Aus der automatischen Drehtür trat Ella in die klimatisierte und von leise perlender Klaviermusik erfüllten Lobby des Hotels. Über Marmor und weiche Teppiche schritt sie durch eine Fünfsternekulisse, vorbei an Farnen, Säbelzahnpalmen und anderen exotischen Pflanzen in Jugendstiltöpfen. Die ganze Halle war dekoriert mit weichen Sitzgruppen, sanft plätschernden Springbrunnen, weitläufigen Treppen und kleinen Boutiquen, die in schimmernden Vitrinen erlesenen Luxus anboten. Auf einer Empore, zu der eine breite Treppe hinaufführte, spielte ein Pianist im Anzug Someone to watch over me, und livrierte Pagen eilten lautlos aus den Gängen durch das lichte, weitläufige Foyer wie Statisten für das Schauspiel an- und abreisender Gäste aus fernen Ländern, sorgfältig verkörpert von ausgewählten Chinesen, Indern, Amerikanern und Arabern mit ihren Frauen und Kindern.
Sie entdeckte den Franzosen an der Rezeption im Gespräch mit dem Concierge, der bedauernd den Kopf schüttelte. Dann ging er weiter zu den Fahrstühlen im Hintergrund, wo er einen soeben mit einem sanften Ping! gelandeten Lift betrat, ohne sich noch einmal umzuschauen. Hinter ihm dirigierte ein fülliger Ägypter mit einem reich bestickten Hemd, das bis fast zu den Knien über seine schwarze Hose hing, einen kleinen Jungen und zwei von Kopf bis Fuß verschleierte Frauen in die Kabine. Ella schob die rechte Hand wieder zu dem Messer in der Jackentasche, umklammerte den Griff und schloss sich der Familie an.
Der Ägypter drückte den Knopf für die fünfte Etage. Der Knopf für die dritte leuchtete bereits. Ella stand dicht neben dem Franzosen, der sie erst jetzt bemerkte. Seine Augen weiteten sich überrascht, und er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber offensichtlich anders. Jetzt betrachtete sie ihn genauer: schiefergraue Augen, grau wie das Meer an bedeckten Tagen, wenn das Licht am Wasser abzuprallen schien. Bräunliche, etwas spröde Lippen über einem festen Kinn. Blondes Haar, nur ein paar sonnengebleichte Strähnen.
In der dritten Etage verließ er den Lift, und Ella stieg ebenfalls aus. Leer und gut beleuchtet erstreckte der Gang sich vor ihnen. Als die Türen sich wieder geschlossen hatten, drehte der Franzose sich zu ihr um und trat dicht an sie heran. Ehe er etwas sagen oder tun konnte, zog Ella das Messer aus der Jackentasche und drückte ihm die Spitze einen Zentimeter oberhalb des Nabels in den Bauch, gerade tief genug, dass sie spüren konnte, wie seine Muskeln sich spannten. »Nicht bewegen«, sagte sie. »Sprechen Sie Deutsch?«
»Ja.«
»Wir gehen jetzt zu Ihrem Zimmer. Wohnen Sie allein?«
»Ja.«
»Sie gehen voraus.« Sie ging dicht hinter ihm und ließ ihn ständig die Spitze des Messers spüren, das sie tief in den Ärmel gezogen hielt. Eine Überwachungskamera konnte nicht erfassen, was passierte.
»Wer sind Sie?«, fragte er mit einem schwachen Akzent. »Was wollen Sie von mir?«
Sie antwortete nicht.
»Waren Sie das vorhin in der Wohnung?«
Sie sagte noch immer nichts, verstärkte nur kurz den Druck des Messers. »Das ist doch lächerlich«, sagte er.
»Warum lachen Sie dann nicht?«, fragte Ella, und dabei dachte sie, du verhältst dich wie Annika. Jedenfalls stellte sie es sich so vor.
