»Bist du noch zu retten?!«, rief Annika ins Telefon. »Willst du, dass sie auch diese Nummer erfahren? Wo bist du gerade?«
»In meinem Wagen«, sagte Ella. »Vor dem Haus.«
»Was hast du vor?«
»Ich rufe die Polizei.«
»Gibt es eine Telefonzelle in deiner Nähe?«
»Ich seh keine.«
Als der Mann aus der Tür und unter dem Gerüst hervortrat, fotografierte Ella ihn mit ihrem neuen Handy. »Da ist er«, sagte sie.
»Was tut er?«, fragte Annika.
»Nichts. Er geht die Straße lang.«
»Geh ihm nach, aber sei vorsichtig. Irgendwann spürt man es, wenn man verfolgt wird. Man kriegt so ein Gefühl für den fremden Blick, der auf einen gerichtet ist, so ein Ziehen zwischen den Schulterblättern.«
»Woher weißt du so genau darüber Bescheid?«
»That’s another sad story«, sagte Annika. »Ich erzähl sie dir, wenn wir uns sehen. Aber inzwischen weiß ich mehr über solche Sachen, als mir lieb ist.«
Ella stieg aus dem Wagen, sperrte ihn ab und folgte dem Mann zur Ecke. Er wandte sich nach rechts in die Kreuzbergstraße. Sie ging ihm nach, das Handy in der linken Hand. Sie hielt genügend Abstand, ging schneller, wenn der Mann schneller ging, und wenn er stehen blieb, blieb sie auch stehen. Es war jetzt schon dunkel, nur noch einige rote Streifen am Himmel. Die Straßenlaternen brannten, aber ihr Licht reichte nicht bis auf den Asphalt, wo die roten Rücklichter der Autos in der feuchten Hitze des Abends zu flirren schienen. Ella achtete darauf, dass immer etwas zwischen ihr und dem Mann war – andere Passanten, ein Baum, ein Wagen.
»Hast du irgendjemand außer mir mit dem neuen Handy angerufen?«, fragte Annika. Ihre Stimme in dem Ohrstöpsel klang sehr nah, aber immer noch anders, nach etwas Fremdem in ihr. Vielleicht lag es daran, dass sie so lange nichts voneinander gehört hatten, dachte Ella. Sie sagte: »Nein, nur dich, damit du die Nummer hast.«
»Gut.« Annika schien sich vom Hörer zu entfernen. »Ruf mich besser auch nicht mehr an, nur für den Fall, dass dieses Telefonat mitgehört wird und jemand meinen Anschluss überwacht. Ich melde mich bei dir, wenn ich in Berlin bin.«
Ella wechselte die Straßenseite, um nicht ununterbrochen hinter dem Franzosen zu gehen. Sie überholte ihn mit abgewandtem Gesicht und ließ ihn dann langsam kommen, ehe sie ihm wieder folgte. Mit der freien Hand hob sie das kleine Mikro ihres Headsets vor den Mund, um einen Teil ihres Gesichts zu verbergen.
»Eigentlich finde ich Beerdigungen zum Kotzen, aber wenn’s der eigene Bruder ist, muss man ja wohl hingehen«, sagte Annika, und wieder erklang das Scheppern eines halb vollen Tablettendöschens. »Ich weiß, es war meine Schuld, dass wir solange nichts voneinander gehört haben, und irgendwann demnächst werde ich dir erklären, warum ich auch Max zum Stillschweigen verdonnert habe, aber …«
Der Franzose sah sich nicht um. Sein dunkelblondes Haar flatterte im Wind, und es tauchte immer wieder vor Ella auf, zwischen zwei Köpfen, über anderen Schultern, in den gelben Kegeln der Straßenlaternen, sodass sie ihm einen Vorsprung lassen konnte und ihn trotzdem nicht aus den Augen verlor. Die frühe Dunkelheit schützte sie; die Passanten, die sich unermüdlich allein, zu zweit oder in Gruppen über die belebten Trottoirs bewegten, schützten sie; die Kellner, die an den im Freien stehenden Tischen vor den Bars und Cafés servierten, schützten sie.
»Aber?«, fragte Ella.
