»Kannst du mir sagen, was in dich gefahren ist?«, fragte Dany mit der ungeduldigen, zornigen Stimme, die sie an ihm nicht mochte. »Warum hast du das Gespräch auf einmal abgebrochen? Nur wegen deiner Freundin?«
»Nicht nur wegen Anni.«
Sie standen über der Spree auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Jannowitzbrücke, und hier war der Wind noch stärker als auf dem Boot.
»Jetzt sind wir so klug wie vorher«, sagte Dany. »Wir wissen noch immer nicht, wovon Mado gesprochen hat. Er hat uns nichts gesagt, nichts gezeigt und nichts gegeben außer diesem Kuvert da. Hast du nicht gemerkt, dass er reden wollte? Nur ein paar Minuten noch – «
»Wenn er heute reden wollte, will er es morgen noch mehr«, sagte Ella. »Hast du nicht gemerkt, dass er Angst hatte?«
»Er sah nicht so aus.«
»Er hat nur mehr Übung darin, sie zu verbergen. Er glaubt noch nicht wirklich, dass er auch in Gefahr ist. Er hat die Aufnahmen nicht gesehen. Jedenfalls hätte er uns das, was wir wissen wollen, heute noch nicht gesagt. Vielleicht weiß er es selbst nicht. Oder er denkt, wenn er es für sich behält, schützt es ihn.«
Jenseits des Flusses war die ganze Stadt jetzt kupferrot, wo die untergehende Sonne auf den Dächern und in den Fenstern brannte, und da, wo sie nicht mehr hinreichte, wurde alles langsam schwarz: das Wasser, die Hinterhöfe, die Fassaden. Erleuchtete S-Bahnzüge ratterten über die Hochgleise, näherten sich aus dem lachsfarbenen Himmel. In den Straßen unter den Stahlkonstruktionen trieben die Lichter der Autos hin und her wie helle Planktonschwärme. Die Lastkähne auf dem Fluss setzten ihre Positionslampen, und überall zuckten bunte Neonsilben im Zwielicht.
Ella überlegte, ob sie Dany von dem Angebot des türkischen Polizisten erzählen sollte. Sie war aufgeregt; wenn er ihr glaubte, wenn sie ihn überzeugen konnte, dann brauchte sie Forell vielleicht nicht mehr. Vorbei die Flucht, die Jagd, die Angst. Und um die Mörder und die Opfer und die Verschwörung, wenn es wirklich eine gab, um all das kümmerte sich wieder die Polizei.»Vielleicht, vielleicht, ich hasse dieses Wort«, sagte Dany endlich, aber seine Stimme war wieder ruhig geworden, und er versuchte, nicht zu auffällig auf die Bahnsteiguhr zu schauen. »Triffst du dich jetzt mit deiner Freundin?«
»Ja.«
Er blickte einer einfahrenden S-Bahn entgegen. »Gut, ich muss mich nämlich langsam mal bei meiner Redaktion melden und einen Zwischenbericht erstatten. Wenn ich nichts mehr von dir höre, treffen wir uns im Hotel. Ach, was ist das eigentlich für ein Buch?«
Ella öffnete die Jiffy-Tasche, die der Professor ihr gegeben hatte und holte ein Taschenbuch heraus. »Ein Roman«, sagte sie überrascht. »Früchte des Zorns.«
Sie warf die Jiffy-Tasche in einen Abfalleimer und sah zu, wie Dany in die eine S-Bahn stieg, während sie eine andere nahm, das Buch unterm Arm. Er winkte ihr, aber er lächelte nicht dabei. Der Zug war so voll, dass sie stehen musste. Sie las die Inhaltsangabe auf dem abgegriffenen Rücken des Romans. Er handelte von Landpächter, Männern, Frauen und Kindern, die im Amerika der Dreißigerjahre von den Besitzern vertrieben wurden und sich auf den beschwerlichen Weg nach Kalifornien machten, um sich dort als Wanderarbeiter zu verdingen.
