24

Randolph Freyermuth war um kurz vor sieben Uhr morgens erschossen worden, und auch fünf Stunden danach brachte noch kein Sender die Nachricht von seinem Tod.

»Wieso bringt keiner eine Meldung?«, fragte Ella. »Sie müssten die Leiche doch längst gefunden haben, jemand, der die Mülltonnen reinholt, ein Hausmeister, irgendjemand.«

Dany schaltete auf den nächsten Fernsehkanal. »Bestimmt war der Schütze nicht allein. Wahrscheinlich haben sie ein Team in der Nähe gehabt, das sich um die Leiche kümmert.«

»Warum?« Ella ging unruhig neben dem Bett auf und ab. »Warum haben sie ihn nicht liegen lassen, um seinen Tod auch noch mit mir in Verbindung zu bringen? Bestimmt hat mich jemand in der Gegend gesehen.«

Dany sagte: »Ein Kopfschuss aus einer Automatik passt nicht zu deinem modus operandi. Wenn sie dich mit seinem Tod in Verbindung bringen wollen, werden sie das auf andere Weise tun. Sie brauchen dazu keine Leiche. Vielleicht haben sie dich mit einem Teleobjektiv fotografiert, wie er sich sterbend an dich klammert und du dich über seine Leiche beugst, sein Blut an deinen Händen. Außerdem können sie es sich nicht leisten, dass die Polizei zu früh in seiner Kanzlei auftaucht und dort alles auf den Kopf stellt, jedenfalls nicht, bevor sie die DVD in ihren Besitz gebracht haben. Bei einem wie Freyermuth bleibt die Untersuchung vielleicht nicht in den Händen der Beamten, die sie gekauft haben.«

»Glaubst du, sie wissen, dass er die DVD hatte?«

»Warum sollten Sie sonst versucht haben, dich zu erschießen? «, sagte Dany. »Bisher wollten sie immer, dass du mit ihnen redest. Sie wollten, dass du ihnen sagst, was du weißt. Dass sie dich jetzt ausschalten wollen, zeigt, dass sie nicht mehr daran interessiert sind. Entweder glauben sie nicht mehr, dass du etwas hast oder sie wissen, wo sie es herbekommen können – beispielsweise von Freyermuth – und wollen jetzt nur noch die Mitwisser aus dem Weg räumen.«

Ella stockte der Atem, als sie ihn so reden hörte; als sie hörte, wie unbeteiligt er die Gründe aufzählte, aus denen jemand sie töten wollte. Keiner davon hatte mit ihr zu tun. Sie war nur ein Kollateralschaden, wie Max. Sie blieb stehen. »Wie sind sie überhaupt auf Freyermuth gekommen? Haben Sie sein Telefon angezapft? Wenn, dann müssen sie schon vorher an ihm dran gewesen sein.«

»Sunny, seine Tochter«, sagte Dany. »Sie war Mados Freundin, und nachdem Mado in ihr Fadenkreuz geraten war, haben sie bestimmt jeden unter die Lupe genommen, mit dem sie Kontakt hatte. Leute wie die verlieren keine Zeit. Sie arbeiten schnell und gründlich und überlassen nichts dem Zufall. Jetzt, wo er tot ist, werden sie versuchen, anders an die DVD zu kommen.«

Ella fiel der Schlüssel wieder ein, den sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte. »Sie können doch nicht einfach in Freyermuths Kanzlei auftauchen, sämtliche Mitarbeiter erschießen, den Safe aufbrechen und mit der Disc wieder verschwinden.«

Dany griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton des Fernsehers lauter. Auf dem Bildschirm sah man einen gebräunten Mann mittleren Alters mit mattsilbernem Haar – eleganter dunkelgrauer Anzug, hellblaues Seidenhemd und bordeauxrote Krawatte –, der im Blitzlichtgewitter zahlreicher Fotografen aus einem schwarzen Bentley stieg. Ein Sprecher erklärte: »Im Fall des vor einigen Tagen spurlos verschwundenen französischen Bankiers Raymond Lazare – hier eine Archivaufnahme – verdichten sich die Hinweise, dass er das Opfer einer Entführung geworden sein könnte. Der 55jährige Lazare, der einer alten elsässischen Unternehmerfamilie entstammt, gehört nicht nur zu den mächtigsten Männern der Hochfinanz, er ist auch ein gefragter Berater europäischer und amerikanischer Regierungsspitzen. In letzter Zeit hat er sich wiederholt für Staudämme gegen die frei fließenden Kapitalströme internationaler Investmentbanken und Hedgefonds sowie für die Einrichtung staatlich kontrollierter Ratingagenturen ausgesprochen – «

