Ella riss sich das schwarze Tuch vom Kopf, nahm die Sonnenbrille ab und wartete, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Sie befand sich in ihrer Wohnung, aber alles um sie herum sah aus wie ein Fotonegativ: Sie erkannte die Dinge darauf wieder, nur dass sie anders wirkten, anders als gewohnt. Benommen stand sie an der Tür, und ihr war ein wenig übel, wie nach dem Aufwachen aus einer Narkose. Als sie abschließen wollte, stellte sie fest, dass sie den Riegel bereits vorgeschoben hatte.
Sie starrte auf das Durcheinander im Gang: die überladene Garderobe, die im Halbdunkel verstreuten Schuhe, das Fahrrad, das an der Wand lehnte. Im Wohnzimmer verdorrte Blumen auf dem niedrigen Marmorfensterbrett. Die leinenbezogene schwarze Couch. Der lackierte Rattansessel. Der rote Nierentisch. Der ausgefranste Kelim auf dem von Stöckelschuhabsätzen zernarbten Parkett. Der halb offene Plattenschrank mit dem Fernseher darauf. Die angelehnte Tür zum Schlafzimmer. Im Schatten der heruntergelassenen Jalousien stand die Luft. Stickig, warm.
Das Lämpchen des Anrufbeantworters neben dem Telefon blinkte. Sie drückte die Abspieltaste. Eine digital zusammengesetzte Frauenstimme sagte: »Sie haben sechs Anrufe. Anruf Nummer eins, erhalten am 13. August, 23 Uhr 17.« Silvan, eindeutig aufgebracht: »Ella, Silvan hier! Sag mal, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt? Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich eine Patientin verloren hast! Die Polizei war hier und hat Fragen gestellt – die Kriminalpolizei! Ist dir eigentlich klar, wie das aussieht, was das für mich bedeutet? Immerhin denken alle, wir wären noch zusammen. Ich habe natürlich schon bei deiner großen Szene im Auto gewusst, dass mit dir etwas nicht stimmt, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Ruf mich an und erklär mir das, ja? Dein Handy ist gestört, aber irgendwann wirst du das hier doch wohl hören. Außerdem hast du noch Sachen von mir.«
Die digitale Frauenstimme sagte: »Anruf Nummer zwei, erhalten am 14. August, 18 Uhr 9«, gefolgt von einem männlichen Anrufer. »Frau Doktor Bach, hier spricht Hauptkommissar Aziz. Es haben sich noch einige Fragen ergeben, die wir gern mit Ihnen klären würden. Ihr Handy scheint gestört zu sein. Bitte, setzen Sie sich umgehend mit uns in Verbindung, hier im LKA. Die Nummer ist – «
Ella drückte die Fast Forward-Taste. »Frau Doktor Bach, mein Name ist Schäfer, von der Personalabteilung der Charité, Humboldt-Universität. Ich bitte um Ihren Rückruf, es geht um Ihre Beschäftigung als Internistin auf Honorarbasis – «
Fast Forward: »Ella, noch mal Silvan hier! Jetzt reißt mir langsam der Geduldsfaden. Was tust du mir an?! Wenn du schon nicht an dich denkst, denk wenigstens an mich – «
Während Ella den Anrufbeantworter abhörte, stellte sie den Fernseher an. Auf dem Bildschirm wurde gerade eine Sitcom durch Kurznachrichten abgelöst. Eine Kolonne schwarzer Limousinen rollte in den Innenhof eines historischen Palastes, dazu sagte ein unsichtbarer Sprecher: »Auf Malta trafen sich die Regierungsspitzen von Deutschland, Großbritannien und Frankreich, um über Wege aus der europäischen Schuldenkrise zu diskutieren. Gleichzeitig fand in Toronto, Kanada, eine Konferenz der größten europäischen, amerikanischen und asiatischen Banken unter Federführung der – «
Der nächste Anruf: »Sie verhalten sich sehr dumm, Doktor Bach, sehr dumm. Sie laufen vor uns weg, statt zu uns zu kommen. Sie reden mit den falschen Leuten, nicht mit uns. Sie werden das, was sie suchen, nicht finden. Wir finden Sie – «
Ein Klingeln an der Tür ließ sie zusammenzucken. Es klingelte mehrmals hintereinander, aber Ella rührte sich nicht. Sie hörte nicht mehr, was der Mann weiter sagte, und als das Klingeln aufhörte, war Dany auf dem Band.