Ella suchte nach den angestrichenen Stellen, von denen Forell gesprochen hatte. Sie las: Manche Landbesitzer waren freundlich, weil sie das, was sie taten, ungern taten, und manche waren böse, weil es ihnen zuwider war, grausam zu sein, und manche waren kühl, weil sie schon vor langer Zeit herausgefunden hatten, dass man kein Landbesitzer sein kann, ohne kühl zu sein. Und sie allesamt waren in etwas befangen, das größer war als sie selbst. Manche von ihnen hassten die Zahlen, von denen sie getrieben wurden, manche fürchteten sich, und manche beteten die Zahlen an, weil sie ihnen eine Zuflucht gaben vor Gedanken und Gefühlen.
Wenn eine Bank oder eine Finanzgesellschaft das Land besaß, so sagten die Männer, die gekommen waren: Die Bank – oder die Gesellschaft – wünscht – braucht – befiehlt – muss haben – als sei die Bank oder die Gesellschaft ein Ungeheuer mit Gedanken und Gefühlen, das sie verführt hatte. Und jene, die das sagten, wollten keine Verantwortung für die Banken und die Gesellschaften auf sich nehmen, weil sie Menschen und Sklaven waren, während die Banken Maschinen waren und Herren zur gleichen Zeit.
Manche der Männer, die kamen, waren stolz darauf, Sklaven solch kühler und mächtiger Herren zu sein. Und die Landbesitzer erklärten das Arbeiten und Denken des Ungeheuers, das stärker war als sie. Ein Mann kann das Land halten, wenn er nur essen und seine Steuern bezahlen kann. Ja, das kann er, bis eines Tages seine Ernte ausbleibt und er Geld borgen muss von der Bank.
Aber – siehst du, eine Bank oder eine Gesellschaft kann das nicht, weil diese Kreaturen ja keine Luft atmen und sich nicht von Fleisch nähren. Sie atmen Profite und sie nähren sich von Geldinteressen. Wenn sie das nicht bekommen, sterben sie, wie du stirbst ohne Luft und ohne Fleisch.
Können wir es nicht anstehen lassen? Vielleicht ist nächstes Jahr ein besseres Jahr.
Darauf können wir uns nicht verlassen. Die Bank – das Ungeheuer muss die ganze Zeit Profite haben. Sie kann nicht warten. Sonst stirbt sie. Wenn das Ungeheuer nicht mehr wächst, so stirbt es. Es kann nicht immer gleich groß bleiben.
Der Zug hielt am Alexanderplatz, wo Ella kurz aufschaute, dann aber gleich weiterlas.
Und schließlich kamen die Landbesitzer zu ihrem eigentlichen Punkt. Das Pachtsystem bewährt sich nicht mehr. Ein Mann auf einem Traktor kann zwölf oder vierzehn Familien ersetzen. Zahl ihm seinen Lohn, und er besorgt die ganze Ernte. Wir müssen das machen. Wir machen es nicht gern. Aber das Ungeheuer ist krank. Irgendetwas muss mit dem Ungeheuer geschehen.
Die Pächter blickten beunruhigt auf. Aber was geschieht mit uns? Wovon sollen wir leben?
Ihr müsst das Land verlassen. Die Pflüge werden durch euren Hof gehen.
Und jetzt standen die Männer wütend auf. Großvater ist als Erster auf das Land gekommen. Er musste die Indianer töten und fortjagen. Und Vater ist hier geboren. Er hat das Unkraut ausgerupft und die Schlangen umgebracht. Dann kam ein schlechtes Jahr, und wir mussten ein bisschen Geld borgen. Dann gehörte das Land der Bank, aber wir blieben und hatten ein kleines bisschen von dem, was wir anbauten.
Wir wissen das – wissen das alles. Wir sind’s ja auch nicht, es ist die Bank. Eine Bank ist nicht wie ein Mensch.
Ja, aber die Bank ist ja auch nur von Menschen gemacht.
Nein, da hast du unrecht – völlig unrecht. Die Bank ist etwas ganz anderes als Menschen. Jeder Mensch in der Bank hasst das, was die Bank tut, und doch tut die Bank es. Die Bank ist mehr als Menschen sind, das sage ich dir. Menschen haben sie gemacht, aber sie können sie nicht kontrollieren. Das Ungeheuer ist kein Mensch, aber es kann Menschen das zu tun befehlen, was es will.
Die Pächter schrien: Großvater hat Indianer, Vater Schlangen umgebracht für das Land. Vielleicht können wir die Banken umbringen – sie sind schlimmer als Indianer und Schlangen.
