23

Im Hotel blieb sie in der offenen Zimmertür stehen und fragte: »Hast du so was wie einen Presseausweis? «

»Ja.« Dany holte einen eingeschweißten Ausweis heraus, und zeigte ihn ihr, und da stand sein Name, Daniel Montheilet, und seine Redaktion, nouvelobs.com. Es gab sogar ein kleines Foto von ihm unter dem abgegriffenen Kunststoff. »Ich habe noch andere«, sagte er, »mit anderen Namen und von anderen Redaktionen. « Jetzt lächelte er wieder, ein wenig traurig, zum ersten Mal seit damals in seinem Zimmer im Hilton. »Irgendwann muss einer von uns anfangen, dem anderen zu vertrauen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Das habe ich schon hinter mir«, sagte sie. »Jetzt bist du an der Reihe.«

Er drehte sich um, warf einen Blick hinter sich in den leeren Korridor, dann schob er sie ins Zimmer und schloss die Tür. »Hör mir zu, bitte«, sagte er eindringlich. »Auch wenn ich nur ein Journalist bin und nicht Mados Bruder oder sonst ein Verwandter, bedeutet sie mir etwas. Ihr Tod bedeutet mir etwas. Ich bin hierhergekommen, nach Berlin, weil ich ihr helfen wollte und weil wir dachten, dass sie da einer Geschichte auf der Spur war, die erzählt werden müsste. Ich bin zu spät gekommen, um ihr helfen zu können, aber die Geschichte ist immer noch da, und inzwischen ist sie noch brisanter geworden. Vier Tote bis jetzt, und alle hängen vordergründig mit Rochefort, Gladstone & Wentworth zusammen, einer Anwaltskanzlei mit Dependancen auf der ganzen Welt – «

»Ich dachte, von denen hättest du noch nie gehört?«

Er senkte den Kopf, tut mir leid, noch eine Lüge. »Madeleine hatte uns nur gesagt, dass sie durch Zufall auf etwas gestoßen sei, als sie den lang zurückliegenden Mord an ihren Urgroßeltern untersucht habe, und dass jemand sie vor einer Anwaltskanzlei gewarnt habe, eben Rochefort und Konsorten. Jedenfalls sieht es so aus, als scheuten die nicht einmal vor Mord zurück, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit erfährt, was Mado entdeckt hat. So was interessiert uns natürlich, meinen Chefredakteur, den Nouvel Observateur und sein Online-Magazin. «

»Wieso hat sie sich gerade an euch gewandt?«

»Sie sagte, ihr Professor an der Sorbonne hätte ihr den Tipp gegeben.«

»Die Männer in Mados Wohnung sahen nicht aus wie Anwälte«, sagte Ella.

»Nein, das waren Leute von einem privaten Sicherheitsdienst«, sagte er, »vielleicht auch Polizisten. Die Rocheforts, Gladstones und Wentworths dieser Welt machen sich nicht selbst die Hände schmutzig. Sie bezahlen nur den Sold, vervielfachen den Betrag, addieren ihre Arbeitsstunden und stellen alles zusammen wiederum ihren Klienten in Rechnung.«

Er stand dicht vor Ella und sah ihr in die Augen. »Ich weiß, dass du mir nicht mehr vertraust, aber ich brauche deine Hilfe, und du brauchst meine. Du bist eine gute Detektivin, und du hast Mut. Du kennst dich hier aus, ich nicht. Außerdem hast du recht, die wissen inzwischen bestimmt, dass es mich gibt und dass ich auch zu einer Gefahr für sie geworden bin, weil du mir alles gesagt hast, was du weißt. Nur wenn wir Licht in die Dunkelheit bringen, haben wir die Chance, dass die Dunkelheit uns nicht verschlingt.«

Sie sah ihn an, schwieg.