»Du hast mir gefehlt«, sagte Annika. Ihr Atem ging jetzt schneller, die Worte kamen gepresst, als wäre ihre Kehle eine Faust. »Ich muss – hör mal, dein Wagen, den musst du auch loswerden. Fährst du noch das Cabrio? Wenn sie dich überprüft haben, wissen sie das. Sei ja vorsichtig. Bitte!« Am anderen Ende der Leitung schien etwas zu Boden zu fallen, ein scharfes Knacken ertönte, und dann war die Verbindung unterbrochen.
»Anni?!«
Der Ohrstöpsel blieb stumm. Ella zog ihn heraus, und ohne die Augen von dem flatternden blonden Haar zu lassen, holte sie noch einmal das Foto des Franzosen auf das Handy-Display und zoomte auf sein Gesicht. Sie fand, dass er eigentlich nicht wie ein Mörder aussah. Seine Miene zeigte nicht die gefühllose Maske eines Raubtiers, sondern eher Beunruhigung, sogar Sorge.
Sie klappte das Handy zu. Welcher Mörder sieht schon wie ein Mörder aus. Der Mann näherte sich einer Pizzeria und blieb vor dem Aushang mit der Speisekarte stehen. Ein paar Raucher saßen an kleinen viereckigen Tischen, und das Essen sah gut aus, aber er ging nicht hinein. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er holte sein Handy heraus und klappte es auf, steckte es dann jedoch wieder ein, ohne zu telefonieren. Einen Moment lang fürchtete sie, er könnte sich umdrehen und sie entdecken; sie einfach ansehen.
Irgendwann spürst du es, wenn du verfolgt wirst. Sie wartete, bis er die nächste Straße überquerte, ließ ihm einen Vorsprung. Als sie die Pizzeria erreichte, blieb sie ebenfalls stehen. Der Tisch vor ihr war gedeckt, aber unbesetzt. Schnell griff sie nach einem der scharfen Pizzamesser neben den Tellern, steckte es in die Jackentasche und ging weiter.
In der Luft hing der Geruch von Knoblauch und gedünsteten Tomaten. Sie dachte daran, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie war von der Charité zum Hauptbahnhof gefahren, um sich das neue Handy zu besorgen, und während sie darauf wartete, dass der Laden öffnete, hatte sie in einem Backshop gefrühstückt.
Nach dem Frühstück hatte Ella das viel zu teure Fotohandy gekauft und dann in einem anderen Laden frische Unterwäsche, zwei Paar Strümpfe und einige T-Shirts. In einer Drogerie hatte sie einen Deostick, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Parfüm und eine Packung Tampons erstanden. Anschließend hatte sie alles auf dem Boden hinter den Sitzen des Karmannn verstaut, den Wagen in einer Seitenstraße in Kreuzberg geparkt und mit angezogenen Beinen auf den beiden Vordersitzen geschlafen. Als sie einige Stunden später aufgewacht war, hatte sie in einem Internetcafé die Namen gegoogelt, die gestern Nacht bei dem Verhör im LKA gefallen waren: Dr. Randolph Freyermuth, der Patentanwalt, und seine Tochter Sonja. Sie hatte sich die Adresse und Telefonnummer seiner Berliner Kanzlei notiert, außerdem den Namen der Schweizer Universität, an der seine Tochter studierte.
Annika hatte sie erst angerufen, nachdem sie aus der Wohnung gerannt war, in der Sicherheit ihres Wagens, der vielleicht längst keine Sicherheit mehr bot.
Ella wunderte sich, wie selbstverständlich Annika mit alldem umging, als kümmerte sie ihr eigener Schmerz nicht. Verlust, die traurigen, schmerzlichen Dinge waren schon immer etwas gewesen, mit dem sie sich an irgendeinen dunklen Ort zurückzog, etwas, das kein Tageslicht und keine Gesellschaft vertrug. Dort, an diesem einsamen Ort, betrachtete sie es, drehte es hin und her, und wenn es nötig war, kämpfte sie damit, bis es sich nicht mehr regte. Danach kehrte sie als Siegerin zurück, gereinigt, klar und sprühend vor guter Laune.
