16

Es war fast elf Uhr, und sie standen vor dem Eingang des Hauses, an dessen Rückseite Ella die Bewegung hinter der Balkontür gesehen hatte. Es war ein Gebäude aus der Nachkriegszeit in einer ruhigen, baumbestandenen Kreuzberger Straße, in der auch im Sommer an einem Sonntagabend die Fenster früh dunkel wurden. Die Gehsteige waren verwaist. Über eine Kreuzung weiter unten floss ein Rinnsal von Autos, aber hier flackerte nicht einmal die Lampe eines vereinzelten Radfahrers. Im Schein der Straßenlaterne, vom dichten Blattwerk der Bäume gedämpft, versuchte Ella zu erkennen, welche Klingel zu der Wohnung mit dem Balkon gehörte. Auf jeder Etage außer dem Hochparterre gab es drei Klingelschilder. »Die da könnte es sein«, sagte Ella. Sie deutete auf das Schild in der Mitte des siebten Stocks. »Michalewski.«

Sie drückte den Knopf, der zu dem Schild gehörte. Es gab eine Gegensprechanlage, doch sie blieb stumm, und niemand öffnete. Sie klingelte ein zweites Mal. Endlich knackte es in dem kleinen runden Lautsprecher unter den Knöpfen, und eine hohe, metallisch verzerrte Stimme fragte: »Ja?«

»Mein Name ist Bach, Doktor Ella Bach. Ich möchte gern kurz mit Herrn Michalewski sprechen.«

»Ja?«, sagte die hohe Stimme noch einmal.

»Könnten Sie bitte aufmachen?«

Die Stimme schwieg.

Ella fragte: »Darf ich einen Moment raufkommen?«

»Es ist schon sehr spät.« Die Stimme hatte einen weinerlichen, nörgelnden Unterton.

»Sind Sie Herr Michalewski?«

Die Stimme schwieg, nur die Sprechanlage rauschte leise.

»Sie haben vor zwei Tagen nachts die Rettung angerufen, weil gegenüber von Ihnen eine Frau zu verbluten drohte. Ich bin die Ärztin, die auf Ihren Anruf – «

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, rief die Stimme. »Sie müssen mich verwechseln.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wie kommen Sie überhaupt auf mich?«

Ella sagte: »Der Vorfall hat sich im Penthouse des Hauses Benno-Ohnesorg-Straße 7 auf der anderen Seite Ihres Hinterhofs ereignet, und die Beobachtung des Anrufers lässt mich vermuten, dass Sie ihn von Ihrer Wohnung aus mit angesehen haben – «

Jetzt konnte sie ein leises Ächzen hören. »Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, was jemand beobachtet hat? Wie kommen Sie denn auf mich?«

»Ich habe mir die Aufzeichnung des Anrufs angehört«, sagte Ella. Sie sah, dass der Gehweg noch immer leer war, aber sie wünschte sich, der Mann würde sie endlich ins Haus lassen. »Bei der Notruf-Leitstelle werden alle eingehenden Anrufe aufgezeichnet, wussten Sie das nicht? Sie haben Ihren Namen nicht genannt, aber – «

»Gehen Sie weg«, sagte die Stimme. »Bitte, gehen Sie weg. Sie verwechseln mich.«

»Ich habe nur ein paar Fragen.«

»Was für Fragen denn?«

»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen? Sie haben von Blut gesprochen – und Sie haben ein Messer erwähnt – «

»Ich habe überhaupt nichts gesehen, gar nichts. Bitte, gehen Sie jetzt. Ich bin müde. Ich habe schon geschlafen. Mitten in der Nacht, das ist Belästigung.«

Die Sprechanlage verstummte. »Herr Michalewski?«, rief Ella. Der Lautsprecher blieb stumm. Ella rief noch einmal: »Herr Michalewski!«, dann sagte sie zu Dany: »Das war er. Seine Stimme klang anders auf dem Band, aber er war es.«

Dany sagte: »Er hat Angst.« Er trat einen Schritt zurück und sah an der Fassade des Hauses hoch. »Ich möchte wissen, wovor er Angst hat.«

Ella drückte jetzt die beiden Klingelknöpfe im Hochparterre, und wenig später summte der Öffner. Sie stieß die Tür auf, griff in die Innentasche ihrer Jacke und holte ihren Arztausweis heraus. »Hallo«, rief sie. »Rettungsdienst.«

