Ella spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte; die Zeitung verschwamm vor ihren Augen. Langsam sank sie auf die Holzbank vor dem Tisch.
»Du hast mir ja eine ganze Menge verschwiegen«, sagte Annika.
Ella schaute von der Zeitung auf und wartete, bis ihr Herz zu einer fast normalen Schlagfrequenz zurückfand. »Es sollte eine Überraschung sein«, sagte sie lakonisch. »So wie deine Krankheit für mich.«
Annika sah sie ruhig an, tiefseeblaue Trauer im Blick. »Ich wollte dich nicht überraschen. Ich wollte nur nicht, dass du es weißt.«
»Warum nicht?«, fragte Ella. »Weil richtige Freundinnen alles voreinander verschweigen?«
Annika griff nach ihrer Hand, nur kurz, dann ließ sie sie wieder los. »Bist du neuerdings so schwer von Kapee? Weil ich mich geschämt habe. Deswegen habe ich so lange nichts von mir hören lassen. Ich wollte, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie ich war, nicht mich so erlebst, wie ich geworden bin. Zu was er mich gemacht hat.«
»Er? Wer?«
»Ein Mann, wer sonst.« Annika winkte Murat und deutete auf das Bild mit Bulgursalat über dem Tresen. »Weißt du noch, was wir uns einmal geschworen hatten, hoch und heilig? Keine falschen Männer mehr! Lieber eine ansteckende, tödliche Krankheit! Sobald eine von uns nicht ganz sicher ist, holt sie die Diagnose der anderen ein, du meine und ich deine. Eine zweite Meinung. Als ich mich mit Patrick angesteckt habe, wusste ich sofort, was du sagen würdest, denn der Kerl war als Mann so falsch, dass er einem schon wieder richtig vorkommen konnte – wenn man von einem brennenden Todeswunsch erfüllt war. Deswegen habe ich ihn vor dir geheim gehalten. Abgesehen davon, dass ich schon nach einem Monat zu ihm nach London gezogen bin. Ausgerechnet ich, Alleswas-du-kannst-kann-ich-viel-besser-Annie! Und als es dann passiert ist, schon knapp fünf Monate später, wollte ich erst recht nicht, dass du es erfährst. Ich habe sogar Max schwören lassen, dass er dir nichts davon erzählt. Tja, scheint, als hätte er Wort gehalten.«
Ella erinnerte sich an die letzten Telefonate, die ausweichenden Antworten, die vagen Versprechen, bis keiner mehr den anderen angerufen hatte, nur vorübergehend natürlich. Aber dann war das Schweigen zum Dauerzustand geworden. »Was hat er mit dir gemacht?«, fragte sie.
»Mich die Treppe runtergeworfen«, sagte Annika. »An den Haaren durch die Küche geschleift. Meinen Kopf gegen die Wand gehämmert. Die reine Poesie! Bis er mich nicht mal mehr wo gegenschleudern oder irgendwo runterwerfen musste, damit ich hingefallen bin.«
Ella sagte nichts, weil sie auf einmal begriff, und weil es da nichts mehr zu sagen gab.
»Genau«, meinte Annika. »Fallsucht. Symptomatische Epilepsie als Folge eines Schädelhirntraumas. Morbus sacer. Die heilige Krankheit. Kommt schon in der Bibel vor, im Neuen Testament – Jesus heilt einen Fallsüchtigen. Julius Cäsar. Napoleon. Dostojewskis Idiot. Mein Hund Ronin. Aber deswegen muss ich jetzt Höschen tragen. Kommt einfach nicht so gut, wenn ich mich bei einem Anfall vollpisse und keins anhabe. Die ganze Elektrizität im Gehirn, was man damit machen könnte, und jetzt knallen alle Nase lang die Sicherungen raus und das Licht geht aus. Status epilepticus, Kurzschluss, Nacht in allen Zellen. Vor allem, wenn dir etwas nahegeht. Zu viele emotionale Reize, und peng! ein Blitz, und du siehst alles in schönste Farben getaucht, bevor du der Länge nach hinknallst und dir irgendwann endgültig den Schädel einschlägst, sogar ohne Mithilfe eines Mannes, komplett mit Schmatzen, Sabbern, wilden Zuckungen, Schaum vor dem Mund und einem Schrei hier und da als Garnierung. Unheilbar, sagen die Ärzte, jedenfalls meine Form!«
Ella schwieg noch immer. Dann sagte sie: »Scheiße.«
»Und du dachtest, du hättest Probleme«, meinte Annika mit einem Lachen, gerade als Murat ihr den Bulgursalat brachte.
»Kannst du denn dann überhaupt noch als Therapeutin arbeiten? «, fragte Ella.