Er schüttelte den Kopf, ganz schwach bloß, als könnte er nicht verstehen, weshalb sie sich so anstellte. »Hilf mir, den Mördern von Max und Mado das Handwerk zu legen. Er war dein Freund, und sie haben ihn getötet. Sie war deine Patientin, und sie haben sie getötet. Aber was am schlimmsten ist: Sie tun alles, um dir all diese Morde in die Schuhe zu schieben, alle, die sie bisher begangen haben und alle, die sie noch begehen werden. Wenn sie – ganz am Ende – auch dich getötet haben, werden sie es so aussehen lassen, als hättest du dich selbst umgebracht, weil du mit deiner Schuld nicht mehr leben konntest. Wie diesen armen Kerl, Michalewski. Willst du, dass wildfremde Leute vor einem Schaufenster stehen bleiben, um deine Leiche so zu sehen? Willst du, dass deine Familie denkt, es sei so gewesen? Deine Freunde? Die ganzen Patienten, die dir ihr Leben verdanken?«

Etwas in ihr schien nachzugeben, und auf einmal verließ sie alle Kraft. Sie streckte nicht einmal die Arme aus. Sie fiel an seine Brust und ihr Kopf schlug gegen seine Rippen. Nach einem Moment, in dem er starr blieb vor Überraschung, spürte sie, wie seine Arme sich hoben. Doch statt sie zu berühren, bewegten sich seine Hände im Abstand von wenigen Zentimetern über ihren Hinterkopf, den Nacken, den Hals, als hätte er Angst, sie an der falschen Stelle anzufassen.

Endlich spürte sie seine Umarmung, doch sie kam zu spät, um noch zu trösten. Sie löste sich von ihm, mit einem Ruck, und sagte: »Wir haben doch keine Chance, Dany – ich habe keine Chance! Sie sind so viele, sie sind überall. Sie töten jeden! Max, Mado, Michalewski, sogar den Anwalt.«

Er antwortete nicht gleich. Nach einer Weile fragte er: »Bist du sicher, dass Mado tot ist? Woher weißt du davon?«

»Freyermuth hat es mir gesagt. Es kam im Fernsehen.«

»Wer hat sie gefunden? Wo?«

»Irgendjemand in der Charité. Angeblich war sie die ganze Zeit da, sie ist nur in dem Chaos nach dem Diskobrand vorübergehend verlorengegangen.« Ella spürte einen pochenden Druck hinter den Schläfen. »Weißt du, die Charité war für mich immer etwas ganz Besonderes«, erklärte sie. »Von dem Moment an, in dem mir klar wurde, dass ich Ärztin werden will, drehte sich für mich alles darum, dort zu studieren, dort mein Praktikum zu machen, dort meinen Beruf ausüben zu können. Nur dort! Es gab bestimmt bessere Kliniken, modernere, schönere, aber für mich kam bloß die Charité infrage. Sauerbruch hat da operiert, das muss man sich mal vorstellen. Und ich habe es geschafft, ich habe es tatsächlich geschafft! Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich für so was hergibt, dass die Klinikleitung sich von Mördern benutzen lässt oder sogar gemeinsame Sache mit ihnen macht. Ärzte, an meiner Charité!«

»Wann war das?«, fragte Dany. »Ich meine, als du wusstest, dass du Ärztin werden willst? Wie alt warst du da?«

»Fünfzehn«, sagte sie.

Damals, in dem Sommer, in dem sie fünfzehn war, lebte sie mit ihren Eltern in einem zweistöckigen Fachwerkhaus am Rand eines Dorfes in der Lüneburger Heide. Das Haus lag gleich neben dem Friedhof, und an heißen Tagen konnte sie im Schatten der Kirche auf einer Bank sitzen und lesen, bis am Abend die Sonnenuntergänge die langen Schatten der Grabsteine über die Gräber warfen. Wenn sie mit ihren Hausaufgaben fertig war und keine Lust zum Lesen oder Fernsehen hatte, ging sie spazieren, meistens allein. Sie schlenderte über die schmalen Straßen, vorbei an den niedrigen, schiefergedeckten Häusern, dem Tabakhändler, der auch Zeitschriften und Leihbücher führte, dem Gemischtwarenladen, der Drogerie, der Apotheke, dem Geschäft für Konfektionskleidung und dem Friseursalon mit dem verchromten Teller über dem Eingang.

Sie trug das lange, kastanienfarbene Haar offen, und man sah sie meistens in einem khakifarbenen Männerhemd, einer kurzen Denim-Hose und ausgetretenen Sandalen. Wegen ihrer langen Beine und des schlanken Halses nannten die Nachbarn sie Antilope , und ihren Vater, den Dorfschullehrer, nannten sie Van Gogh, weil er an jedem Tag der Ferien schon früh mit Leinwand, Staffelei und Farbtasche aus dem Haus stapfte, um die Landschaft rings um das Dorf zu malen.