Sie behielt die Türen zu beiden Seiten des Korridors im Auge, niemand betrat den Gang. Vor dem Zimmer mit der Nummer 37 blieben sie stehen.
»Ich hole jetzt meine Chipkarte heraus«, sagte der Franzose. Er griff in die Tasche, schob das Plastikkärtchen ins Schloss.
Ella sagte: »Sie gehen voran. Kein Licht!« Sie hielt das Messer weiterhin gegen seinen Rücken gepresst. Im Eintreten spähte sie an ihm vorbei in den Raum, der nur durch vom Gendarmenmarkt einfallenden Lichtschein erhellt wurde. Sie schloss die Tür und schob den Franzosen aus dem Eingangsbereich weiter ins Zimmer. »Und jetzt?«, fragte er.
»Setzen Sie sich dahin«, sagte Ella und deutete mit der freien Hand auf die Bettkante. Er gehorchte mit einem Schulterzucken. Sie ging zum Fenster und sah hinaus auf den Platz. Das Licht von den Scheinwerfern am Dom und dem Konzerthaus unter dem Fenster reichte bis zum Bett. »Und jetzt sagen Sie mir, wer Sie sind und was Sie hier machen«, erklärte sie.
»Mein Name ist Schneider – Daniel Schneider«, antwortete der Mann, und die Endung des Nachnamens klang wie das ä in Ähre. »Ich suche meine Schwester. Und wer sind Sie? Sind Sie die Freundin von Mado?«
»Wer ist Mado?«
»Meine Schwester, Madeleine. Mado.«
»Sie waren in der Wohnung, weil Sie Ihre Schwester suchen?« Ella wandte dem Fenster den Rücken zu, um den Franzosen besser im Auge behalten zu können.
Er legte die Hände nebeneinander auf seine Oberschenkel, als wollte er, dass sie sie sehen konnte. Er hatte schlanke, aber kräftige Finger, die zweifellos zupacken konnten. Die Hände eines Mannes, der sich zu wehren wusste, wenn es darauf ankam. »Kennen Sie Mado?«
»Ich kannte sie«, sagte Ella vorsichtig und immer noch nicht bereit, das Messer wegzulegen.
Er beugte sich vor. »Eben in der Wohnung – haben Sie gedacht, ich wäre ein Einbrecher?«
Sie antwortete nicht.
»Warum sind Sie mir gefolgt?«
»Weil ich wissen wollte, wer Sie sind.«
»Und wer sind Sie?«
»Ella Bach. Ich bin Ärztin.«
»War Mado Ihre Patientin?«
»Ja.«
»Was ist mit ihr? Wo ist sie?«
»Das möchte ich auch wissen. Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Vor einem Monat.«
»Hier in Berlin?«
»In Paris.«
»Und wann hatten Sie beide das letzte Mal Kontakt?«
»Vor drei Tagen. Sie hat mich angerufen und gebeten zu kommen.« Er schwieg einen Moment. »Es ging nicht schneller. «
»Haben Sie ein Foto von ihr?«, fragte Ella. »Das Sie mir zeigen können?«
»Haben Sie immer ein Foto von Ihrer Schwester bei sich?«
»Ich habe keine Schwester.« Ella holte das Foto aus ihrer Sakkotasche und legte es neben ihn auf die Bettdecke. »Ist sie das?«
Er betrachtete das Foto. Dann fragte er: »Kann ich das Licht anmachen?« Sie nickte. Er beugte sich zu einer Konsole mit mehreren Knöpfen neben dem Kopfende des Betts. Die Nachttischlampe ging an. Der Raum schien auf einmal kleiner zu werden, die Nacht vor dem Fenster wurde dunkler. Er betrachtete das Foto und nickte. »Das rechts ist Mado. Die andere kenne ich nicht. Aber wenn Sie ihre Ärztin sind, müssten Sie doch wissen, wie sie aussieht.«
»Ich wollte sichergehen, dass Sie wissen, wie sie aussieht«, sagte Ella.