Aus der Tür links vom Treppenaufgang im Hochparterre streckte ein Mann den Kopf heraus. In dem schwachen Licht einer runden Milchglaslampe an der Wand konnte Ella sehen, dass er nur ein Unterhemd und Shorts anhatte. Sein Haar war schütter, die Falten in der Haut wirkten, als wären sie ein feines Netz, in dem sich das Gesicht gefangen hatte. Aus dem Inneren der Wohnung drang die aufgeregte Stimme eines Fußballkommentators. Ella hielt ihren Ausweis hoch. »Notarzt. Sind Sie der Hausmeister?«

»Jawohl. Zu wem wollen Sie denn?«

»Michalewski, fünfter Stock. Er hat die Rettung gerufen, aber jetzt macht er nicht auf.«

»Michalewski, bei dem wundert mich gar nichts mehr.«

»Der Anruf klang besorgniserregend«, sagte Ella. »Könnten Sie mit nach oben kommen, um uns die Tür zu öffnen, falls ihm etwas zugestoßen sein sollte?«

»Sind sieben Stockwerke ohne Aufzug«, sagte der Mann. »Michalewski, der macht nie auf.«

»Er stirbt vielleicht gerade«, sagte Ella. »Haben Sie vielleicht einen Zweitschlüssel, den Sie mir mitgeben können?«

Der Mann warf einen Blick über seine Schulter in die halbdunkle Wohnung, in der das gezeigte Fußballspiel an Dramatik zunahm. »Michalewski, der ist nicht ganz richtig, wenn Sie mich fragen. Der hat nicht nur ein Schloss an der Tür. Hat ein halbes Dutzend zusätzlich angebracht. Alle ohne Erlaubnis.« Er schien sich nicht darüber zu wundern, dass Ella keine Notfalltasche dabeihatte. »Warten Sie, ich hole Ihnen den Schlüssel, aber mit raufkommen tue ich nicht.«

»Danke«, sagte Ella. Sie wartete vor der offenen Tür, aus der ein schaler Geruch nach kaltem Essen und altem Zigarettenrauch drang, während Dany an ihr vorbeiging und anfing, die breite Holztreppe hinaufzusteigen. Der Hausmeister kam mit einem einzelnen Schlüssel zurück, den er Ella hinhielt. »Wahrscheinlich das Herz«, sagte er, »bei dem Gewicht, das der mit sich rumschleppt, Michalewski. Sie können mir den Schlüssel in den Briefkasten werfen, wenn Sie fertig sind.«

»Danke.« Ella steckte ihren Ausweis wieder ein und folgte Dany. Die Stufen knarrten unter ihren Schritten, es war das einzige Geräusch in dem hohen Treppenschacht. Einmal erlosch das Licht, und Ella drückte auf dem nächsten Absatz auf einen anämisch schimmernden Plastikknopf, und es ging wieder an. Als sie den siebten Stock erreicht hatte, atmete sie zu schnell und hatte das Gefühl, dass ihre Lunge flatterte.

Die Tür in der Mitte des obersten Etagenabsatzes trug kein Namensschild. Außer dem Hauptschloss gab es noch drei weitere für unterschiedlich große Schlüssel. Dany klingelte mehrmals schnell hintereinander und klopfte gegen die Türfüllung. In der Wohnung blieb alles still. »Herr Michalewski, bitte öffnen Sie«, rief Ella. »Es ist wichtig, dass ich kurz mit Ihnen sprechen kann.«

Noch immer blieb es still, so still, als versuchte jemand bewusst, kein Geräusch zu verursachen, bei angehaltenem Atem, kein Räuspern, kein knackendes Parkett. Ella schob den Schlüssel des Hausmeisters in das Schloss neben dem Türknopf. Der scharfe, raspelnde Klang von Metall an Metall zerriss die vollkommene Lautlosigkeit, und auf einmal herrschte auch auf der anderen Seite der Tür keine Stille mehr, als die weinerliche Stimme plötzlich kreischte: »Was machen Sie denn?! Das dürfen Sie nicht!«

Ella rief: »Sie haben den Rettungsdienst angerufen, und wenn Sie nicht öffnen, muss ich davon ausgehen, dass Ihnen etwas zugestoßen ist und mir Zugang zu Ihrer Wohnung verschaffen! «