»Ja, mit Pflanzen«, sagte Annika. »Die stört es nicht so, wenn ich mitten in einer Sitzung mal eben auf sie drauffalle. Ich nehme natürlich Tabletten – Neuroleptika, Antikonvulsiva, die ganze Palette.«
»Du bist Gärtnerin geworden? Du hast keine Patienten mehr?«
»Ich darf keine mehr haben, die Zulassung wurde widerrufen. Natürlich halte ich mich nicht daran, die Leute wollen schließlich weiter zu mir kommen, um mit mir zu reden. Ich nenne mich jetzt aber anders – Soul Stylist. Mit der Gärtnerei beschäftige ich mich nur zur Tarnung, in einem kleinen Gewächshaus, falls die Psychiatrische Gesellschaft ihre Häscher ausschwärmen lässt. Double income, no kids oder wie das hieß. Der Salat schmeckt übrigens gut, hast du heute schon was gegessen? «
»Ich habe keinen Hunger.«
»Warum schaust du mir dann beim Essen zu wie ein bettelnder Hund?« Sie machte Murat auf sich aufmerksam und rief: »Noch mal so einen Salat, Murat Pascha! Für meine Freundin!«
Ella sah sich um. Inzwischen war es voller geworden in dem kleinen Raum: Mädchen in High Heels, verlockend geschminkt, in kurzen Röcken, aber mit Kopftuch; ältere Männer mit grauen Haaren und grauen Schnurrbärten, die Kaffee aus kleinen Tassen tranken; ihre Frauen, beleibt, ganz in Schwarz, manche verschleiert, mit klobigen Schuhen und geblümten Röcken.
»Aber im Ernst«, fuhr Annika fort, »ohne meine Patienten wäre ich in der ersten Zeit verloren gewesen. Ich habe vorher immer gedacht, die brauchen mich, aber da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich sie mindestens genauso brauche. Ich war jetzt eine von ihnen, eine Gezeichnete, und sie gaben mir den Halt, den ich ihnen vielleicht gegeben hatte. Ich merkte auf einmal, wie nah sie mir standen, all diese Menschen, deren Seele eine Verletzung zugefügt worden war, ohne dass sie je ganz in Worte fassen können, wann oder von wem oder sogar was für eine genau.
Bis zu dem Moment, als ich meinen ersten Anfall hatte, war ich innerlich immer noch ein wenig belustigt – manchmal auch irritiert –, wenn wieder einer so einen messianischen Glanz in den Augen hatte oder ein anderer mich mit einem verschwörerischen Flüstern in die Botschaft einweihte, mich an dem Geheimnis teilhaben ließ, das ihm die Stimme verraten hatte. Wenn sie da saßen und kein Wort hervorbrachten oder aber nicht aufhören konnten zu quasseln, oder dauernd an etwas herumzupften, oder unsichtbare Flusen von ihrem Knie wischten, oder einfach nicht wieder gehen wollten, nachdem man sie vorher fast über die Schwelle und auf die Couch tragen musste. Ich hätte es nie zugegeben – vielleicht ist es mir nicht mal bewusst geworden –, aber es war so.
Ich meine, es sind Menschen dabei, die albanischen Türstehern Angst machen und Priester an Gottes Weisheit zweifeln lassen. Die ohne Auto durch eine Waschstraße laufen und dabei so tun, als hätten sie ein Lenkrad in beiden Händen oder nachts in Panik aufwachen und durch alle Zimmer rennen, weil sie Brandgeruch in der ganzen Wohnung riechen, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass es ihr eigenes Gehirn ist, das gerade in Flammen aufgeht. Aber – «
Annika unterbrach sich, um Murat Gelegenheit zu geben, vor Ella ebenfalls ein Schüsselchen Bulgursalat auf den Tisch zu stellen, ehe sie weiterredete: » – aber diese Menschen haben mich gerettet wie ein Netz, in das ich fallen konnte. Und immer, wenn ich jetzt das Geschwafel von einem Politiker oder General oder Wirtschaftsboss höre, wie sie etwas als alternativlos bezeichnen, zum Beispiel Bankern Milliarden und Abermilliarden in den parfümierten Arsch zu schieben, weil sie systemrelevant sind – und wenn ich beinahe selbst wieder auf dieses hochtrabende Gewäsch hereinfalle –, dann denke ich daran, was meine Leidensgefährten wohl dazu sagen würden. Ob sie auch bereit wären, wegen dieses oder jenes höheren Zwecks moralische Einwände mal eben und ausnahmsweise ungehört verhallen zu lassen. Und dann schäme ich mich – für die Politiker und Banker, die hinter dem Schleiertanz ihrer Rhetorik nur ihre schiere, nackte Herzlosigkeit verbergen, aber auch für mich, weil ich ihnen beinahe wieder auf den Leim gegangen wäre.
