28

Unter der Jannowitz-Brücke wurde das Turbinengeräusch lauter, und die Bugwelle des Boots schlug gegen den Betonpfeiler in der Mitte des Flusses. Im Schatten der Brücke war die Luft kühl, aber dahinter lag die Nachmittagssonne wieder gleißend auf dem Wasser, nur die Konturen der Gebäude am Ufer waren schärfer geworden. Sie passierten die Brücke bereits zum zweiten Mal, und noch immer gab es kein Zeichen von Professor Forell. Nehmen Sie die Rundfahrt, die mittags an der Anlegestelle im Nikolaiviertel startet und bleiben Sie an Bord, bis ich Kontakt mit Ihnen aufnehme, hatte er Dany aufgetragen, mit einer Stimme, die gewohnt war, dass man ihren Anordnungen Folge leistete.

Ella und Dany waren gleich nach Betreten des Boots ganz nach hinten gegangen, wo sie im Freien saßen und die anderen Passagiere im Blick hatten. Die Bänke vor ihnen waren voll besetzt: eine Gruppe schnatternder Japaner mit ihren Kameras, mehrere ältere Amerikaner in roten und blauen Windjacken, komplett mit Rucksäcken, Baseballcaps und luftgepolsterten Laufschuhen; eine Schulklasse: kleine Mädchen mit Kopftüchern, lärmende Jungen mit Kapuzenjacken oder tief ins Gesicht gezogenen Wollmützen. Eine Handvoll arabische Touristen und zwei Dutzend ärmlich gekleidete Besucher aus der Provinz.

Hier oder da hielt ein Mann ein Fotohandy in die Höhe, knipste, betrachtete das Foto und fotografierte weiter: den S-Bahnhof hoch über dem Ufer, den Glaspalast mit der Chinesischen Botschaft auf der gegenüberliegenden Seite, die Uferpromenade, die alten Bäumen vor den herandrängenden Hochhäusern.

Immer wenn jemand das Handy in ihre Richtung hielt, wandte Ella rasch das Gesicht ab, trotz Sonnenbrille, Schal und Muslima-Kopftuch, nur zur Sicherheit. Sie vermutete, dass Forell vom Pier aus beobachtet hatte, wie sie an Bord gegangen waren, bevor er selbst das Boot betreten hatte. Sie nahm alle männlichen Passagiere genau in Augenschein, zoomte auf den einen oder anderen zu wie die Kamera in einem Videoclip, nein, der nicht, schwenkte weiter, der da vielleicht, kehrte noch mal zurück, oder doch der?, sortierte aus. Keiner sah wie ein Professor aus, jedenfalls nicht so, wie sie sich einen Professor vorstellte, und am Ende der ersten Rundfahrt hatten alle das Boot verlassen bis auf sie und Dany, eine Frau und zwei weitere Männer.

Vielleicht hatte er es sich anders überlegt. Vielleicht kam er gar nicht.

Die beiden Männer saßen rechts und links vom Mittelgang ganz vorn, die Frau zwei Reihen vor ihr. Der Mann links vom Gang war nicht sehr groß, aber kräftig, vielleicht ein Arbeiter. Der Mann auf der anderen Seite war schlank und ebenfalls nicht sehr groß. Er trug einen hellen Filzhut, eine eierschalenfarbene Leinenhose mit altmodischen Aufschlägen, Schnürschuhe aus bordeauxrotem Wildleder und unter einem kastanienbraunen Kammgarnjackett ein hervorragend dazu passendes hellblau und weiß gestreiftes Hemd mit gerundetem Kragen. Und eine Fliege, tatsächlich eine Fliege, rot wie die Schuhe und gleichgültig vorgestreckt, dazu noch schief. Die viereckige goldene Uhr an seinem linken Handgelenk wirkte teuer, die Schildpattbrille ebenso, und wie um den Gesamteindruck abzurunden, hielt er eine Ausgabe des Independent im Schoß.

Auf dem Platz neben ihm lag eine gefütterte Jiffy-Tasche.

