelmäßig und leise. Aber beständig, leise und beständig. Erst als es lauter wurde, erkannte Ella, dass es sich nicht um ein Kratzen, sondern um ein Klirren handelte, Metall auf Metall. Sie hielt den Atem an, um zu lauschen.

Jemand war an der Wohnungstür. Jemand versuchte das Schloss zu öffnen.

Ella starrte in den Korridor, der zum Eingang des Penthouses führte. Das Klirren hörte auf. Die Stille schien sich noch enger um sie zusammenzuziehen. Kein Wasserhahn, der tropfte. Nicht einmal das Ticken einer Uhr. Ella sah, wie die Tür sich öffnete; wie der Mann eintrat, nur ein Umriss, eine Schattengestalt, die auf der Schwelle verharrte. Er blickte nicht in ihre Richtung. Sie stand reglos, wie gelähmt.

Er brauchte nur in die Wohnung zu treten, die Tür zu schließen, und dann war alles wie vorgestern Nacht, als er das Mädchen gefoltert hatte: Er hüllte sich in Zellophan, um seine Kleidung vor dem spritzenden Blut zu schützen; er zog sein Messer; er sagte vielleicht, Doktor Bach? Wo sind Sie, Doktor Bach? Ich komme, Doktor Bach, so wie sie es als Kinder beim Versteckspielen gerufen hatten.

Auf Zehenspitzen schlich sie zum Kamin, Gott sei Dank hatte sie Turnschuhe an. Sie packte den langen Schürhaken aus schwarzem Schmiedeeisen, nahm ihn lautlos vom Ständer und zog sich langsam zurück, weg vom Kamin, aus dem Wohnraum, in den dunklen Gang, der zu den anderen Zimmern führte. Jetzt konnte sie den Mann nicht mehr sehen, jetzt konnte sie ihn nur hören, seine Schritte, als er genauso langsam wie sie in die Wohnung vordrang.

Sie stieß gegen einen harten Gegenstand, etwas bohrte sich in ihre Hüfte. Mit der freien Hand griff sie hinter sich, ertastete Holz, eine Kommode. Sie schob sich an der Kommode entlang, rückwärts, lautlos. Ihre rechte Faust umklammerte den Griff des Schürhakens, er war schwer, sie umklammerte ihn so fest, dass die Finger schmerzten.

Der Mann erschien wieder in ihrem Blickfeld. Er schaute auf den Boden, dann zum Fenster. Nicht zu ihr. Er ging und blieb stehen, ging weiter und blieb neuerlich stehen. Er war groß und schlank, aber sein Gesicht konnte sie in dem Zwielicht nicht erkennen, nur seine Figur. Er trug eine Lederjacke, Blousonstil, ausgewaschene Jeans, Sneakers, und er hielt etwas in der Hand, das aufblinkte, wenn er sich bewegte.

Ella schluckte trocken. Sie atmete, aber sie bekam nicht genug Luft.

Neben ihr war jetzt eine angelehnte Tür. Dahinter schwaches Licht. Der Geruch von Parfum, Puder und Badeessenzen drang aus dem Raum. Geh da nicht rein, da sitzt du in der Falle. Sie bewegte sich immer noch rückwärts, leise, dicht an die Wand geschmiegt, zur nächsten Tür: die Küche, ein großer, heller Raum, ganz Edelstahl und Tropenholz, der Herd in der Mitte, groß wie eine Tischtennisplatte, daneben ein Racket mit Messern aller Arten, und überall baumelten Pfannen und Töpfe von schimmernden Stangen und Haken.

Sie huschte an der offenen Tür vorbei, durch den schwachen Lichtschimmer, vom Hellen wieder ins Dunkle. Rannte gegen einen schweren Stuhl, den sie zu spät bemerkte; ein brennender Schmerz in der Kniescheibe schoss hoch bis in den Unterleib. Sie schrie nicht, zog nur scharf die Luft ein; hielt sie an, bis der Schmerz abebbte.

Kein Geräusch, kein Laut.

Der Mann war noch immer im Wohnraum, hinter ihr, vor ihr, und noch immer hatte er sie nicht entdeckt, oder er spielt mit dir, er tut nur so, als wärst du nicht da, als wüsste er nicht, dass du da bist, und plötzlich steht er neben dir, kalt und nah, und du musst schneller sein, schneller als er, ihm immer einen Schritt voraus.