»Das war schon vor zwei Tagen, und ich habe meinen Namen gar nicht genannt!«

Ella schwieg, damit der Mann in der Wohnung Zeit hatte, sich seine eigenen Worte noch mal vorzuspielen. Etwas schabte an der Innenseite der Tür entlang; es hörte sich an, als rutsche ein Körper daran herunter. Nach einigen Sekunden erklang ein fast qualvolles Stöhnen, gefolgt vom Scheppern und Klirren mehrerer Ketten, Riegel und Schlösser. Im selben Moment erlosch die Treppenhausbeleuchtung. In der Dunkelheit jenseits der geöffneten Tür hörte Ella jemanden schwer und feucht atmen, und eine Wolke von süßem Parfüm, halb Moschus, halb Patschuli, drang aus der Wohnung. »Herr Michalewski?«, sagte sie. »Ich komme jetzt rein. Erschrecken Sie nicht, ich habe noch jemanden bei mir.«

»Nein, niemand sonst!«, sagte die Stimme, aber ihr Widerstand war nur noch schwach.

Ella trat über die Schwelle. Vor ihr bewegte sich eine massige Gestalt, und jetzt mischte sich durchdringender Schweißgeruch unter den Parfümduft. Die Gestalt war nur ein Schattenriss vor dem Hintergrund seltsam phosphoreszierender Lichtquellen am anderen Ende des Gangs, aber Ella hatte den Eindruck, einem Berg aus Fleisch gegenüberzustehen. Etwas von dem grünlich schimmernden Licht glitt über die Gestalt und enthüllte mächtige Fettwülste und wabbelnde Hautlappen, die in Schichten übereinander zu hängen schienen, nur notdürftig verhüllt von einem bis zum Zerreißen gespannten schwarzen Sweatshirt. Langes Haar fiel in öligen Locken auf Schultern, Brust und Rücken. Als die Gestalt sich bewegte, blinkten die runden Gläser einer Hornbrille in dem schweißglänzenden Gesicht auf.

»Sind Sie wirklich Ärztin?«, fragte die helle, greinende Stimme.

Ella holte ihren Ausweis hervor und hielt ihn dicht vor die mit talgig schimmernden Fingerabdrücken übersäten Brillengläser. Sie hörte, wie Dany hinter ihr eintrat und die Tür ins Schloss drückte. »Haben Sie mich in der Wohnung gegenüber nicht gesehen, in der Nacht vor zwei Tagen?«, fragte sie.

»Nein. Nein, ich habe überhaupt nichts gesehen!«

Dany schob sich an Ella und der Gestalt vorbei, und stieß unvermittelt einen leisen Piff aus. »Schauen Sie sich das an, Ella!«

»Wo gehen Sie denn hin?«, rief Michalewski. »Was wollen Sie da? Das dürfen Sie nicht!« Ächzend und schwer atmend stapfte er hinter Dany her auf die Tür des Raums mit den phosphoreszierenden Lichtquellen zu. »Das geht Sie nichts an.«

Ella blieb dicht hinter Michalewski. Der dicke Mann quetschte sich seitlich durch die Tür, hinter der eine andere Welt begann: Die phosphoreszierenden Lichtquellen in dem abgedunkelten Zimmer waren TFT-Monitore und Smartdisplays, über die Punkte und flackernde Linien huschten wie über den Monitor eines EKGs. Magische Augen weiteten sich und schrumpften wieder, analoge und binäre Anzeigen an elektronischen Aufnahme- und Wiedergabegeräten zählten unsichtbare Bits. Leuchtdioden glommen, LCD-Skalen und Fluoreszenzmesser schimmerten matt.

»Was ist das?«, fragte Ella verblüfft.

»Nichts«, sagte der dicke Mann hastig. »Das ist mein Büro, hier arbeite ich. Ich bin Filmemacher, ich mache eine Langzeitdokumentation über – «

Dany drehte sich um und schaltete das Licht an.