Als der Zug in den Bahnhof Hackescher Markt einfuhr, war Ella mit den angestrichenen Absätzen fertig, und bis zur Friedrichstraße las sie alles noch einmal und versuchte sich vorzustellen, wie es auf ein kleines Mädchen wirken mochte, wenn es ihm von der Großmutter mit trauriger oder empörter Stimme vorgelesen wurden.
An der Friedrichstraße steckte sie das Buch in die Jackentasche und stieg aus. Es war dunkel geworden. Sie hatte keine Angst, entdeckt zu werden, und sie war sicher, dass niemand ihr folgte. Die Ebenen und Rolltreppen des Bahnhofs wimmelten von Frauen mit Kopftüchern, Schleiern, Schals, Sonnenbrillen. Der Verkehr vor den Ausgängen hatte noch nicht abgenommen, nur der Staub im Wind dämpfte die Lichter. Sie konnte zu Fuß gehen, auf den schmalen Bürgersteigen, wo sie es sofort bemerkte, wenn jemand zu lange hinter ihr blieb.
Es war derselbe Döner, in dem sie vor ein paar Tagen mit Max gefrühstückt hatte. Über dem Eingang stand noch immer in grünen Buchstaben auf rotem Grund Dürüm Salat Iskender Pommes Burger Pizza Pasta Hähnchen, und neben dem großen, schmutzigen Schaufenster prangten auch noch immer die abgasgeschwärzten Farbfotos von krossen Grillhähnchen, goldgelben Pommes frites, überquellenden Dönertüten und bunten Salaten. Die Reihe schlichter Holztische im Inneren hatte sich nicht verändert, genauso wenig der übergroße Kühlschrank mit Getränkedosen. Die laute türkische Musik, die von den rot gestrichenen Wänden widerhallte, klang monoton wie immer. Der Dönerspieß drehte sich langsam und in alle Ewigkeit vor den glühenden Grillstäben, und in der öligen Hitze schwitzte nach wie vor Murat, der freundlichste und liebenswürdigste aller Dönerwirte.
Aber jetzt, als sie in den kleinen, nüchternen Raum trat, erschien ihr auch das alles auf einmal verändert, ein weiterer Platz, den sie mit neuen Augen sah, noch eine trügerische Kulisse aus einer Vergangenheit, die es nicht mehr gab.
»Salaam Aleikem!«, sagte Murat laut, als Ella den fast leeren Raum betrat. Sie ging auf den von Fettdunst beschlagenen Glastresen zu, hob kurz die Sonnenbrille, zog den Schal herunter und sagte leise: »Aleikem Salaam, Murat. Wenn ich wieder gehen soll, tue ich das. Aber bitte lass mir einen Vorsprung, bevor du die Polizei rufst.«
»Frau Doktor!«, rief Murat, dämpfte aber sofort die Stimme und streckte ihr beide Hände entgegen. »Die sollen mir abgehackt werden, und die Zunge soll mir herausgerissen werden, wenn in meinem Haus die Gebote der Gastfreundschaft nicht mehr gelten. Ich sehe Sie nicht kommen, ich sehe Sie nicht an meinem Tisch sitzen, und wenn Polizisten hereinkommen, sehe ich Sie nicht durch den Hinterausgang gehen, gleich neben der Toilette.«
»Danke, Murat. Einen Tee, bitte!«
Annika saß an einem Tisch ganz hinten im Raum und las eine Zeitung, die aufgeschlagen vor ihr lag. Sie trug dieselbe Kleidung wie am Morgen auf der Beerdigung. Sie war blass und so dünn, dass die bunte Strickjacke an ihr herabhing wie von den Schultern einer Kleiderpuppe. Bei dem schonungslosen Deckenlicht konnte Ella sehen, dass ihre Schönheit noch immer da war, nur anders, unter lauter feinen Falten auf der durchscheinenden Haut wie in zerknittertes Pergament geschlagen. Alles an ihr schien jetzt schärfer und kantiger, und ihre Lippen, scharlachrot geschminkt, hatten etwas von einer kühlen, horizontal brennenden Flamme.