Der könnte es sein, dachte Ella, obwohl er nicht das geringste Interesse an ihr oder Dany zu haben schien. Und wenn es sich um eine Falle handelt? Wenn Forell sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt hat? Wenn er einer von ihnen ist?

Weiter vorn vor dem Bug spannte sich die Michaelbrücke über die Spree, und linker Hand, noch weiter voraus, ragte die Silhouette einer Kirche auf. Die Luft war frisch; manchmal wurden ein paar gelbe Ahornblätter auf das Wasser geweht. Im diesigen Blau des Himmels glitten blendend weiße Möwen unter dem Wind dahin, ließen sich vom Luftwiderstand tragen, und nur ab und an halfen sie mit sparsamen Flügelschlägen nach. Ein paar flogen dicht neben dem Boot, ihre krächzenden Schreie klangen mechanisch, als wären ihre kleinen Kehlen aus Metall. Eine oder zwei stießen so tief herab, dass sie mit den Bäuchen fast die messinggelbglitzernden Wellen berührten.

»Vielleicht kommt er gar nicht«, sagte Ella. »Vielleicht hat er es sich anders überlegt.«

»Er kommt«, antwortete Dany.

Ella sagte: »Das ist die zweite Rundfahrt. Er hatte eine Stunde Zeit, und jetzt fängt alles von vorn an.«

»Er kommt ganz bestimmt«, sagte Dany. In den Gläsern seiner Sonnenbrille spiegelte sich ein Teil von Ellas Gesicht, außerdem der Himmel über dem Glasverdeck des Boots und die Rücken der Passagiere vor ihnen. »Er kam mir nicht vor wie der Typ, der etwas sagt, was er dann nicht tut.«

»Was ist er denn für ein Typ?«, fragte Ella.

Dany legte den Kopf in den Nacken, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. »Wikipedia beschreibt ihn als eine Art Homme des lettres – brillanter Gelehrter, Fachbereiche Geschichte und Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl in Tübingen, Lehrstuhl an der Humboldt-Universität hier in Berlin, Gastdozent an der Sorbonne und in Havard, dazwischen ein paar Jahre als Staatssekretär im Finanzministerium, Redenschreiber für den letzten Bundespräsidenten, mehrere Bücher über die europäische Einigung und das deutsch-französische Verhältnis – «

Gerade als sie unter der Michaelbrücke durchfuhren, stand der Mann mit dem Independent auf und kam auf sie zu, wobei er mit der freien Hand die Rückenlehnen der Bänke berührte, um sich abzustützen. Als er sie erreicht hatte, konnte Ella sehen, dass die Haare unter dem Hut bereits silbrig waren; fünfundfünzig, dachte sie, vielleicht sogar sechzig. Seine Haut war von einem weißlichen Grau, sein Mund auf einer Seite herabgezogen, als hätte er vor nicht allzu langer Zeit einen leichten Schlaganfall erlitten. Die Augenbrauen standen in erstaunten Büscheln von der Stirn ab. Die Iris darunter erinnerte an helle Oliven, winzig klein und in Calvados eingelegt.

»Eduard Forell«, stellte er sich vor, ohne ihr die Hand entgegenzustrecken. »Danke, dass Sie solange gewartet haben.« Er nahm neben Ella auf der Bank Platz und klemmte sich die gefütterte Jiffy-Tasche zwischen die Oberschenkel. »Ich musste ganz sichergehen.«

»In welcher Hinsicht?«, fragte sie.