Er sah weiter auf das Bild, als könnte es die Antworten geben, die Ella ihm nicht gab. »Was hatte Mado? Weswegen war sie bei Ihnen in Behandlung? Was für eine Ärztin sind Sie?«
Ella zögerte. Sie fragte sich, ob er die Wahrheit ertrug. Dann fragte sie sich, ob er selbst die Wahrheit gesagt hatte; ob er wirklich nicht wusste, was vorgefallen war.
Als spürte er ihre Zweifel, lächelte er plötzlich. »So schlimm kann es doch nicht sein«, sagte er.
»Ihre Schwester ist schwer verletzt worden«, sagte Ella. »Ich bin Notärztin, und als ich sie gefunden habe, hing ihr Leben an einem Faden. Ich habe sie reanimiert und in eine Klinik gebracht. Von dort ist sie verschwunden. Das war vor zwei Nächten. Seither suche ich sie.«
»Mado?« Das Lächeln blieb noch einen Moment auf seinen Lippen, bevor es aufhörte, ein Lächeln zu sein. »Wie ist sie verletzt worden? Wobei?«
»Jemand hat sie überfallen. In der Wohnung ihrer Freundin. «
Er sagte nichts. Jetzt lächelten auch seine Augen nicht mehr. Einige Sekunden lang schien er die Gedanken hinter seiner Stirn zu ordnen, dann fragte er: »Aber wenn es ihr so schlecht ging, wie konnte sie dann einfach aus der Klinik verschwinden?«
»Sie ist wahrscheinlich entführt worden.« Seine Überraschung ist echt, seine Angst auch. »Von demselben Mann, der sie in der Wohnung überfallen hat. Er muss dem Notarztwagen gefolgt sein.«
Mados Bruder starrte sie an, ohne etwas zu sagen. Dann fragte er: »Haben Sie die Polizei informiert? Wird nach Mado gesucht?«
Ella zögerte wieder. »Der Mann oder die Männer, die sie überfallen und entführt haben«, sie legte das Messer auf den Couchtisch bei der kleinen Sitzgruppe, denn plötzlich wurde ihr klar, wie es aussah, wenn sie es weiter in der Hand behielt, »dieselben Männer haben auch meinen besten Freund getötet. Sein Name war Max. Er hat mir assistiert, als wir Ihre Schwester gefunden haben. Das Problem ist, die Polizei glaubt nicht an die Existenz dieses Mannes. Nur ich habe ihn gesehen. Er war noch in der Wohnung, als Max und ich dort eingetroffen sind. Und deswegen sind sie jetzt auch hinter mir her.«
Sie wunderte sich, wie unglaubwürdig das klang, wenn sie es so sagte, eine fantastische Geschichte aus dem Mund einer Frau, die ihn eben selbst noch mit einem Messer bedroht hatte.
»Und Sie wissen nicht, wer sie sind – diese Männer?«, wollte er wissen.