Wann immer sie konnte, begleitete Ella ihn, sah ihm beim Mischen der Farben zu und dachte, dass sie auch Malerin werden wollte, wenn sie älter war. In jenem Sommer war der Himmel oft bezogen, und im fahlen Licht wirkten die sandigen Wege und das dunkle Malvenrot des Heidekrauts, aus dem hier und dort das Silberweiß einer Birke hervorbrach, auch ohne Pinsel und Leinwand schon wie gemalt. Das flache Land, der bleiern schimmernde Weiher und hinter dem Dorf der Drachenkamm, alles fand sich auf den Bildern ihres Vaters wieder. Dazu die Bauern, die ihre Felder bestellten oder die Wildgänse, die in Schwärmen dem Horizont zustrebten, und immer wieder Sturmwolken. Ella erinnerte sich an das Krächzen der Gänse, den verwehten Glockenklang, das ferne Motorengeräusch von Traktoren und Mähdreschern.

Sie erinnerte sich auch an den Sonntag, an dem der rote Spritzenwagen der Freiwilligen Feuerwehr aus der Kreisstadt auf dem Kirchplatz hielt, nicht wegen der Waldbrände, die um diese Jahreszeit immer wieder ausbrachen, sondern um einen Jungen abzusetzen. Sie saß auf der Friedhofsmauer und beobachtete den Jungen, der da in seiner tiefblauen Uniform auf dem Kirchplatz stand, den Helm unter dem Arm, eine bauchige Ledertasche neben den Stiefeln. Er war groß und schlank, und mit seinem pechschwarzen Haar fast zu schön für jemanden, der sich in eine Uniform stecken ließ, nur um auf einem roten Wagen herumfahren zu können.

Als der Spritzenwagen fort war, kniff der Junge die Augen zusammen, denn der Staub hing noch in der heißen, windstillen Luft. Er sah sich um, als wüsste er nicht genau, wo er war, dann hob er seine Tasche auf und ging über die Hauptstraße auf den Friedhof zu, vorbei an dem Tabakhändler, dem Gemischtwarenladen, dem Gasthof und dem Friseursalon mit dem verchromten Teller über der Eingangstür, der an manchen Tagen im Wind hin und her schlug, aber nicht an diesem.

Ella rührte sich nicht vom Fleck. Sie saß auf den warmen Steinen der Mauer, mit dem Rücken zu den Gräbern, und ließ die Beine baumeln, während sie zusah, wie der Junge näher kam. Als er schon fast an ihr vorbei war, blieb er stehen. Er sah sie an und lächelte, wie außer ihm noch niemand gelächelt hatte, wenigstens konnte sie sich nicht daran erinnern. Der Mund wurde ihr trocken unter dem Blick seiner Augen, die ungefähr den Farbton seiner Uniform hatten. Von Nahem konnte sie erkennen, dass er älter sein musste, als sie gedacht hatte. Ein junger Mann, kein Junge mehr. Die Haut in seinen Augenwinkeln zeigte bereits ein Netz kleiner Fältchen. Hey, sagte er und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ella sagte auch Hey, mehr nicht.

Er strich sich die Haarsträhne noch mal aus der Stirn, aber auch diesmal fiel sie sofort wieder zurück. Ella formte eine Kaugummiblase vor dem Mund, Erdbeergeschmack, und ließ sie platzen.

War schön, mit dir zu reden, sagte er und ging weiter, den Helm in der einen, die schwarze Ledertasche in der anderen Hand. Ella holte tief Luft und hätte sich beinahe an dem Kaugummi verschluckt. Kaum dass der Junge um die Ecke ihres Hauses verschwunden war, sprang sie von der Mauer, und als sie stand, stellte sie fest, dass ihre Knie zitterten, und das war ihr noch bei niemandem passiert.

Sie folgte dem Jungen, der kein Junge mehr war, mit gesenktem Kopf, wie zufällig. Wenn man jemanden verfolgte, musste es immer wie zufällig aussehen, so viel wusste sie schon. Die weiß getünchten Häuser und die Straße blendeten im Sonnenlicht, und sie sah nichts außer ihren nackten Füßen in den staubigen Sandalen und darüber die langen, braungebrannten Beine, die sich wie von selbst bewegten. Ihr Herz schien plötzlich doppelt so groß zu sein, und es schlug viel schneller als sonst.