Der Franzose blieb wieder stehen. Er sprach eine junge Frau an, die in Richtung Mehringdamm deutete, dann ging er weiter. Er ging ohne Eile. Er verharrte vor einer Eisdiele, einem Gemüseladen, schaute in die Auslagen eines grell bunten Ladens für Kinderbekleidung. Ella hielt sich hinter einer Gruppe von Jugendlichen in schwarzen Lederklamotten voller Nieten und Reißverschlüsse, Jungen und Mädchen, die sich im Gehen ihre Handys zeigten, laut lachten und auf den Bürgersteig spuckten. Ihr Haar war mit Gel zu korallenroten, kurzen Stacheln geformt. Sie rauchten Joints und rempelten sich gegenseitig an, aber sie waren eine gute Deckung, und das flatternde blonde Haar ging nicht verloren.
Der Franzose erreichte die Ecke zum Mehringdamm. Er blieb stehen, und als ein Taxi auftauchte, hob er die Hand und winkte. Einen Herzschlag lang fürchtete Ella, dass sie ihn verlieren könnte, aber das Taxi fuhr weiter. Der Franzose wandte sich nach links, und Ella folgte ihm ohne Innehalten. Sie hatte das Handy in die linke Tasche geschoben, in der rechten steckte das Messer. Sie tastete immer wieder nach der Schneide, als wollte sie prüfen, ob es auch scharf genug war. Sie wusste nicht, was sie mit dem Messer vorhatte, nicht einmal, warum sie auf den Gedanken gekommen war, es einzustecken.
Sie gingen jetzt die dicht befahrene Straße hinunter zur Gneisenaustraße. Das blaue U-Bahn-Schild ragte über den Abgasnebel in den geröteten Nachthimmel. An den Ampeln stauten sich die Autos, und vor der 24-Stunden-Currybude und dem Dönerstand drängten sich die United Colours of Benetton, Alt und Jung, aber alle hungrig. Ein Linienbus schob sich langsam die Steigung herauf und nebelte das ganze Trottoir mit seinem Dieselruß ein. Auf der anderen Seite der Kreuzung steckte ein Polizeiwagen mit blitzendem Blaulicht in der Blechlawine fest.
Der Franzose erreichte die Fußgängerampel und blieb vor dem bunten Geflacker eines rund um die Uhr geöffneten Internetspielcasinos stehen. Eine junge Frau im Zigeunerlook sprach ihn an, und er schüttelte den Kopf. Er ließ das Mädchen stehen und lief die Stufen zur U-Bahn-Station hinunter. Er hat dich entdeckt, schoss es Ella durch den Kopf.
Sie hatte keine Zeit, einen anderen Eingang zu nehmen, auch nicht, eine Fahrkarte zu lösen. Sie stürzte dieselbe Treppe hinunter wie er, gerade als ein Zug der Linie U 6 Richtung Alt-Tegel einfuhr. Der Franzose stand am Bahnsteig, nur wenige Meter von ihr entfernt, aber er achtete auf die heranrollenden gelben Wagen, nicht auf sie. Als der Zug hielt, stieg er ein, und Ella schaffte es in denselben Waggon, bevor die Türen sich wieder schlossen.
Der Franzosen stand mit dem Gesicht zu ihr am anderen Ende des kurzen Wagens und sah zu dem Bildschirm an der Decke hinauf, über den Werbung und Zeitungsschlagzeilen liefen. Alle Plätze auf den bunt gepolsterten Bänken waren besetzt, deswegen blieb Ella ebenfalls stehen. Sie waren die beiden einzigen Fahrgäste, die standen. Sie holte ihr Handy heraus, klappte es auf und tat so, als tippe sie eine SMS, das Gesicht hinter den herabfallenden Haaren verborgen.
Mit einem Ruck fuhr der Zug an und beschleunigte so stark, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Sie griff nach einer Haltestange. Die Dunkelheit in der Gleisröhre schlug über dem Waggon zusammen. Das Rattern der Räder wurde von den Tunnelwänden gegen die mit gezackten Graffiti verzierten Fenster geworfen. Ella sah von ihrem Handy auf, tat so, als mustere sie die anderen Fahrgäste: drei junge Männer mit Sporttaschen und Rucksäcken zwischen den Füßen, eine ältere Frau mit einem Regenmantel über dem Schoß, zwei kichernde Japanerinnen mit Coffee-to-go-Bechern in den Händen, ein Geistlicher, ein Mann mit einem Metallaktenkoffer, ein Mädchen mit Brille im weißen Tennisdress, roter Staub an den Turnschuhen, auf den Oberschenkeln ein mit Klebeband reparierter Schläger. Einige lasen Zeitung, ein paar starrten auf ihre Handys oder wechselten die Musik auf dem iPod, andere schauten auf den Boden oder aus den Fenstern, obwohl es dort nichts zu sehen gab.