Lazare bewegte sich lächelnd und Hände schüttelnd wie ein Popstar auf das Tor des Elysée-Palastes zu. Plötzlich durchzuckte Ella ein elektrischer Schlag, als sie die Menschen sah, die sich im Zwielicht des beginnenden Abends um den Bankier drängten. »Dany, da! Siehst du das?!«

Unter den Schaulustigen, die sich vor- und zurückbewegten, stand ein Mann völlig reglos, als gäbe es keinerlei Berührung zwischen ihm und der Menge ringsumher. Er stand da und starrte Lazare an, aber nicht nur Lazare – auch die junge Frau, die hinter ihm die Limousine verließ. Der Mann hatte eine kräftige Nase und ein breites Kinn. Seine Augen lagen im Schatten einer Hutkrempe, aber Ella erkannte ihn trotzdem wieder, die verpflanzte Haut auf der verbrannten linken Gesichtshälfte, deren Puppenrosa im Widerschein des Blitzlichtgewitters nicht so deutlich zur Geltung kam, aber trotzdem erkennbar war.

Die Kamera schwenkte auf die Frau. Sie trug ein elegantes Abendkleid aus dunkelroter Seide, fuhr sich im Aussteigen mit einer schlanken Hand über die Wange und warf den Fotografen ein kurzes, gekonnt scheues Lächeln zu.

»Ist das seine Geliebte oder seine Tochter?«, fragte Dany.

Ein gedämpfter Klingelton erklang, unvertraut und hartnäckig, und Ella brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ihr neues Handy in der Jacke auf dem Bett war. Sie holte es hervor und entdeckte eine unbekannte Nummer auf dem Display, nahm den Anruf aber trotzdem entgegen. »Ja?«

»Sehr gut, du meldest dich nicht mit deinem Namen«, sagte Annika dicht an ihrem Ohr. »Und du klingst ziemlich gut für jemanden, den sie ohne Brandsalbe in einen aktiven Vulkan geschmissen haben!«

»Anni!«

»Ich habe im Fernsehen verfolgt, was bei dir los ist!« Annika schien zu kichern. »Selbst wenn ich dir vorher nicht geglaubt hätte, dass die Polizei lügt und du Max nicht umgebracht hast – so viele Morde, wie sie dir jetzt in die Schuhe schieben wollen, kannst du gar nicht begangen haben!«

»Wo bist du denn?«

»In Berlin. Morgen ist die Beerdigung. Auf dem Dorotheen-Friedhof in Mitte. Um neun.« Sie atmete tief ein und aus, als läge ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Dann lachte sie kurz, aber nicht fröhlich. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass ich bei dir wohnen kann – oder sollte, wenn ich am Leben bleiben will –, aber wir sehen uns doch bald?«

Ella wurde auf einmal leicht zumute; es war Annikas Stimme und alles, was sie in ihr anrührte. »Sag mir nur, wann und wo.« Sie sah, dass Dany die Augenbrauen hob und drehte ihm den Rücken zu.

Annika sagte: »Ich weiß nicht, Berlin hat sich anscheinend ziemlich verändert in den letzten Jahren. Ich bin jetzt im Hotel, und ich möchte mich etwas ausruhen – «

»Ausruhen?«, fragte Ella ungläubig. »Du?«

»Ja, ich, verdammt, Bambi!« Jetzt klang Annikas Stimme fast brüchig. »Die Fahrt war anstrengend, erst von London zur Fähre und danach weiter mit dem ICE – «

»Warum bist du nicht geflogen?«

»Fliegen ist nicht mehr drin, Bambi, viel zu kompliziert bei meinem Zustand. Ich rufe dich wieder an. Wollte dir nur sagen, dass ich hier bin und dich sehen möchte.«

»Deinem Zustand, was heißt das?« Ella spürte, wie das leichte Gefühl an den Rändern zerfaserte. »Geht es dir nicht gut, Anni?«

»Nein, kann man nicht direkt sagen«, lautete die Antwort. »Der Zug ist längst abgefahren. Was heißt abgefahren, die ganze Strecke ist stillgelegt. Die haben sogar schon die Schienen rausgerissen und woanders verlegt. Aber vermutlich geht es mir immer noch besser als dir.« Wieder der Laut, der wie ein Kichern klang. »Weißt du noch, früher – unser Lied aus Annie get your gun? Anything you can do I can do better – «

»I can do anything better than you«, fiel Ella ein.