»In jeder Hinsicht.« Forell hob den zusammengerollten Independent zum Schutz gegen die bereits tiefer stehende Sonne oder die Blicke unsichtbarer Beobachter. »Bevor ich heute Morgen aus dem Haus gegangen bin, habe ich noch einmal in der Kanzlei von Doktor Freyermuth angerufen, wo es von Polizisten nur so wimmelte. In der Nacht hat es dort vier Tote gegeben, drei Polizeibeamte und ein Juniormitglied der Sozietät. Der Tresor ist geöffnet worden, angeblich sind einige Hunderttausend Euro daraus verschwunden. Zurzeit werden die Aufnahmen der Überwachungskameras ausgewertet. Ich musste sichergehen, dass es Ihnen wirklich wichtig ist, mit mir zu sprechen. « Er blinzelte. »Sie waren wohl nicht gestern Nacht bei Freyermuth, Herzog & Conradi am KuDamm?«

»Doch«, sagte Ella, lockerte den Schal und zeigte ihm die Druckstellen von Kleists Händen an ihrem Hals. »Einer der toten Polizeibeamten hat versucht, mich umzubringen. Macht Ihnen das nicht auch Angst?«

Forell ließ die Zeitung sinken, und einen Augenblick lang sah er verwirrt aus. »Mein Gott«, murmelte er so leise, dass es fast im Geräusch der Turbinen unterging. »Ich hätte nicht gedacht, dass es jemals so weit kommen würde …«

»Madeleine Schneider hat im Zusammenhang mit Ihnen von einer Aufnahme gesprochen«, sagte Ella und rückte den Schal wieder zurecht. »Mit der Sie die Ausführung eines Plans verhindern – «

Der Professor fiel ihr ins Wort. »Sie hat versprochen, niemandem – «

»Das hat sie auch nicht«, unterbrach Ella ihn. »Es war auf der DVD, die sie Freyermuth geschickt hat.«

»Kann ich sie sehen?«, fragte er hastig. »Haben Sie sie dabei?«

»Nein«, sagte Ella. »Wir wollten auch sichergehen.«

»Sie können sie sehen, wenn Sie uns sagen, was Mado Ihnen gegeben hat«, schaltete Dany sich ein. Er beugte sich vor, um an ihr vorbei mit Forell sprechen zu können. »Mado musste nicht sterben, weil sie zu viel wusste«, sagte er. »Sie musste sterben, weil sie zu wenig wusste. Sie hat Ihnen etwas mitgebracht, aber erst zu spät gemerkt, dass sie damit die Büchse der Pandora geöffnet hatte, ohne zu ahnen, was sie enthielt. Aber immerhin eins ahnte sie, nämlich, dass Sie, Monsieur le Professeur, sehr wohl wussten, was in der Büchse war. Und dass Sie mit dem, was Sie wissen oder mit dem, was sie Ihnen in die Hand gegeben hat, diese Büchse möglicherweise wieder schließen können.«

»Sie hätte sich vielleicht freikaufen können«, ergänzte Ella, »ihr Leben retten, indem sie einfach Ihren Namen nennt. Aber das hat sie nicht getan. Sie ist auch für Sie gestorben.«

Forell blinzelte wieder; es schien sich um einen nervösen Tick zu handeln. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, erklärte er bestimmt. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, weil Sie sich irren: Ich weiß nichts.« Er hob wieder die Zeitung, um sich gegen die blendende Sonne zu schützen.

Das Boot fuhr an der Kirche vorbei, dann an einem zum Ufer hin abfallenden Park. Die Fotohandys über den Bänken vor ihnen richteten sich auf sonnengebräunte junge Frauen, die mit angewinkelten Beinen und lose über die Brustgegend drapierten Bikinioberteilen im Gras lagen.

»Bitte, verzeihen Sie – es ist schrecklich, was mit Mademoiselle Schneider passiert ist.« Der Professor schüttelte sacht den Kopf, die Olivenaugen drohten einen Moment, im Calvados zu ertrinken. »Ich habe sie aufrichtig ins Herz geschlossen. Sie war so eifrig …«

»Haben Sie keine Angst?«, fragte Ella.