Bleib in Bewegung.

Hier hinten gingen die Räume ineinander über – Bögen und Spanische Wände statt Türen, nur wenige ausgesuchte Möbelstücke. Abendlicht fiel durch halb zugezogenen Tuchrollos, die sich wie hellgraue Hängematten unter schrägen Dachfenstern bauschten. Neben einem übergroßen Bett – ungemacht, roséfarbene Seidenbettwäsche – stand ein kubusförmiger Nachttisch, bemalt mit rotem Chinalack. Das weitläufige Schlafzimmer führte zum Esszimmer mit einem langen Kirschholztisch, und vom Esszimmer gelangte man wieder in den Wohnraum durch einen schmalen Bogengang, den Ella erst jetzt entdeckte.

Sie hörte, wie im Wohnraum Glas knirschte, jetzt war er in eine Scherbe getreten. Dann ein Moment Stille. Was machte er gerade? Etwas später erklangen neuerlich Schritte, näher diesmal. Er kam näher, aber von wo, von links durch den Gang, oder von rechts, durch das Esszimmer?

Der Mann gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein, seine Turnschuhe knirschten auf dem Holzboden, der Fensterglassplitter, der sich in die Sohle gebohrt haben musste. Das Knirschen kam näher, links, es kam von links. Ella hob den Schürhaken, ging nach rechts, leise, bewegte sich weg vom Korridor, leise, ins Esszimmer, aber auf einmal blieb er wieder stehen, und sie musste auch stehen bleiben, und da fiel ihr Blick auf die Vorhänge, die in schwarzen, matt glänzenden Falten vor den Fenstern hingen.

Mit der freien Hand berührte sie den schwarzen, brokatähnlichen Stoff. Er reichte, von Bleikügelchen im unteren Saum beschwert, bis zum Boden. Hastig schlüpfte sie hinter den Vorhang. Sie presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Faust um den Schürhaken geballt. Der schwere Brokatstoff schmiegte sich warm und glatt an ihr Gesicht. Ein staubiger Geruch nahm ihr den Atem, kitzelte ihren Gaumen.

Die Schritte kamen näher, knirschend. Jetzt war der Mann im selben Raum wie sie, sie konnte ihn spüren, seine Nähe. Er kam näher und blieb auf der anderen Seite des Vorhangs stehen, so dicht, dass sie glaubte sein Herz schlagen zu hören. Es hämmerte gegen ihr Zwerchfell, schnell wie ihr eigenes, und dann begann er zu sprechen.

Zuerst dachte sie wirklich, er rede mit ihr, er hätte sie entdeckt. Obwohl sie nicht verstand, was er sagte, weil der Vorhang seine Stimme dämpfte. Es ist vorbei, alles ist aus, du bist tot. Sie presste die Lippen zusammen. Ein kleiner Muskel in ihrem Bauch zitterte. Warum reißt er den Vorhang nicht beiseite? Was sagt er? Ist das Deutsch?

Sie lauschte angestrengt.

»C’est moi – oui, Dany… à Berlin … dans l’appartement … elle n’est pas là … non, je’n sais pas …« Seine Stimme war jung, und er sprach Französisch, genau wie die verschwundene Frau. »Non … non … peut être elle est … oui, je crois …«

Er telefonierte. Er sprach gar nicht mit ihr, er redete in ein Handy. Sie wollte, dass das Zittern in ihrem Bauch aufhörte und bewegte das rechte Bein, und da war die Katze, und die Katze fauchte, und dann schrie Ella. Sie stürzte und sprang gleichzeitig, riss den Vorhang aus der Schiene an der Decke und fiel damit gegen den Mann, der ebenfalls stürzte.

Sie verhedderte sich in dem Stoff, der Schürhaken wurde ihr aus der Hand geprellt. Die Katze kratzte und warf sich in den Vorhangfalten hin und her. Der Mann rief etwas auf Französisch, es klang überrascht und zornig. Er schlug nach Ella, aber der Stoff dämpfte den Schlag, und dann schüttelte sie den Vorhang ab und kam auf die Beine. Sie lief los, stolperte und fing sich wieder, lief durch den Gang und das Wohnzimmer und den Korridor zur Tür. Sie riss die Tür auf, stürzte ins Treppenhaus und rannte die Stufen hinunter, und die ganze Zeit dachte sie, der Mann wäre dicht hinter ihr.

Aber das war er nicht.