»Ella! Bist du da?! Wenn du da bist, geh bitte dran. Ich bin’s – Dany!« Pause. »Hör mal, ich weiß nicht, wo du steckst oder warum du vor mir weggelaufen bist. Ich bin im Hotel. Vielleicht kommst du ja noch … Falls du das hier hören solltest, melde dich sofort bei mir. Ich rufe auf alle Fälle auch noch mal an.«
Die Verbindung wurde unterbrochen. Die mechanische Frauenstimme sagte: »Sie haben keine weiteren Anrufe.« Fast im selben Moment klingelte das Telefon, und erst dachte Ella, es wäre wieder an der Tür, aber nach dem fünften Klingeln sprang der Anrufbeantworter an, und sie hörte sich selbst, »Ella Bach. Ich bin nicht zu Hause, rufe Sie aber gern zurück. Also los!« Danach herrschte einige Sekunden Stille, bevor Danys Stimme erklang.
»Ella, ich bin’s noch mal – Dany.«
Wer bist du, Dany?
Mit atemloser Stimme sagte Dany: »Ich habe gerade bei dir geklingelt. Wenn du da bist, mach bitte auf. Ich warte ein paar Minuten, bevor ich zum Hotel zurückfahre. Dass der Anwalt erschossen wurde, war ein Unfall. Sie wollten dich umbringen, das muss dir doch klar sein. Es war richtig, dass du das Durcheinander genutzt hast, um dich aus der Schusslinie zu bringen, aber ich verstehe nicht, warum du vor mir weggerannt bist! Du kannst das nicht allein durchziehen. Weißt du nicht, was das bedeutet?! Du hast keinen Moment Ruhe mehr. Du musst pausenlos über die Schulter gucken, und du bist allein, isoliert, kannst niemandem vertrauen – «
Ellas Blick fiel auf den Fernseher. Das Bild zeigte einen dicken Mann, der an einem Seil reglos von einem Balkon baumelte. Sein Kopf hing herab, der Hals steckte in einer Schlinge, die Arme waren merkwürdig verkrümmt, als wären sie gebrochen worden. Rußspuren umgaben die Tür und das Fenster zum Balkon, von den Glasscheiben waren nur noch schwarze Scherben übrig.
Voyeur legt Feuer in Berlin Kreuzberg stand unten am Bildschirmrand, und Ella wusste, dass es Michalewski war, noch ehe eine gesichtslose Frauenstimme sagte: »Bei dem Mann, der gestern Mittag in seiner Wohnung in Berlin Kreuzberg Feuer gelegt hat, bevor er sich an seinem Hinterhofbalkon erhängte, handelt es sich offenbar um einen Voyeur, der über einen längeren Zeitraum seine Nachbarn – «
Ella hob ab und sagte: »Michalewski ist tot. Sie zeigen es gerade in den Nachrichten – «
»Bist du verrückt geworden?«, rief Dany in den Hörer. »Verlass sofort deine Wohnung! Verschwinde von da! Wenn sie dich abhören, wissen sie, dass du da bist!«
Wer bist du?
»Ich bin in der Nähe. Schau dich nicht nach mir um. Ich sehe dich, wenn du rauskommst. Fahr zum Hotel. Wir müssen reden!«
»Woher weißt du, dass ich hier bin?!«
»Ich wusste es nicht, ich hatte es befürchtet, nachdem du nicht im Hotel warst! Mach schon, beeil dich!«
Er unterbrach die Verbindung, und Ella spürte auf einmal, dass sie in Schweiß gebadet war. Sie legte den Hörer zurück und ging zum Fernseher, um ihn auszuschalten. Auf dem Bildschirm erschien jetzt ein Mann, der von einer Textzeile als Hausmeister, 63, identifiziert wurde. »Hatte mit niemandem Kontakt, der Michalewski«, sagte er, »keiner wusste, was er da trieb in seiner Wohnung. Kam nur nachts raus, und Besuch kriegte er auch nie, der Michalewski. Vorgestern Nacht hat er sogar den Notarzt gerufen, da kam dann so eine junge Ärztin und wollte den Schlüssel zu seiner Wohnung – «
Die Kommentatorin sagte: »In diesem Zusammenhang sucht die Polizei nach der Internistin Doktor Ella Bach«, ein neues Foto von Ella, jetzt in Farbe, »die auch im Fall des ermordeten Rettungsassistenten Max Jansen und der tot aufgefundenen jungen Französin Madeleine Schneider als dringend tatverdächtig gilt. Für Hinweise auf den Aufenthaltsort der Gesuchten ist mittlerweile eine Belohnung von – «
Ella schaltete den Fernseher aus. Sie fuhr aus ihrem blutbefleckten Leinenjackett, und bevor sie es achtlos zu Boden fallen ließ, durchsuchte sie automatisch die Taschen, wie sie es immer tat. Sie nahm ihre Ausweise aus der zugeknöpften Innentasche, griff in die linke Außentasche, nichts, die rechte, auch nichts, aber sie ertastete ein Loch, da ist was, stieß mit den Fingerspitzen durch das Loch und fand einen kleinen metallischen Gegenstand. Sie zog ihn heraus: ein Schlüssel, schlank, aber massiv, mit je einem gezackten Bart am Schaft.