»Angst? Wovor? Weswegen?«

»Weil so viele Menschen getötet worden sind. Wegen etwas, das sich jetzt in Ihrem Besitz befindet.«

Er kniff mehrmals schnell hintereinander die Augen zu. »Mir wird nichts geschehen.«

»Haben wir uns deswegen auf diesem Boot hier verabredet?«, wollte Ella wissen. »Mussten wir deswegen zweimal durch halb Berlin tuckern, bis Sie den Kontakt aufgenommen haben? Weil Ihnen nichts geschehen kann?«

Forell antwortete nicht. Er warf einen Blick zurück zu dem hinter der Flussbiegung verschwindenden Park, als könnte eine der jungen Frauen auf den bunten Badetüchern Mado sein, so wie sie gewesen war; wie er sie gekannt hatte. Eifrig. Dann sagte er: »Fräulein Schneider kam zu mir auf Empfehlung eines Freundes und Kollegen aus Paris. Serge – Professeur Serge Barrault – von der Sorbonne hat sie mir geschickt, damit ich ihr bei ihrer Doktorarbeit helfe. Sie hat einige meiner Kurse besucht, aber eigentlich ging es ihr nur zum Teil um das Studium. Darüber hinaus hatte sie ein persönliches Anliegen, von dem sie geradezu besessen war, die Suche nach zwei Deutschen – zwei Brüdern, die 1929 aus dem Elsass über Pirmasens nach Preu-ßen gekommen waren. Ich habe ihr geholfen, die Spur wiederzufinden und die letzte noch lebende Verwandte der Brüder aufzuspüren. Das war der eigentliche Grund, aus dem Barrault ihr meinen Namen genannt hat: die wechselnde Geschichte Elsass-Lothringens von 1871 bis zum Zweiten Weltkrieg ist mein Hobby. Sie wissen schon, mal französisch, mal deutsch, dann wieder französisch …«

Er schwieg einen Moment. »Madeleine war nicht wie die anderen, und sie hatte hier auch keine Freundinnen – bis auf Sonja Freyermuth, die sie in meinem Seminar über die Auswirkungen des Black Thursday am New Yorker Stock Exchange im Oktober ’29 auf die europäische Wirtschaft zwischen den Weltkriegen kennengelernt hat. Eine Zeit lang haben sie sogar zusammen in Sonjas Wohnung … die, in der sie ja dann …«

Von weiter vorn, wo die Amerikaner saßen, drang lautes Gelächter ans Heck. Der Professor runzelte die Stirn. Er räusperte sich. »Haben Sie eben das große silberne Gebäude am Ufer hinter uns gesehen, das mit dem Löwen und der roten Fahne davor? Die Botschaft der Volksrepublik China. Die Chinesen sind die Amerikaner von morgen …«

Dany nahm seine Sonnenbrille ab. »Woran genau hat sie eigentlich gearbeitet?«, fragte er.

»Sie meinen, weswegen ist sie ermordet worden – sie und alle, die danach sterben mussten?«, fragte Forell und sträubte kurz seine Stacheln. »Das meinen Sie doch. Aber so einfach ist es nicht. Es sind Teile eines Puzzles, die zusammengefügt werden müssen, und eins davon ist das Schicksal ihrer Familie.« Sein Blick fiel auf die Jiffy-Tasche zwischen seinen Oberschenkeln. »Was wissen Sie über den Schwarzen Freitag, Oktober 1929, und die große Depression?«

»Das, was alle wissen, nehme ich an«, sagte Ella.

Forell nickte, aber es war die Art Nicken, die eigentlich ein Seufzen darstellte und mit dem ein Experte gern auf eine durch und durch laienhafte Bemerkung reagiert, ehe er tief aus dem Brunnen seines eigenen reichen Fachwissens zu schöpfen beginnt. »Der schwarze Freitag war eigentlich ein Schwarzer Donnerstag, der 24. Oktober 1929. Ohne erkennbaren Anlass sind an diesem Tag die Aktienkurse an der New Yorker Börse nach Jahren ständig steigender Notierungen und einer Spekulationsblase ohnegleichen innerhalb weniger Stunden so stark eingebrochen, dass viele Anleger am Abend nicht nur alles verloren hatten, sondern auch noch hoch verschuldet waren. Das traf vor allem auf Kleinanleger zu, die in den Jahren des Booms ihre Wertpapiere auf Pump gekauft und dieselben Wertpapiere als Sicherheit eingesetzt hatten. Aufgrund der Zeitverschiebung kamen die Nachrichten von der New Yorker Börse in Europa erst nach Handelsschluss an, sodass auf dieser Seite des Atlantiks die Panik einen Tag später ausbrach, am Freitag. Der Crash setzte sich in Schüben die ganze nächste Woche fort und führte so geradewegs in die größte Weltwirtschaftskrise aller Zeiten, die volle drei Jahre anhielt, bis Mitte 1932: die große Depression.«