»War eine schöne Zeit damals. Ach, und vergiss bloß nicht, dich an die Anweisungen zu halten, die ich dir auf die Mailbox gesprochen habe.« Ein Geräusch erklang, als fiele etwas zu Boden. Annika schien auf einmal ein Stück weit entfernt vom Hörer, der ebenfalls hinunterfiel, ohne dass die Verbindung unterbrochen wurde. »Bambi … Scheiße … verdammt!«, konnte Ella hören, dann einen Laut – halb Keuchen, halb Stöhnen –, gefolgt von einem Klappern, wie wenn jemand mit einer Faust schnell hintereinander auf Teppichboden schlug. Eine Sekunde später gab es ein Krachen, und die Leitung war tot.

Ella stand wie erstarrt neben dem Bett. Ein eisiges Gefühl kroch ihr die Wirbelsäule hinauf bis unter das Haar. »Anni?!« Sie starrte ihr Handy an, die Nummer auf dem Display, und drückte hastig mit dem Daumen die Rückruftaste, aber sie erhielt nur ein Freizeichen, das nicht aufhörte.

Was um Himmels willen ist da los?, dachte sie ängstlich und wütend zugleich.

»Wer war das?«, fragte Dany hinter ihr.

»Eine Freundin. Die Schwester von Max. Wir haben zusammen studiert. Sie ist hier, um seine Beerdigung zu regeln.«

»Wann ist die Beerdigung?«

»Morgen.«

»Willst du hingehen?«

»Nein. Doch. Ich weiß nicht. Er war mein bester Freund.«

»Die Polizei wird da sein. Und die anderen auch. Es ist zu gefährlich.«

Ella warf das Handy aufs Bett und tat, was Annika vermutlich an ihrer Stelle getan hätte, früher, als sie sich noch nicht auszuruhen brauchte. Sie holte den Schlüssel aus der Tasche. »Den hier habe ich vorhin gefunden, in meiner Jacke.«

»Was schließt der auf?«, fragte Dany.

»Mein Herz jedenfalls nicht.«

»Einen Tresor vielleicht.« Er nahm den Schlüssel, betrachtete ihn von allen Seiten. »Kann es sein, dass Freyermuth ihn dir in die Tasche geschoben hat?«

»Er hat gesagt, er würde mir die DVD auf keinen Fall geben«, erklärte Ella. »Ich glaube, er dachte, sie wäre so etwas wie eine Lebensversicherung für ihn und seine Tochter.« Sie schob den Schlüssel wieder in die Tasche, verstaute das Handy in der Jacke, zog die Jacke an und fuhr in ihre Schuhe. »Er hatte nicht viel Zeit, es sich anders zu überlegen.«

»Wo willst du hin?«

»KuDamm.«

Unterwegs hörte sie die Mailbox ihres Handys ab. Annikas Anruf war um kurz nach halb sieben gekommen. »Pass auf«, sagte sie, »ich bin’s noch mal. Ich will dich nicht beunruhigen, aber ich möchte dir noch ein paar Tipps geben, die du vielleicht brauchen kannst, falls du überwacht wirst. Du kannst telefonieren, aber nur aus öffentlichen Telefonzellen oder mit Einweghandys. Aber ruf niemanden an, den du kennst, vor allem keine Freunde, du bringst sie dadurch in Gefahr. Wenn du doch telefonieren musst, melde dich nicht mit deinem richtigen Namen und vermeide jede Äußerung, durch die man dich identifizieren könnte. Benutze nie Kredit- oder Bankkarten, wenn du was kaufst. Am besten hast du immer genug Bargeld bei dir.«

Ihre Stimme klang atemlos, und im Hintergrund hörte Ella Bahnhofslärm. »Geh nicht noch einmal in deine Wohnung, unter gar keinen Umständen, auch nicht zu deinem Wagen. Komm nicht auf die Idee, deine E-mails abzufragen, auch nicht von einem Internetcafé aus. Wenn du in ein Hotel oder eine Pension gehst, bleib nie länger als eine Nacht. Sprich nicht mit Fremden, nirgendwo. Vorsicht, wenn sich jemand an dich heranmachen will, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Sag keinem Menschen, wo du gerade bist oder hingehst. So, das war’s für den Moment. Wenn mir noch was einfällt, melde ich mich wieder.«

Es war der einzige Anruf, und Ella dachte noch immer über Annika nach, als sie drei Stunden später oben auf der Terrasse einer Bar am Kurfürstendamm saß. Woher weißt du so viel über diese Dinge, Anni?

