Nach dem dritten Klingeln wurde am anderen Ende der Leitung abgehoben, und eine nicht mehr ganz feste Stimme sagte: »Hallo?«
»Herr Freyermuth? Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät zu Hause störe«, sagte Ella. »Ich habe heute ein paarmal versucht, Sie in Ihrer Kanzlei zu erreichen, aber – «
»Von wo rufen Sie an?«, fiel der Anwalt ihr ins Wort.
»Berlin«, antwortete sie.
»Kein Handy?«
»Eine Telefonzelle.«
Ella hörte kaum wahrnehmbare Atemgeräusche, die nach Erleichterung klangen. »Bitte, verzichten Sie darauf, während dieses Gesprächs Ihren Namen oder irgendeinen anderen Namen zu nennen.« Es schien, als hätte er ihren Anruf erwartet und sich darauf vorbereitet. »Ich nehme an, Sie haben eine Erfindung gemacht, die Sie patentieren lassen möchten? Oder liegt vielleicht eine Patentverletzung vor?«
Ja, dachte Ella, jemand versucht, mir das Einzige zu nehmen, worauf ich ein Patent habe – mein Leben. »Darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.« Wenn du es so willst, ich spiele mit. »So schnell wie möglich. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Es handelt sich nicht vielleicht um eine Angelegenheit, bei der Ihnen ein Kollege besser helfen könnte?«, fragte Freyermuth, ganz vorsichtiger Anwalt. »Jemand, der sich beispielsweise vor allem im Strafrecht auskennt?«
»Ich würde gern zuerst Ihre Einschätzung hören«, sagte Ella. »Es geht um ein französisches Patent, das schwer verletzt wurde, und die andere Partei beschuldigt mich zu Unrecht, hinter dieser und einer weiteren Verletzung zu stehen.«
Freyermuth sagte nichts.
»Ich wende mich an Sie«, fuhr sie fort, »damit Sie mir helfen, allen möglicherweise beteiligten Parteien meine Unschuld zu beweisen.«
»Eine dieser Parteien hat sich bereits an mich gewandt und mir gesagt, dass Sie sich wahrscheinlich bei mir melden würden«, erklärte der Anwalt. »Und dass es sich um einen Interessenskonflikt handeln könnte, falls ich auf Ihre Bitte eingehen sollte. Angeblich hätten Sie sich in einer eskalierenden Konkurrenzsituation mit der Inhaberin des französischen Patents befunden.«
»Das Ganze ist eine Verschwörung«, plötzlich konnte Ella nicht mehr an sich halten in der stickigen, dunklen Telefonzelle, vor der Dany unruhig auf und ab schlenderte, »und es geht auch nicht um irgendwelche Scheißpatente – Madeleine Schneider ist gefoltert und entführt worden – in Ihrer Wohnung – davon gibt es ein Videoband – ich habe versucht, ihr das Leben zu retten, nicht sie umzubringen – ich bin Ärztin – jemand hat meinen Kollegen Max ermordet und – die Polizei deckt die Täter – «
»Ich fürchte, Sie haben sich verwählt.« Die Temperatur von Randolph Freyermuths Stimme fiel abrupt um einige Grade in Richtung Gefrierpunkt. »Unsere Kanzlei ist für Fälle wie den Ihren ganz und gar nicht – «
»Bitte, bitte«, Ella umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Finger schmerzten, »legen Sie nicht auf! Diese andere Partei – das Patent – ich dachte, Sie könnten mir helfen – uns helfen – Sie könnten die Videoaufzeichnung für uns verwahren und Verhandlungen mit der Gegenseite aufnehmen, um meine Unschuld zu beweisen – es geschah doch in der Wohnung Ihrer Tochter, sie ist vielleicht auch in Gefahr – «
»Uns? Wer ist noch bei Ihnen?«
»Der Bruder.«
»Welcher Bruder?«
»Der geschädigten französischen Partei.« Wie lange müssen wir dieses Spiel noch weiterspielen? »Es besteht die Möglichkeit, dass Ihnen von dieser Partei etwas übergeben worden ist – oder geschickt wurde – eine Videodisc, deren Inhalt Aufschluss über den Grund für ihr Verschwinden geben könnte – wahrscheinlich haben Sie sie nicht angeschaut – aber ich möchte Sie bitten, sich mit mir zu treffen – nicht nur wegen mir, auch wegen Ihrer Tochter – «
»Kommen Sie allein«, sagte Freyermuth nach kurzem Schweigen. »Aber kommen Sie nicht hierher oder in die Kanzlei. Ich schlage vor – «
Sie unterbrach ihn, denn sie wusste bereits, wo sie sich mit ihm treffen wollte. Danach verließ sie die Telefonzelle, vor der Dany stand, beide Hände in den Hosentaschen. Sie sah auf ihre Uhr. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht. »Ich möchte gern irgendwo etwas trinken gehen«, sagte sie.