»Was hatte das mit Madeleine Schneider und ihrer Familie zu tun?«, fragte Dany.

»Auch in Europa verloren viele Anleger in den Tagen und Wochen nach dem Schwarzen Freitag ihr letztes Hemd«, erklärte Forell. »Genauso schwer erwischte die Krise die Banken, die den Börsenboom mit Krediten finanziert hatten. Die Anleger verkauften zu jedem Preis, um ihre Schulden zu tilgen, was die Kurse weiter in den Keller trieb, sodass manche Aktien innerhalb weniger Tage 99 Prozent ihres Wertes verloren hatten. Am Ende blieben viele Geldinstitute auf den faulen Krediten sitzen und konnten selbst die von anderen Banken geliehenen Gelder nicht mehr zurückzahlen. Bei Stützungskäufen hatten sie darüber hinaus noch unzählige weiterte Millionen verloren. Wenn Ihnen das Szenario bekannt vorkommt, dann denken Sie vielleicht gerade an die Pleite von Lehman Brothers in den USA vor einigen Jahren oder das Desaster mit der deutschen Hypo Real Estate? Der Oktober 1929 war schlimmer!

Nach Amerika traf die weltweite Katastrophe Deutschland am zweitheftigsten, denn das Land war bis zum Hals verschuldet aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen und litt noch immer unter dem Vertrag von Versailles mit seiner Reparationslast. Das Elsass gehörte damals zwar wieder zu Frankreich, aber zwischen Vogesen und Rhein lebten viele Deutsche, und dort ansässige Firmen und Banken machten Geschäfte mit beiden Ländern.«

Forell kniff die Augen zusammen. Er drehte sich um und schaute zurück zu dem kleinen Park mit den jungen Frauen auf den Badetüchern, während das Boot in einen Bogen tuckerte. Über dem Glitzern und Blinken der Wellen sahen sie aus wie Teil einer Fata Morgana, die in der Luft schwebte. Er wird mit dem Alter nicht fertig, dachte Ella; er will sich noch einmal bedeutsam fühlen, als jemand, dem eine Aufgabe übertragen wurde.

»Nun, wie auch immer«, sagte er, nachdem er sich wieder nach vorn gewandt hatte, »die Familie Schneider gehörte zunächst nicht zu den Opfern des Zusammenbruchs. Als grundsolide Kaufleute hatten sie ihr Vermögen mit Holzmühlen, Sägewerken und Weinbergen gemacht und sich nie an irgendeiner Spekulation beteiligt. Sie besaßen Land, keine Aktien. Was erwirtschaft wurde, floss wieder in das Unternehmen. Nur für einen Bruchteil und als zusätzliche Sicherheit in Zeiten hoher Inflation und wertlosen Papiergeldes hatte Auguste Schneider, Madeleines Urgroßvater, eine immer noch beträchtliche Menge Gold in Form von Münzen und Schmuck erworben, die er zu Hause in einem Tresor aufbewahrte. Das wurde ihm zum Verhängnis – das und seine Vertrauensseligkeit. Denn seinen nächsten Nachbarn gehörte eine Bank, Lazare & Fils, und deren Oberhaupt, Christophe Lazare, war ein Spieler.«

Ella spürte, wie ihre Haut zu kribbeln begann; ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Steht diese Familie in irgendeiner Beziehung zu dem Bankier, der in Frankreich verschwunden ist?«

»Raymond Lazare ist der Enkel von Christophe Lazare, und es handelt sich um dieselbe Bank, ja«, bestätigte der Professor. »Eine Bank, die es längst nicht mehr geben würde, hätte sein Großvater nicht damals – «

Ella hörte, wie ihr Handy in der Jackentasche summte. Nicht jetzt, verdammt, doch nicht jetzt! Sie zögerte einen Moment, holte es dann aber doch heraus. Sie klappte es auf, und stellte fest, dass der Anruf von einem Apparat der Charité ausging. Anni. Sie sagte: »Entschuldigung, tut mir leid, einen Moment, bitte« und meldete sich.