Von ihrem Platz konnte sie das Haus sehen, in dem die Büros von Freyermuth, Herzog & Conradi, Patentanwälte, lagen. Es war ein neues, mehrstöckiges Gebäude mit rotbraunen Dachschindeln, das den Eindruck erwecken wollte, es hätte schon immer an dieser Ecke des KuDamms gestanden. Die Fassade spielte mit Elementen der Jahrhundertwende, aber es gab dunkelrote Metalljalousien, die sich je nach Stand des Sonnenscheins automatisch vor den Fenstern hoben und senkten, und die Scheiben bestanden aus getöntem Sicherheitsglas. Zu beiden Seiten des Eingangs waren auf Hochglanz polierte Messingschilder mit den nüchternen Namen von Anwaltssozietäten, Steuerberaterkanzleien und Wirtschaftsprüfern in den massiven Sandstein gedübelt. Marmortreppen führten vom Foyer zu den mit rostfreiem Stahl verblendeten Aufzügen.

Ella saß im Schatten der Terrassenmarkise, und sie konnte nicht nur das Gebäude sehen, sondern auch wann das Licht in den Büros hinter den Fenstern an- und ausging. Sie konnte die Kronen der Platanen auf den breiten Bürgersteigen sehen und die Ruine der Gedächtniskirche vor dem Abendhimmel und etwas weiter rechts den weiß strahlenden Mercedesstern auf dem Bürohochhaus mit den vielen erleuchteten Fenstern. Sie konnte auch das obere Deck der vorbeifahrenden Busse und ein Stück vom KaDeWe sehen. Sogar die Züge konnte sie sehen, die klobigen gelben S-Bahn-Waggons und die schlanken ICEs, die über die rostigen Eisenstelzen der Hochstrecke zum Bahnhof Zoo rollten.

Später konnte sie sehen, wie der Himmel seine Farbe veränderte und wie die Straßenbeleuchtung anging und der bunte Neonzauber alles veränderte, den Tag und den Abend. Aber das meiste von dem, was sie sehen konnte, interessierte sie nicht. Sie interessierte, wann das Licht erlosch in den Fenstern, hinter denen Freyermuth, Herzog & Conradi Patentanträge vorbereiteten, formulierten oder anfochten. Sie interessierte, wer das Gebäude betrat und wer es verließ und ob bekannte Gesichter darunter waren.

Dann begann es zu regnen, und der stete Wind, der den KuDamm hinaufwehte, wurde zum Sturm. Dichter Regen peitschte die Platanen und die Stromleitungen und Laternen über der Straße, und bald konnte sie nichts mehr sehen außer dem Regen.

Sie flüchtete ins Innere der Bar, genau wie Dany und die anderen Gäste; sie war nur nicht so fröhlich wie der Rest. »Wir müssen warten, bis die Putzkolonne anrückt«, sagte sie. »Wir müssen irgendwie ins Gebäude reinkommen. Wir bestechen jemanden, damit er uns seinen Overall überlässt oder was die sonst tragen. Was Besseres fällt mir nicht ein. Dir?«

Dany zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf und strich sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn, genau wie Paul es getan hatte. Seine Augen schienen grauer geworden zu sein, sie spiegelten den Regen und etwas von dem Licht über der Straße.

Er winkte ihrer Kellnerin und bezahlte die Rechnung. Unten drängten sich die Gäste, die von ihren Tischen auf dem Trottoir ins Innere gestürzt waren, auf der Suche nach Plätzen. Der Regen schlug gegen die Frontscheiben der Bar, und die Straße sah aus wie ein schwarzer Fluss voller Autos, die auf dem Wasser fahren konnten. Bunte Gischt schien um die Ampeln zu spülen. Dunst stieg wie Rauch vom Asphalt auf. Die Häuser auf der anderen Seite verschwanden hinter den herabklatschenden Fluten, und die Luft war plötzlich schwer und kalt.

Als die Fußgängerampel hinter dem Regenvorhang grün wurde, rannten Ella und Dany los und über den unsichtbaren Zebrastreifen. Auf der anderen Seite wandten sie sich nach links, schon durchnässt bis auf die Haut. Kurz vor dem Eckgebäude mit der erleuchteten Lobby bemerkte Ella drei Gestalten, zwei Männer in Windjacken, einer im Regenmantel, die durch den prasselnden Vorhang auf sie zusteuerten. Ohne etwas zu sagen, packten zwei der Männer Danys Arme und einer ergriff Ellas Hals, so wie man eine Katze packt, damit sie sich nicht wehrt. Dann schoben und zogen alle drei sie unter das Vordach der erleuchteten Lobby.

Die Eingangstür war geschlossen. Der Mann im Trenchcoat drückte mehrmals schnell hintereinander den Messingknopf neben den Namen Freyermuth, Herzog & Conradi. Als in der Gegensprechanlage ein Knacken ertönte, hielt er einen Ausweis in den Lichtkegel der Videoüberwachung, aber so, dass sein Gesicht dahinter verschwand, und sagte: »Hauptkommissar Kleist, Kripo Berlin. Würden Sie uns bitte öffnen?!«