»Weißt du«, sagte er, »eins verstehe ich nicht. Ich verstehe nicht, warum du nicht weggelaufen bist. Du warst allein mit Mado, und da war das ganze Blut, und du hast gesehen, wie es um sie stand, und dann wusstest du auf einmal, dass der Täter noch in der Wohnung war. Warum, verdammt noch mal, bist du da nicht abgehauen?«
»Weiß ich nicht.«
»Doch, ich glaube, du weißt es«, widersprach er. »Jeder andere wäre weggelaufen. Es wäre vernünftig gewesen, einfach abzuhauen, sie da liegen zu lassen und die eigene Haut zu retten. Ich weiß nicht mal, ob ich nicht weggelaufen wäre. Aber wenn man es nicht tut, wenn man sein Leben aufs Spiel setzt, dann weiß man, warum.«
»Ich bin nicht Ärztin geworden, um Menschen sterben zu lassen, wenn ich ihnen helfen kann«, sagte sie zögernd. »Das ist einfach Trotz, nehme ich an. Er oder ich – und am Ende ist er ja abgehauen, oder?«
»Und wenn er das nicht getan hätte?«
»Dann wären wir zwei Kaninchen im Schnee gewesen.«
»Was soll das heißen?«
»Dass der Habicht gewonnen hätte«, sagte sie, und natürlich wusste er nicht, wovon sie redete, deshalb erzählte sie ihm von dem Habicht und dem Kaninchen.
Sie war elf Jahre alt, und es war der Tag vor Heiligabend, und sie war allein zum Rodeln gegangen auf dem Hügel hinter dem Dorf, den alle den Drachenkamm nannten. Der verharschte Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Die frische, klare Luft brannte bei jedem Atemzug in der Brust, und anfangs war ihr kalt gewesen, aber je länger sie ging, desto weniger fror sie. Sie hatte die Schnur des Schlittens um die Hand gewickelt. Sie spürte sein Gewicht, und jedes Mal, wenn seine Kufen über einen Ast oder einen Stein im Schnee schleiften, musste sie etwas stärker ziehen.
Als sie den Rist des Hügels erreicht hatte, begannen überall um sie herum Eis und Schnee zu glitzern, und schließlich verschwand der Nebel über der Ebene, und in diesem Moment stellte Ella fest, dass sie nicht allein war. Einige Meter unter ihr am Hang kauerte ein Wildkaninchen zwischen den Baumwurzeln. Es sah sich vorsichtig um und wackelte dabei mit den Löffeln. Ella lächelte. Vor Vergnügen spreizte sie die freie Hand in der Tasche des dicken Dufflecoats. Das Kaninchen erstarrte, streckte eine zuckende Nase in ihre Richtung und hoppelte schließlich rasch den Hang hinunter.
Der Habicht näherte sich lautlos im Gleitflug. Erst war er nur ein schwarzer Punkt, ein Fleck vor der diesigen Sonne. Aber er wurde schnell größer, und Ella schirmte die Augen mit der Hand ab, um ihn besser beobachten zu können. Plötzlich schien er in der Luft stehen zu bleiben, bevor er mit ausgebreiteten Schwingen einen Kreis nach dem anderen zog.
Ella blickte den Hang hinunter und sah, wie das kleine Kaninchen am Waldrand hin und her rannte. Der Habicht kreiste genau über ihm. Obwohl sie noch klein war, wusste sie, was das bedeutete. Er wird es töten, dachte sie entsetzt. Ihr Herz schlug schmerzhaft schnell. Sie ließ die Hand sinken und wollte sich abwenden, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Wie angewurzelt blieb sie stehen.
Ich muss das Kaninchen warnen.
Die Stille, die über der Landschaft lag, schien auf einmal drückend wie die Luft vor einem Gewitter. Fast greifbar hing sie zwischen den Bäumen. Dann stieß der Habicht herab. Pfeilgerade stürzte er auf das Kaninchen zu, das jäh zu rennen begann. Lauf, flehte Ella, lauf, bitte, lauf! Der gleißende Schnee gab unter den Läufen des Kaninchens nach, es fing an, Haken zu schlagen, rannte erst nach rechts, dann nach links. Selbst als die Schwingen des Habichts es schon in ihren Schatten hüllten, rannte es noch.
Ella bemerkte, dass sie sich in den Knöchel des Zeigefingers gebissen hatte. Sie fühlte keinen Schmerz, denn ihre Hände waren taub vor Kälte. Erst als sie die Abdrücke ihrer Zähne bemerkte, spürte sie ein schwaches Pochen im Fleisch. Im selben Augenblick hatte der Habicht das Kaninchen erreicht, und die Stille barst unter dem Schrei, der sich die ganze Zeit in Ella angestaut hatte.