»Warst du auf der Beerdigung?«, fragte Annika am anderen Ende der Leitung, ihre Stimme ein wenig heiser und unsicher. »Hast du gesehen, was passiert ist?«

»Ja, ich war da.« Ella stand auf und ging an die Reling, wandte sich dem Wasser und den Möwen zu. »Anni, was ist eigentlich mit dir passiert? Was hast du? Wie lange musst du in der Klinik bleiben?«

»Ich muss gar nicht bleiben«, antwortete Anni. »Ich habe einen Hund zu Hause, der schon auf mich wartet. Dieser Polizist, der den Notarzt gerufen hat, war etwas übereifrig.«

Das Boot fuhr langsamer und begann mit dem Wendemanöver; der Fahrtwind ließ nach. »Es sah aus, als wärst du plötzlich vom Erdboden verschluckt worden«, sagte Ella.

Annis Lachen klang rau. »So ähnlich ist es auch, aber dann spuckt er mich regelmäßig wieder aus. Pass auf, warum ich dich anrufe – was machst du gerade?«

»Das, was ich in letzter Zeit andauernd mache«, Ella war auf einmal leicht zumute, als hätte sie reinen Sauerstoff eingeatmet, »ich nage an der Falle, in der ich mich gefangen habe.«

»Gut, es gibt nämlich jemanden, der dir beim Nagen helfen will«, erklärte Annika. »Der Polizist, der zur Beerdigung von Max gekommen ist, will mit dir reden – deswegen ist er überhaupt nur da aufgetaucht. Er behauptet, er hätte Dinge herausgefunden, die deine Version der Ereignisse zu bestätigen scheinen. Er hat mich gebeten, dir zu sagen, du sollst ihn unbedingt anrufen, weil er dich nicht erreichen kann.«

»Hast du – «

»Keine Sorge, ich rufe von einem Klinikapparat aus an, für den Fall, dass mein Handy überwacht wird!«

»Nein, ich wollte fragen, hast du den Eindruck, dass er es ernst meint?«

Anni schwieg, aber als sie weitersprach, klang sie vorsichtig. »Das musst du selbst herausfinden. Es scheint ja nicht so, als würde es hier nur so von Leuten wimmeln, die dir helfen wollen. « Im Hintergrund erklang eine unverständliche Lautsprecherdurchsage. »Auf alle Fälle ist das nicht der einzige Grund, warum ich dich anrufe. Ich möchte dich noch einmal sehen, bevor ich morgen wieder abreise – «

»Du reist schon wieder ab?!« Ella schrie fast. Das Boot nahm erneut Fahrt auf, und der Wind wehte jetzt schärfer unter das Kopftuch, das neben ihren Ohren flatterte. »Du bist doch gerade erst gekommen! Wir hatten noch gar keine Zeit – «

»Max ist unter der Erde, und ich habe wirklich einen Hund, der nicht mit einreisen durfte, wegen der Quarantänebestimmungen, dazu noch eine Katze mit Diabetes, erwähnte ich das schon? Alles Weitere, wenn wir uns sehen. Sag mir bloß, wann und wo. Ich habe mich hier schon praktisch entlassen.«

Ella hatte einen Moment lang das Gefühl, seekrank zu werden, aber nicht von den Wellen, die dicht unter ihr an der Bordwand entlangschäumten.