Als der Zug in die nächste Station einfuhr, blickte Ella wie zufällig zu dem Franzosen am anderen Ende des Wagens hinüber. Er schaute nicht mehr zu dem Monitor an der Decke hoch, sondern sah ihr direkt in die Augen. Sie hielt seinem Blick einige Sekunden stand, dann schaute sie aus dem Fenster auf den heranfliegenden Bahnsteig.
Der Zug hielt. Die Japanerinnen stiegen kichernd aus, dafür kamen zwei U-Bahn-Polizisten mit einem angeleinten Schäferhund herein, und in letzter Sekunde drängte sich noch ein Skinhead mit einer Bierdose in der Hand durch die Türen. Etwas Bier spritzte aus der Dose auf den Boden, aber niemand kümmerte sich darum.
Der Zug fuhr an, und Ella sah wieder zu dem Franzosen hinüber. Er starrte sie noch immer an. Er schwankte leicht im Rhythmus des Wagens, genau wie sie. Sie schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Warum warst du in der Wohnung?, dachte sie. Wer bist du? Was gibt es für eine Verbindung zwischen dir und dem entführten Mädchen? Sie wandte ihm den Rücken zu und wartete bis zur nächsten Station, ehe sie sich wieder umdrehte. Er stieg nicht aus. Er ließ sie nicht aus den Augen.
Du musst ihn auch ansehen. Zeig ihm, dass du keine Angst hast. Dass er dich nicht einschüchtern kann.
Die U-Bahn-Polizisten verließen den Waggon wieder, und das Mädchen im Tennisdress stieg auch aus. Niemand stieg zu, und Ella dachte, was ist, wenn alle anderen aussteigen und nur wir beide sind noch im Zug? Was passiert dann? Vorsichtig, um sich nicht zu schneiden, schob sie die Hand zu dem Messer in die Jackentasche. Betastete die scharfe Klinge, die nadelfeine Spitze sacht mit dem Daumen. Der Skinhead setzte die Bierdose an den Mund, trank und rülpste.
Die nächste Station war Stadtmitte. Der Franzose beugte sich vor und spähte durch die Fenster nach draußen, breitbeinig wie ein Seemann ohne sich festzuhalten. Als der Zug hielt, drückte er den Öffnen-Knopf. Er stieg aus, und gleich darauf befand sich auch Ella auf dem Bahnsteig und ging wieder hinter ihm her. Er nahm den Ausgang zur Friedrichstraße. Im Gewimmel der Menschen folgte sie ihm nach oben.
Rechts und links vom U-Bahnausgang erhoben sich arrogante Neubauten, Geschäftshäuser mit kupferfarben verspiegelten Fenstern in Sandsteinfassaden, schrankengesicherten Tiefgaragen, kalt leuchtende Bars, Designershops und durchgestylte Fast-Food-Restaurants für die gestresste Laufkundschaft. Der Franzose ging schneller, als wüsste er wieder, wo er war. Ella hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Um sie herum spielte jetzt das bunte, lärmende Boulevardstück Sonntagabend in Berlin, Menschen auf den Trottoirs, an den Tischen der Cafés und Bars, auf Fahrrädern und in Autos und Bussen. Noch vor zwei Tagen war sie eine von ihnen gewesen, Teil dieser bunten Inszenierung, die ihr auf einmal so fremd vorkam wie der Alltag auf einem unbekannten Planeten.
Der Franzose bog in die überdachte Zufahrtsbucht des Hilton Berlin gegenüber vom Dom, und als er sich der Drehtür näherte und der Lichterglanz des Hotelfoyers auf sein Gesicht fiel, dachte sie noch einmal, dass er eigentlich nicht aussah wie ein Mörder.