Als Ella an den Tisch trat, hob sie den Kopf von der Zeitung und blickte sie an mit ihren klaren, tiefseeblauen Augen, die bis auf den Meeresgrund der Seele schauen konnten. Plötzlich gab es die ganzen letzten Jahre nicht mehr; es war, als hätten sie sich eben erst gestern zum letzten Mal gesehen, noch im Praktikum. Ella musste grinsen, kein Lächeln, nein, ein breites Grinsen, das von Annika erwidert wurde.
»Gehst du immer noch ohne Höschen?«, fragte Ella.
»Inzwischen muss ich das leider!« Annika stand auf, schnell, wie ein Springteufel, und streckte beide Arme aus. Sie hielten sich fest. Noch nie hatte Ella so viel Trost in so kurzer Zeit verspürt.
»Ich wusste gar nicht, dass du ein Haus in der Normandie hattest«, sagte Annika.
»Ich? Klar, und eins in Acapulco. Woher weißt du das?«
Annika ließ einen Arm auf Ellas Schulter liegen, mit der anderen Hand deutete sie auf den Artikel, der vor ihr lag. »Hast du heute noch keine Zeitung gelesen? Die B. Z. von Freitag? Du bist immer noch das Thema Nummer eins!«
Unter einem großen Foto – so weit Ella wusste, das einzige, das sie jemals mit einem beinahe verführerischen Gesichtsausdruck und sinnlich aufgeworfenen Lippen gezeigt hatte – prangte in großen roten Buchstaben die Überschrift Die Blutspur der schönen Ärztin.
»Von Berlin Schöneberg bis nach Paris zieht sich die Blutspur, die Doktor Ella Bach seit ihrem ersten Mord vor einer Woche hinterlassen hat«, las Annika vor. »Im noblen Pariser Vorort Neuilly fand die französische Polizei die Leiche einer jungen Frau – siehe kleines Foto –, deren tödliche Verletzungen eindeutig die Handschrift der untergetauchten schönen Internistin zeigen.«
»Könntest du vielleicht noch etwas lauter lesen?!« Ella sah sich um, aber keiner der anderen Gäste – junge Araber und Türken mit Kurzhaarschnitt, Goldkettchen und Bodybuilderfigur in schwarz-weißen Trainingsanzügen – nahm von ihnen Notiz, und die Stimme eines traurigen Istanbuler Sängers drang gerade besonders leidenschaftlich aus dem Musikautomaten.
Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und griff nach der Zeitung. Das kleine Foto, auf das der Artikel Bezug nahm, war nicht besonders scharf, aber sie erkannte die Frau trotzdem. Das Gesicht, lachend, hatte Ella gestern Nacht im Fernsehen gesehen. Die Bildunterschrift lautete: Das Opfer, Nicolette Régine Marceau (27), Geliebte des verschwundenen Bankiers Raymond Lazare.
Sie las den Rest des Artikels: Bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wurde der Körper von Nicolette Marceau gestern Mittag von spielenden Kinder in einem Park gefunden. Die junge Frau war in den letzten Wochen bei verschiedenen Anlässen an der Seite des prominenten Bankiers Raymond Lazare, Vorstandssprecher der Banque National d’Alsace, gesehen worden. Zeugen wollen wenige Stunden vorher in der Nähe des Leichenfundorts eine Frau bemerkt haben, auf die die Beschreibung von Dr. Ella Bach passt. Wie neueste Ermittlungen ergeben haben, stand auch das erste Opfer der grausamen Mordserie, die 24jährige Studentin Madeleine Schneider, in Beziehung zu Raymond Lazare und seiner Familie.
Laut Informationen aus Polizeikreisen gehen die Behörden jetzt nicht mehr davon aus, dass es sich um eine Eifersuchtstat handelt, sondern möglicherweise um einen Rachefeldzug. Angeblich hat die wohlhabende Ärztin bei gewagten Spekulationen am Finanzmarkt und mit einem von der Banque National d’Alsace aufgelegten Immobilienfonds ihr gesamtes Vermögen, darunter ein Haus in der Normandie, verloren. Für die Verluste könnte sie den ebenfalls vor einer Woche auf geheimnisvolle Weise verschwundenen Vorstandssprecher der Bank, Raymond Lazare, verantwortlich machen. In die Suche nach – «
»Wenn ich du wäre, würde ich Paris erst mal von der Liste meiner Reiseziele streichen«, sagte Annika.