Annika fragte: »Bambi?«

»Ich bin noch dran«, sagte Ella. »Du hast es noch immer drauf, einen zu überfahren.«

Annika brachte ein trockenes Lachen zustande. »Ich gebe dir mal die Nummer, unter der du diesen Aziz erreichen kannst«, sagte sie. »Du solltest aber nur ihn anrufen, nicht seinen Kollegen, warum auch immer. Hast du was zu schreiben?« Sie gab Ella die Handynummer des Polizisten durch. »Ach, jetzt fällt mir ein, wo wir uns treffen könnten – gibt es den kleinen Imbiss noch, wo wir früher immer waren?«

»Gibt es«, sagte Ella.

»Gut, dann in einer Stunde, okay?«

Ella sah, wie Forell und Dany zu ihr herüberschauten. Am liebsten hätte sie Aziz sofort angerufen, aber das war nicht gut, es wäre zu schnell gewesen, zu unüberlegt.

Sie kehrte der Reling den Rücken, gerade als rechter Hand die Zwillingstürme der Nikolaikirche wieder vor dem Bug erschienen. Sie ging zu Forell und Dany zurück und sagte: »Es tut mir leid, Professor Forell, da vorn an der Anlegestelle muss ich von Bord gehen. Etwas Dringendes – eine kranke Freundin, die bald abreist. Wäre es möglich – können wir uns morgen wieder treffen und dann weiterreden?«

Dany sah sie überrascht an.

»Herr Professor?«, fragte Ella.

»Ich weiß nicht«, sagte Forell. »Das kommt – es kommt etwas überraschend.« Seine Augen waren so schmal geworden, dass die unruhige Iris zwischen den Lidern zu zappeln schien wie ein winziges gefangenes Tier. »Erst wollen Sie mich um jeden Preis sprechen, und dann telefonieren Sie und müssen plötzlich unbedingt weg?« Sein Blick huschte zu Dany und wieder zurück. »Kann ich Ihnen trauen? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen trauen kann.«

»Sie können mir trauen«, sagte Ella und beugte sich zu ihm hinunter. »Es geht um mein Leben, nicht um Ihres. Und ich vertraue Ihnen. Ich gebe Ihnen meine Handynummer, so sehr vertraue ich Ihnen.«

»Eine Handynummer ist nichts«, sagte Forell. »Wissen Sie, wessen Handynummern ich alles habe?«

»Ich verspreche Ihnen, dass ich Mados DVD mitbringe.«

Er blinzelte. Endlich nickte er, und sie gab ihm die Nummer. Er schloss die Augen, schien sich die Zahlen einzuprägen. »Meine Termine morgen sind – also ja, vielleicht geht das. Bitte, rufen Sie mich in der Frühe an, um neun. Und das hier – «, er griff nach der Jiffy-Tasche zwischen seinen Oberschenkeln und reichte sie ihr, » – das ist für Sie. Es ist der Schlüssel zu allem, was Fräulein Schneider getan hat. Lesen Sie die angestrichenen Passagen vorn in dem Buch, wenn Sie verstehen wollen, warum sie sich über die Aufklärung des Mordes an ihren Urgroßeltern hinaus ihrem Studium mit solcher Leidenschaft gewidmet hat. Seit ihre Großmutter ihr daraus vorgelesen hat, hat sie den Inhalt nie vergessen – die Auswirkungen der großen Depression auf die Menschen und die Rolle der Banken dabei. Vielleicht kann man sagen, weil sie von dem Wunsch getrieben wurde, den Schuldigen an einem alten Verbrechen aufzuspüren, wurde sie an den Tatort eines neuen geführt, bei dem sie selbst das Opfer war. Letzten Endes ist das also wohl auch einer der Gründe, warum sie nicht mehr am Leben ist.«

»Wollen Sie damit sagen, Mado und all die anderen wurden wegen eines achtzig Jahre zurückliegenden Verbrechens getötet? «, fragte Dany.

»Ich will damit sagen: Lesen Sie die angestrichenen Passagen. Es ist heute eine andere Zeit, aber jede Zeit hat ihre eigenen Anlässe, Menschen zu töten, und weder Menschen noch Banken sind seit damals besser geworden.«