Das Kaninchen versuchte noch immer zu fliehen. Es schlug einen letzten scharfen Haken, um sein Leben zu retten, aber der Habicht holte es mit zwei knappen Flügelschlägen ein. Schnee stob auf, ein weißes Gleißen, die Krallen packten zu, der Kopf mit dem tödlichen Schnabel hackte herab.
In Panik blickte Ella sich um, suchte den Waldboden zu ihren Füßen nach einem Stein ab. Da – nein, das war ein Tannenzapfen. Aber da! Sie bückte sich. Nein, das war eine Wurzel. Verzweifelt stieß sie die Stiefelspitzen in den Schnee, bis sie gegen einen Stein prallte. Hastig scharrte sie ihn frei und wollte ihn aufheben, aber er war festgefroren. Immer wieder rutschten ihre starren Finger ab, und die ganze Zeit hörte sie das Flügelschlagen, das bedeutete, dass der Habicht sich noch nicht mit seiner Beute in die Luft erhoben hatte, dass sie noch lebte.
Etwas Warmes tropfte auf Ellas wild scharrende Hände. Sie weinte. Sie kauerte über diesem verdammten Stein, der sich nicht aus dem Boden lösen wollte und der wahrscheinlich viel zu schwer für sie war, und weinte. Das war alles, mehr tat sie nicht, mehr war sie nicht, eine Heulsuse!
Endlich sprang sie auf und lief schreiend den Hang hinunter, um den Habicht zu erschrecken, damit er von dem Kaninchen abließ. Ihre Stiefel waren abgetragen, und der Schnee pappte an den Sohlen fest, und auf einmal glitt sie aus und stürzte. Auf dem Bauch rutschte sie ein Stück die steile Steigung hinunter. Ihre Stirn schlug gegen etwas Hartes. Direkt vor ihren Augen ragte ein knüppeldicker Ast aus dem Schnee.
Der Habicht hatte das Kaninchen auf den Rücken gedreht und die Krallen in den Bauch seiner Beute geschlagen. Das hellbraune Fell war blutgefärbt. Ella sah die Läufe des Kaninchens zucken und die schlagenden Flügel des Habichts, und dann sah sie seinen Kopf, hochgereckt und stolz, mit rot geflecktem Schnabel. In ihren Ohren klang sein wildes, abgehacktes Krächzen wie höhnisches Triumphgeschrei.
Halb benommen, versuchte sie aufzustehen. Ihr Gesicht war mit nassem Schnee verklebt, und ihr linker Arm steckte in einer tiefen Wächte. Mit der freien Hand griff sie nach dem Ast, doch er war festgefroren. Sie riss und zerrte, und gleichzeitig versuchte sie aufzustehen, denn noch immer hörte sie das Flügelschlagen und das Krächzen, und sie wollte nicht, dass der Habicht das Kaninchen tötete. Ich muss ihm helfen, es darf nicht sterben. Endlich schaffte sie es, ihren Arm zu befreien, und als Nächstes gelang es ihr, den Knüppel dicht über dem vereisten Boden abzubrechen, und dann war sie auf den Knien und schließlich auf den Füßen.
Schluchzend stolperte sie den Hang hinunter. Da erhob sich der Raubvogel mit einem letzten Krächzen in die Luft und trug seine Beute davon. So schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder. Er stieg höher und höher, wurde kleiner, wurde wieder zu einem schwarzen Punkt am Himmel, der jetzt hell und strahlend blau war.
Ellas Faust umklammerte den Ast. Wo das Kaninchen mit dem Habicht gekämpft hatte, war der Schnee blutig, lauter rote Flecken und Punkte, und dazwischen lagen ein paar graubraune Federn und Fellfetzen. Nach und nach drangen Geräusche an ihr Ohr: das Krächzen von Krähen in den Ästen über ihrem Kopf; Wind, der durch die Bäume strich; ihr eigenes Keuchen. Sie ließ den Ast fallen, und sie wusste noch, was sie damals gedacht hatte: Wie kann etwas so Schreckliches passieren, und das Leben geht einfach weiter? Wie kann davor und danach und drum herum alles so schön und friedlich sein, und gleichzeitig muss in der Mitte jemand sterben, und niemand hilft ihm?
Wenn ich groß bin, werde ich das ändern. Ich werde das einfach nicht mehr zulassen.
»Das klingt wie das erste Kapitel in einer Biografie von Jeanne d’Arc«, sagte Dany.
»Ich weiß nicht, wie das klingt«, sagte Ella. »Aber auf alle Fälle haue ich nicht ab, wenn irgendwo jemand liegt, der sich nicht mehr wehren kann.«
»Ich habe Jeanne d’Arc immer gemocht«, sagte Dany.