»Nicht«, rief der dicke Mann entsetzt, »kein Licht!«

In dem flackernden Schein einer in rotes Krepppapier gehüllten Glühbirne an der Decke entfaltete der überraschend große Raum seine seltsame Pracht: ein großer schwarzer Ledersessel auf Rollen stand an einem gut fünf Meter langen Arbeitstisch, auf dem sich technische Apparate aller Art befanden: Rechner, für die sich die NASA nicht geschämt hätte, Laptops, digitale Camcorder, Richtmikrofone, Nachtsichtgeräte, Fotoapparate mit Teleobjektiven in unterschiedlichen Größen, Kopfhörer mit gepolsterten Ohrmuscheln, ein altmodisches Spulentonband, ein Avid-Schnittpult und ein voluminöses Teleskop, mit dem man wahrscheinlich Leben auf der Rückseite des Mars entdecken konnte.

Das Teleskop stand direkt am Fenster und war auf die Häuser jenseits des Hofs gerichtet.

Jetzt war Ella klar, warum er nicht die Polizei gerufen hat. Und warum er sich so merkwürdig ausgedrückt hatte, so als wüsste er nicht genau, was er gegenüber sah.

Die unverputzten Wände waren hinter deckenhohen Regalen verborgen, in denen Hunderte von Videokassetten, DVDs und CD-Roms mit weißen Rücken standen, nummeriert und beschriftet. An der einzigen freien Wand hing ein einarmiger Bandit neben einer Dartscheibe, davor stand ein kirmesbunter Flipperautomat. Zwischen einer mannshohen Dagobert Duck-Statue aus bemaltem Eisen und einer ebenso großen Terminator -Figur spannte sich eine Hängematte, in der ein Elefant Platz gefunden hätte. Der zerkratzte Linolboden war übersät mit leeren Coca-Cola-Dosen, Bierflaschen, winzigen Wodkafläschchen, mit ketchupverschmierten Hamburger-Schachteln, Fetzen von Pizzakartons und randvollen Aschenbechern.

»Bitte, machen Sie das Licht aus!«, flehte Michalewski.

Ella schaltete die Glühbirne wieder aus und ging zur Balkontür, um die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie zu schließen. Ihr Blick fiel auf das Penthouse jenseits des Hofes. Sie konnte nur eins der Fenster hinter den Plastikplanen sehen, aber die Räume dahinter waren dunkel. »Haben Sie hier gestanden? «, fragte sie den dicken Mann.

»Ich … ich …«

Dany trat neben Ella und sah ebenfalls hinaus. Dann sagte er: »Zeigen Sie uns die Aufnahmen.«

»Was für Aufnahmen?«, fragte der dicke Mann.

»Die Frau, die Sie von hier aus beobachtet haben, ist meine Schwester«, sagte Dany, »und wahrscheinlich haben Sie sie nicht nur beobachtet, sondern auch gefilmt. Wahrscheinlich haben Sie alle Ihre Nachbarn rings um den Hof gefilmt und abgehört, aber die anderen interessieren mich nicht. Ich will nur die Aufnahmen sehen, die Sie von meiner Schwester gemacht haben in der Nacht, in der sie überfallen worden ist, und davor.«

»Ich weiß nicht«, begann der dicke Mann, und seine Fettmassen unter dem Sweatshirt zitterten so stark, dass Ella es sogar im Zwielicht der Skalen und Anzeigen sehen konnte, »ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Bitte gehen Sie jetzt.«

Dany ging zu dem nächststehenden Regal und fing an, die VCR-Kassetten und DVDs von den Brettern zu nehmen und auf den Boden fallen zu lassen. »Sie sind ein Voyeur, und der einzige Grund, warum ich Sie nicht auf der Stelle nach Strich und Faden verprügele, ist, dass Sie wenigstens so viel Anstand hatten, den Notarzt zu rufen, als Sie gesehen haben, was mit meiner Schwester passierte. Aber wenn Sie mir nicht sofort alles aushändigen, was Sie von ihr aufgenommen haben, dann zerstöre ich hier jedes Band, jede CD-Rom und jede Datei, und danach nehme ich mir Ihre Kameras und Tonbandgeräte vor…«

»Bitte – bitte!« Michalewskis Hände flatterten wie aufgescheuchte Vögel durch die Luft, bevor sie wieder zu beiden Seiten seines mächtigen Leibes herabsanken. Er wischte sich mit ungeschickten Fingern über die beschlagenen Brillengläser. »Ich zeige es Ihnen, aber ich will es nicht – ich will es nicht noch einmal sehen.«