Der Schlüssel gehörte ihr nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen, und er passte zu keinem Schloss, das sie kannte.
Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie Freyermuth am Morgen von der Kugel in ihre Arme geschleudert worden war; wie sie ihn gehalten hatte, bis sie nicht mehr konnte, und wie seine Hand dabei aus ihrer Tasche gerutscht war. Was ist das für ein Schlüssel? Hat er ihn mir in die Tasche geschoben? Sie stopfte ihn in ihre Jeans, bevor sie auch die Bluse auszog und fallen ließ. Im Schlafzimmer nahm sie hastig ein frisches Hemd von dem Stapel im Schrank, zog es an, griff nach einer anderen Jacke und stopfte frische Unterwäsche in die Taschen.
Sie lief zur Tür, kehrte jedoch noch einmal zurück ins Wohnzimmer, um die Kassette aus ihrem altmodischen Anrufbeantworter zu nehmen. Als sie die Wohnungstür öffnete, hörte sie schon den Lift im Fahrstuhlschacht nach oben surren. Der rote Knopf in ihrer Etage leuchtete.
So leise sie konnte, eilte sie zur Treppe. Blieb stehen und lauschte. Der Fahrstuhl hielt zwei Etagen unter ihr. Die automatischen Türen öffneten sich. Sie vernahm kein anderes Geräusch, niemand verließ die Kabine. Die Türen schlossen sich wieder. Der Lift setzte sich neuerlich in Gang und surrte ins nächste Stockwerk, wo er ebenfalls hielt.
Die Türen gingen auf, kein Laut sonst, keine Schritte, kein leises Rascheln; die Türen glitten wieder zu.
Mit einem leisen Scheppern der Stahltaue und einem kaum vernehmbaren Rucken näherte sich die Aufzugkabine dem Dachgeschoss. Sie hielt. Die Türen schwangen auf. Sonst geschah nichts.
Ganz weit unten im Treppenhaus erklang ein Kichern. Nur die beiden Jungen aus dem ersten Stock, Brüder, fünf und sieben. Ella beugte sich über das Geländer, sah sie gerade noch wegrennen. Kinder, die alle Knöpfe drücken, und ein Lift fährt los und hält, und du machst dir vor Angst fast in die Hose. Sie ging zum Fahrstuhl, als die Türen gerade zuglitten. Sie drückte den jetzt nicht mehr leuchtenden Knopf, und die Kabine war leer, und sie fuhr nach unten.
Verkleidet mit Sonnenbrille, Kopftuch und Plastiktüte, überquerte sie den Hinterhof. Aus dem Tanzstudio im Rückgebäude erklang rhythmischer Jazz, Cantaloupe Island. Durch den Torweg zum Hof bog sie auf die Akazienstraße. Schon nach ein paar Schritten spürte sie, dass Dany hinter ihr war. Sie ging schnell, denn sie wollte es ihm nicht zu leicht machen. Sie drehte sich nicht nach ihm um, suchte auch nicht nach seinem Spiegelbild in den großen Fenstern der Boutiquen. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber nicht so, dass es auffallen musste. Sie war wütend und empört, wer bist du, du verlogener Scheißkerl, was willst du von mir?
Über der Hauptstraße war der Himmel düster, taubengrau, fast violett. Es wehte kein Wind, und die Hitze nahm Ella den Atem. Auf den Dächern der Autos lag ein weißer Glanz. Die Tische vor den Cafés und Restaurants waren sogar auf der Schattenseite der Straße leer.
Auf einmal war er neben ihr und ging so schnell wie sie, nicht schneller, nicht langsamer. »Hast du den Verstand verloren?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Willst du dich auch mit einem Strick um den Hals unter dem Balkon deiner Wohnung wiederfinden? Oder mit gebrochenem Genick tief unten auf dem Hinterhof, einen Abschiedsbrief in der Tasche?«
Sie antwortete nicht und sah ihn auch nicht an.