»Um das herauszufinden, war ich ja vorhin noch einmal in der Wohnung«, erklärte sie. »Ich dachte, vielleicht entdecke ich einen Hinweis darauf, was sie gesucht haben oder warum sie Ihre Schwester so – « Sie unterbrach sich, suchte wenigstens jetzt nach den richtigen Worten. »Sie sah – sie war schrecklich zugerichtet.«
»Und als ich in der Wohnung auftauchte, dachten Sie, ich gehöre dazu? Ich wäre einer von denen?« Er stand auf und sah aus dem Fenster. In Ella erwachte wieder das Misstrauen. Wie konnte er so ruhig bleiben? Mit dem Rücken zu ihr fragte er: »Was glaubt die Polizei?«
Als sie nicht antwortete, präzisierte er: »Wenn sie nicht an die Existenz der Männer glaubt, woran glaubt sie dann? Meine Schwester ist verschwunden – gut, sie hat nicht hier gelebt. Aber wer soll Ihren Kollegen getötet haben?«
»Ich«, sagte Ella leise. »Sie denken, dass ich es war. Sie denken, ich hätte erst Ihre Schwester getötet und dann Max, weil sie seine Geliebte gewesen sei – die Geliebte meines Freundes.«
Jetzt drehte er sich um und sah sie an. »Ich glaube Ihnen«, sagte er. »Ich glaube an die Männer.«
»Warum?«
»Weil Mado mich angerufen hat«, antwortete er, »und weil sie Angst hatte – Todesangst –, und das war nicht die Angst vor einer Nebenbuhlerin. Es war etwas anderes, etwas, das mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Sie wollte es mir nicht sagen – nicht am Telefon, nicht per E-mail –, aber ich habe gemerkt, dass es für sie ungeheuer wichtig war – und gefährlich. Gleichzeitig wirkte sie fast euphorisch, wie ein Wissenschaftler, der Jahre an etwas gearbeitet und endlich den Durchbruch geschafft hat – ich weiß nicht, wie man das auf Deutsch sagen soll – illuminée!«
Ella fragte: »Woran hat sie denn gearbeitet, Monsieur Schneider? «
»Dany.«
»Was kann so gefährlich sein, dass Menschen auf diese Weise sterben müssen, Dany?«
Er schwieg und schob die Hände in die Hosentaschen. Statt zu antworten, fragte er: »Wenn Sie Notärztin sind, dann müssen Sie doch von jemand gerufen worden sein – von wem? Wer war das?«
Ella trat zu ihm ans Fenster. »Jemand, der an einem Fenster stand, so wie wir gerade …«
»Und Sie haben nicht die geringste Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«, fragte Dany.
Ella sagte: »Nein. Das war der andere Grund, aus dem ich mich heute Nachmittag noch mal in dem Haus umgesehen habe – ich dachte, ich könnte vielleicht feststellen, von wo aus er alles beobachtet hatte, das Fenster, der Balkon.«
»Ist es Ihnen gelungen?«
»Vielleicht. Da war eine Bewegung hinter einer Balkontür auf der anderen Seite des Hofs, der Blickwinkel könnte stimmen. Ich wollte es mir anschauen gehen, nachsehen, wer da wohnt, und ihn fragen, ob er sonst noch etwas bemerkt hat, irgendwas, das mir weiterhilft. Aber dann kamen Sie und, na ja …«
»Warum hat er nicht die Polizei gerufen? Warum nur den Notarzt?«
»Vielleicht hatte er Angst«, sagte Ella, »oder er dachte sich, dass wir das sowieso übernehmen würden.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke: Warum hat er nicht einfach geklingelt, wenn er nach seiner Schwester sehen wollte? »Vorhin in der Wohnung – ich habe die Klingel gar nicht gehört …«
»Die Klingel war kaputt«, sagte er. »Ich habe das Schloss mit einem Stück Draht aus dem Treppenhaus geöffnet. Es ging ganz einfach, weil irgendjemand schon vor mir daran – wie heißt das auf Deutsch? – «
»Daran herumgefummelt hatte«, sagte Ella. Sie sah zu ihm auf in dem schwachen Licht der Tischlampe neben dem Bett. »Was ist sie für eine Frau – Mado, meine ich?«, wollte sie wissen. »Sie hat mich aus meinem Leben gerissen, und ich weiß überhaupt nichts über sie.«
»Ich auch nicht«, sagte Dany, »nicht mehr.« Er schaute wieder auf seine Uhr. »Jetzt ist eine gute Zeit, um Leute zu Hause anzutreffen.« Da – in diesem Moment, in dem er auf die Uhr schaute, als wäre die Zeit sein schlimmster Feind – erkannte Ella zum ersten Mal an dem Ungestüm der Bewegung und einem Zucken der Lippen, dass auch er Angst hatte.