Sie bog um die Ecke und sah gerade noch, wie der Junge in der blauen Uniform das Haus neben der Pfarrei betrat. Vor der Schwelle lag ein Schäferhund, der gedöst zu haben schien, jetzt aber den Kopf verdrehte, damit er sie im Auge behalten konnte. Gleich darauf verschwand der Junge im Inneren des Hauses. Außer dem Hund und Ella war die Gasse menschenleer, denn das halbe Dorf sah zu, wie draußen auf dem Bolzplatz die Karussells und das Riesenrad und der Autoscooter der Kirmes abgebaut wurden.

Ella sagte Hey zu dem Hund, bot ihm das schillernde Spektakel einer vor ihrem Gesicht zerplatzenden Kaugummiblase und lehnte sich neben der Tür an die Hausmauer, um sich darüber klar zu werden, was gerade mit ihr geschah. Durch den Stoff des Hemdes spürte sie die Wärme des Mauerwerks. Nach einer Weile schloss sie die Augen und ließ sich daran hinunterrutschen, bis sie mit ihrem Gesäß die Fersen berührte. Der Hund sah sie an, und sie sah den Hund an und sagte, manche Wesen laufen anderen eben zu.

Nach einer weiteren Weile wurde über ihr im Dachgeschoss ein Fenster geöffnet. Aus dem Zimmer dahinter drang Musik auf die Straße, ein helles, trauriges Sopransaxophon, eine Trompete, Klavier und Klarinette. So lernte sie an einem Tag Paul Mathis, Rettungssanitäter bei der Feuerwehr, und Sidney Bechet, Jazzmusiker, kennen und es dauerte nicht mehr lange, bis sie in jenem Sommer zur Musik des einen ihre Unschuld an den anderen verlor.

Sie sahen sich die ganzen Ferien über, immer heimlich. Noch in niemanden war sie so verliebt gewesen wie in diesen Jungen mit dem schwarzen Haar, das ihm andauernd in die Stirn fiel. Sie ging nicht mehr so häufig mit Van Gogh zum Malen, und zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie ihm nicht so sehr zu fehlen schien, wie sie befürchtet hatte. Dafür fehlte sie jetzt Paul, das sagte er wenigstens. Sie begleitete ihn überallhin, wo auf den Dörfern die Feuerwehr zum Einsatz kam; wo Brandmeister und Sanitäter gebraucht wurden, fünf Wochen lang, auf Jahrmärkten, bei Schützenfesten und Seifenkistenrennen.

Es geschah auf einem Jahrmarkt an ihrem letzten Samstag gegen zehn Uhr abends. Paul und ein anderer Sani kümmerten sich um einen Betrunkenen, der beim Autoscooter gegen einen Stützpfeiler gerannt war und aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. Ella bummelte allein über den Rummelplatz. Ein Autoscooter, ein Kettenkarussell, ein paar Wurf- und Schießbuden und ein Riesenrad, mehr war da nicht, außer dem Bierzelt. Überall roch es nach gebrannten Mandeln, Bratwurst und Zuckerwatte. Und nach der Asche der Kartoffelfeuer auf den Feldern, aber nur ganz schwach und nur, wenn der Wind richtig stand. Der Wind war abends jetzt schon so kühl, dass Ella ihren weißen Lackledermantel übergezogen hatte, den, der bis zu den Knien reichte, außerdem trug sie die hellblauen Jeans und rote Stiefeletten.

Aus den Lautsprechern der Schausteller leierten die Schlager von vor tausend Jahren, wenn die Kerle nicht gerade selbst mit ihren heiseren Stimmen ins Mikro brüllten, das sie immer zu nah an den Mund hielten, sodass man sie kaum verstehen konnte. Aber Ella hörte sowieso nicht zu. Sie achtete auch nicht auf das Lachen der Kinder oder das Klingeln vom Haut-den-Lukas oder das Scheppern der Dosen in der Wurfbude. Nicht mal das Grölen der jungen Burschen, die in Trauben über den Platz schlenderten, nahm sie wahr.

Sie fühlte sich seltsam, gleichzeitig wütend und traurig, sehnsüchtig und nervös und zärtlich. Nichts passte zusammen, aber alles zerrte an ihr, weil sie nicht wusste, wie es nach den Ferien weitergehen sollte mit ihr und Paul. Sie musste ins Internat zurück, dreihundert Kilometer weit weg, dreihundert Kilometer und drei Jahre bis zum Abi, und dazwischen nur die Ferien.