»Wo willst du denn hin?«, fragte er.
Sie ging weiter, nicht schneller, nicht langsamer, wich einem alten Bettler aus, überholte zwei junge Japanerinnen. Er blieb zurück, holte sie etwas später wieder ein. Ein schlanker Jamaikaner stand in der Tür seiner Kneipe, winkte ihr zu, und erst als sie ihn lachen sah, fiel ihr ein, dass sie ihn kannte, Joe, er winkt dir zu, weil er dich erkannt hat. Sie winkte zurück. Du kannst nirgendwohin, jeder erkennt dich, du brauchst ihn, verdammter Mist, du brauchst Dany, der vielleicht nicht mal Dany heißt.
Der Franzose überholte sie, ging voraus und blieb vor einem Schaufenster stehen, tat, als betrachte er die Schuhe dahinter. Sobald sie auf seiner Höhe war, schloss er sich ihr wieder an. »Was ist denn auf einmal los mit dir?«, fragte er.
»Wer bist du?«, fragte sie. »Wer, verdammt noch mal, bist du?«
»Mados Bruder, das weißt du doch – «
»Mado ist tot, und sie hatte keinen Bruder!«
Der Franzose blieb überrascht stehen.
Ella erreichte die Ecke, bog nach links in die Hauptstraße und ging inmitten einer arabischen Großfamilie weiter bis zur zweiten Fußgängerampel, dann zum Zebrastreifen, zum Taxistand am Rasenstreifen in der Mitte der Straße. Die Fahrer lehnten an ihren Wagen, die Türen standen weit offen, und über den Motorhauben flimmerte die Luft. Ein zweistöckiger Bus hielt an der Ampel, umgeben von gleißendem Blech in der Mittagsglut.
Jetzt war Dany wieder neben Ella, ein neuer Dany, wie verwandelt. »Mado ist tot?«, fragte er. »Woher weißt du das?«
Sie antwortete nicht.
»Also gut«, sagte er leise, dicht an ihrem Ohr, »ich gebe zu, ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Madeleine war nicht meine Schwester, und ich heiße auch nicht Schneider. Mein richtiger Name ist Daniel Montheilet. Alles andere stimmt. Ich bin wirklich Journalist, und Mademoiselle Schneider hat bei uns angerufen, allerdings nicht mich direkt. Die Chefredaktion hat mir den Auftrag erteilt, weil ich gerade eine Story abgeschlossen hatte. Und weil ich Deutsch spreche.«
Sie sah ihn nicht an, wartete darauf, dass die Ampel grün wurde.
»Ich hätte dir das gleich sagen sollen, ich weiß«, fuhr Dany fort. »Aber vergiss nicht, dass du mir ein Messer an die Kehle gehalten hast. Ich wusste nicht, warum du in Madeleine Schneiders Wohnung gewesen warst, aber ich hatte dich wiedererkannt als die Frau, die mich in der U-Bahn verfolgt hatte. Ich dachte, wenn ich mich als Mados Bruder ausgebe, finde ich schneller heraus, was passiert ist, was für ein Interesse du an ihr hast. Ich musste doch wissen, ob du die Wahrheit sagst. Hättest du mir unter anderen Umständen so schnell anvertraut, dass die Polizei dich für den Täter hält?«
Endlich sah sie ihn an und fragte: »Sag mir eins: Hast du mir wirklich geglaubt, dass ich unschuldig bin oder hast du nur so getan?«
Er zögerte. »Ich habe nur so getan«, gab er zu. »Bis ich die Überwachungsfilme gesehen habe.«
Die Ampel wurde grün. Ella ging los, ohne sich darum zu kümmern, ob er ihr folgte. Sie überquerte den Zebrastreifen, stieg in das erste der wartenden Taxis und zog die Tür hinter sich zu. Als Dany von der anderen Seite einsteigen wollte, drückte sie den Knopf für die Verriegelung. Dabei sah sie durch die geschlossene Scheibe zu ihm auf und sagte: »Ich fahre nicht mit fremden Männern im Taxi.«
Und ich glaube dir nicht.
Das Taxi fuhr los. Der Fahrer fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. An der Ampel sah Ella aus dem Rückfenster. Das nächste Taxi war gleich hinter ihr, mit Dany auf dem Beifahrersitz.