Dabei gehöre ich jetzt zu denen, die wissen, was alternativlos wirklich bedeutet, weil sie schon in ihrer Kindheit die tiefsten Wunden davongetragen haben und die härtesten Schläge einstecken mussten und danach immer wieder. Weil sie in dem System, zu dessen Relevanz es gehört, Betrügern einen goldenen Fallschirm aufzuspannen und Mördern Orden anzuheften, nie einen anderen Trost erhalten haben als den, den sie sich selbst und einander spenden konnten, oder? Oder?!«
Da war sie wieder, die Annika, die Ella als Studentin geliebt und bewundert hatte, und die ihren Redeschwall noch immer mit funkelnden Augen und dem furiosen Stakkato von einem Dutzend amphetamingepushten Rappern vortragen konnte. »Und deshalb«, kam sie zum Schluss, »und deshalb ist es ganz gut, wenn man ab und zu auch mal den eigenen Verstand mit heruntergelassenem Verdeck durch die Waschstraße fährt, bis die Elektrik total zusammenbricht, und man dafür nach dem ganzen Gewische, Gebürste und Gewienere in vollkommener Dunkelheit am anderen Ende mit nassem, funkelndem Herzen ans Licht kommt, wenigstens für kurze Zeit.«
»Quod erat demonstrandum«, sagte Ella und trank einen Schluck von ihrem Tee, den Murat schon gebracht hatte, als sie auf der Toilette gewesen war. »Und dieser Patrick, was ist aus dem geworden?«
»Nichts.«
»Dem ist nichts passiert? Wieso nicht?«
»Er war Polizist, von New Scotland Yard. So was wie ein Heiliger für seine Kollegen.«
»Wo lernt man denn einen englischen Polizisten kennen?«
»Im Urlaub, auf Malle. Es hat sofort gefunkt, nachts am Strand, in der Brandung, der reinste Kitsch. Auf alle Fälle – jetzt kannst du dir vorstellen, wieso ich alles darüber weiß, worauf man achten muss, wenn die Polizei hinter einem her ist.«
Ella schwieg wieder. »Siehst du ihn noch manchmal?«
»Nein.«
»Aber du weißt, wo er wohnt?«
»Ja.« Annika war mit ihrem Salat fertig. »Am Anfang stand ich manchmal nachts vor seiner Tür und wusste nicht, wer da wohnt oder was ich da wollte. Jamais vu, so ein Symptom von Epilepsie. Und manchmal stand ich da und dachte, ich wäre schon einmal da gewesen und hätte es getan, ihn umgebracht, meine ich.« Sie lachte kurz, die horizontale rote Flamme ihres Mundes flackerte.
»Déja vu«, sagte Ella. »Auch ein Symptom.«
»Und jetzt erzähl mal von dir. Wie bist du eigentlich in diesen ganzen Schlamassel geraten?«
Ella erzählte. Sie begann mit dem Rettungseinsatz vor einer Woche, berichtete von der verletzten jungen Frau, wechselte zu Silvan, zu Max und zurück zu Mado und Dany und allem, was danach geschehen war. Sie erzählte, und eine Viertelstunde später schloss sie mit den Worten: »Die große Depression, sagt dir das etwas?«
»Jede Depression sagt mir etwas«, antwortete Annika, »große, kleine, leichte, schwere, einfach jede. Was ist mit diesem Dany, kannst du dich auf den verlassen?«
»Weiß ich nicht. Manchmal denke ich, ja. Und dann wieder …«
»Du bist aber nicht in ihn verknallt?«
Ella trank den Tee, der jetzt genau die richtige Temperatur hatte. Weiß ich nicht. Doch. Vielleicht. Wahrscheinlich. »Kann ich nicht sagen«, antwortete Ella ausweichend.