Ziellos ließ sie sich mit dem Strom der Schaulustigen treiben. Und als sie an einer Schießbude vorbeikam, inspizierte sie die Preise in dem Regal an der Rückwand der verspiegelten Bude: Stofftiere, Puppen mit Tüllkleidern, Spielzeugautos, Fußbälle dazu und noch jede Menge Trostpreise. Sie entschied sich für einen Pandabär ganz oben. Sie bezahlte und schnappte sich das nächste Gewehr, das frei wurde. Sie kniff ein Auge zu, bis sie die bunten Glühbirnen ringsum nicht mehr sah, nur noch die kleinen Enten, die durch ihr Schussfeld glitten. Sie schoss, setzte ab, repetierte, visierte, schoss wieder. Sie schoss das ganze Magazin leer, und keine von den Enten erreichte aufrecht die sichere Deckung.

Als sie fertig war, reichte sie dem Schießbudenbesitzer das Gewehr zurück. »Den Panda ganz oben, bitte«, sagte sie.

»Wo hast du das denn gelernt?«, fragte der Besitzer und betrachtete sie mit missmutigem Respekt, während er nach einer Holzstange mit einem Haken griff, um den Stoffpanda herunterzuangeln. Sie zuckte mit den Schultern, nahm den Bären, der ziemlich muffig roch, und klemmte ihn unter den Arm. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sich am anderen Ende des Platzes eine Menschentraube gebildet hatte; sie sah nur die Rücken, dicht an dicht, reglos. Die Menschen schienen auf etwas zu starren, das sich zu ihren Füßen abspielte.

Zuerst dachte Ella an eine Prügelei, denn auf jedem Dorffest gab es Prügeleien: brutale, schnelle Schläge, Blut und Schweiß. Sie schaute nie hin, denn ihr wurde nur schlecht davon. Aber hier herrschte Stille, allein die Musik aus den Lautsprechern schallte über den Platz. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Ella zu der Menschentraube. Sie hatte sie noch nicht ganz erreicht, da sah sie schon Paul, sein blaues Hemd, die reflektierenden Streifen auf der Hose, sah, wie er im Licht der bunt blinkenden Glühbirnen neben einem auf dem Rücken liegenden Mädchen kniete.

Das Mädchen war blass wie Magerquark, und sein linker Arm stand in einem merkwürdigen Winkel vom Oberkörper ab, wie der einer Gliederpuppe. Eins seiner nackten Beine zitterte heftig, und Ella bemerkte, dass es nur einen Schuh anhatte. Der andere lag neben ihm im Gras, neben dem Mädchen und neben Paul, der sich über das Gesicht des Mädchens beugte. Dann war sie nah genug, um zu erkennen, dass alles an dem Mädchen zitterte, als wäre ihm kalt – die Beine, der Hals, der Kopf, die Lippen und der rechte Arm, nur der linke nicht. Seine Augen waren offen, und erst dachte Ella, es starre Paul an, bis Paul sich bewegte, und da sah sie, dass die Augen nur so starrten, ins Leere, in die Nacht, zu den Sternen hinauf.

Das Unheimliche war, dass es kein Blut gab, überhaupt kein Blut auf der blassen Haut, nur die zitternden Glieder und das Starren der Augen und den eingedrückten Brustkorb, von der Gondel, die heruntergefallen war und das Mädchen unter dem Riesenrad getroffen hatte.

Keiner von den Umstehenden sagte etwas. Alle standen nur da und sahen zu, wie Paul und der andere Sanitäter dem Mädchen zu helfen versuchten. Paul sagte etwas, er redete mit dem Mädchen. Er hielt seine Hand und redete mit ihm, und plötzlich krümmte sich das Mädchen, ohne dass es aufhörte, zu den Sternen hochzuschauen. Er griff in seine Notfalltasche, holte eine Spritze heraus und injizierte eine farblose Flüssigkeit in eine Vene an dem abgewinkelten Arm des Mädchens. Etwas später hörte es auf zu zittern, und noch etwas später schloss es die Augen.

Ella hatte nur Augen für Paul, für das, was er tat. Genau wie die Leute aus dem Dorf war sie in ehrfürchtigem, ein wenig furchtsamem Staunen erstarrt, als würde sie Zeugin eines magischen Aktes. Das Zauberwort hieß: Erlösung. Das war der Moment, in dem sie endlich wusste, was sie werden wollte, wenn sie mit der Schule fertig war, und sie war es geworden, bis auf das mit Paul, das hatte nicht geklappt.

»Damals hätte ich dich gern kennengelernt«, sagte Dany.

Ich mich auch, dachte sie.