»Das hört sich nicht gut an«, erklärte Annika. »Ich habe den ausgesprochen starken Eindruck, dass du meine Hilfe brauchst.«
»Du wolltest doch morgen zurückfahren.«
»Ich hab’s mir anders überlegt. Das schulde ich dir. Und Max.«
»Und dein Hund? Deine Katze?«
»Fritz the Cat kommt allein klar, und Ronin ist bei einer Freundin. Ich hatte ihn mir eigentlich angeschafft, weil es hieß, er könnte epileptische Anfälle vorherahnen. Konnte er auch, bis er selber Epilepsie bekommen hat. Du müsstest mal einen seiner Anfälle sehen. Die reine Poesie!« Sie dachte kurz nach. »Ich finde, du solltest diesen Aziz anrufen, auch wenn er ein Polizist ist – und ein Mann … Jetzt gleich!«
Ella holte ihr Handy heraus, aber die laute Musik und der Lärm der Stimmen in dem hallenden Raum hätten bedeutet, dass sie zum Telefonieren hinausgehen musste, und sie hatte auf einmal Angst, Annika wieder allein zu lassen. Sie schob das Gerät in die Tasche zurück. »Möchtest du nicht erst noch über Max sprechen? Das ist doch so etwas wie ein Leichenschmaus hier, oder nicht? Da erzählt man sich normalerweise etwas über den Verstorbenen.«
Annika zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen, du fängst an. Ich habe ihn seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen.«
Ella sagte: »Weißt du noch, wie wir damals alle zusammen durch Kreuzberg gezogen sind – Max in der Zwangsjacke verschnürt und wie wir ihn gezwungen haben, Champagner mit dem Strohhalm zu trinken, um ihn betrunken zu machen?«
Annikas Gesicht spannte sich. »Ich glaube, das ist jetzt keine gute Idee«, sagte sie, und im selben Moment erkannte Ella, dass sie recht hatte. Aber es war zu spät. Sie sah den Abend plötzlich wieder in allen Einzelheiten vor sich, jede Minute, bis die Bar, in der sie später noch gelandet waren, um drei Uhr morgens schloss. Sie war gleichzeitig hier mit Annika bei Murat und mit ihr und Max in der Calypso-Bar, und als sie aufbrachen und die Bar verließen, wünschte die Ella bei Murat sich, man könnte die Uhr anhalten und alles, was vor diesem Moment geschehen war, und alles, was ihnen noch bevorstand, existierte nicht. Dann hätte sie glücklich sein können.
Der Wind in jener Nacht roch frisch, und am Himmel konnte man sehen, dass der Morgen nicht mehr weit war. Auf dem Weg zum Wagen begegneten sie zwei Nonnen, die schweigend mit gebauschten Habit wie zwei große Vögel mit schwarzen Flügeln die Straße hinauf eilten. Annika hatte sich bei Ella eingehängt, und Max hielt ihre andere Hand, und im Gehen lehnte sie den Kopf an seine Schulter.
Ella dachte, dass es ein schönes Gefühl gewesen war, so früh am Morgen betrunken durch die Straßen zu schlendern, und sie wünschte, danach hätte alles einen anderen Gang genommen. Aber das änderte nichts daran, dass es damals schön gewesen war, und immerhin hatte sie jetzt ihre beste Freundin wiedergefunden.
Also war auch das noch schön, und es wäre noch schöner gewesen, wenn Max nicht ermordet worden wäre und Anni sich nicht diesem brutalen Bobby von New Scotland Yard in die Arme geworfen hätte. Sie konnte die Augen schließen und sich vorstellen, dass sie immer weiter mit Max und der Annika von früher ging, bis ans Ende der Straße, sogar ans Ende der Stadt und noch weiter.
»Bambi!«, sagte Annika.
Ella kam zurück, und aus Vergangenheit wurde wieder Gegenwart.
»Hat er dir je wehgetan?«, fragte Annika.
»Max? Nein.«
»Warum hast du dich dann von ihm getrennt?«
»Vielleicht deswegen.«
»Du magst es, wenn man dir Wunden zufügt, nicht?«
»Nein. Ich mag es, wenn jemand sie mir verbindet.«
Annika seufzte. »Wir laufen im Leben dauernd weg vor den Verletzungen, die uns andere zufügen, und landen bei denen, die wir uns selbst zufügen. Und eines Tages bemerken wir, dass es dieselben sind.« Sie konsultierte ihre Armbanduhr. »Es ist schon spät. Falls dein Polizist nicht Nachtschicht hat, solltest du ihn jetzt anrufen.«
»Ich wollte dich noch etwas fragen.« Ella beugte sich über den Tisch. »Laut Fachliteratur hat man doch unmittelbar vor einem epileptischen Anfall so ein Gefühl, du weißt schon, einen Moment äußerster Lebendigkeit, einen Flash, blendendes Licht, dann äußerste Klarheit und Ruhe. Angeblich ein Erlebnis, nach dem man süchtig werden kann, weil man für diesen Sekundenbruchteil erkennt, was sonst nur Heilige oder Engel sehen können: wie alles zusammenhängt. Hast du so einen Moment schon mal erlebt?«
»Ja.«
»Und wie war das?«
»Als würde man den Himalaja bei Nacht nur für die Dauer eines Blitzes erblicken.«