Die Leitung blieb so lange still, dass sie schon dachte, sie hätte sich verwählt. Dann kam das Freizeichen, und fast im selben Moment, meldete sich Hauptkommissar Aziz. »Ja?«
»Hier spricht Doktor Bach«, sagte Ella. Sie stand draußen auf dem Trottoir vor Murats Imbiss, das Gesicht dem großen Fenster zugewandt, durch das sie die Gäste an den Tischen sehen konnte, am letzten davon Annika. »Frau Jansen hat mir ausgerichtet, dass Sie mit mir reden wollen.«
»Gut, dass Sie anrufen!«, sagte Aziz mit gedämpfter Stimme. »Wo …«
Eine Hupe auf der Straße hinter Ella verschluckte den Rest seines Satzes. Reifen quietschten, und ein Motor heulte auf. Aus einem rostzernarbten BMW hämmerte das eintönige Wumm-wumm-wumm elektronischer Bässe vorbei. Klirrend zersprang Glas auf dem Asphalt. »Könnten Sie bitte etwas lauter sprechen?«, rief Ella.
»Ich habe gefragt: Wo sind Sie gerade?«
»Nicht in Paris. Oder in meinem Haus in der Normandie.«
Aziz schwieg einige Sekunden lang irritiert. »Es ist wichtig, dass wir uns so schnell wie möglich treffen«, sagte er dann. »Ich habe ein paar inoffizielle Ermittlungen in Ihrem Fall angestellt, und inzwischen bin ich davon überzeugt, dass Sie unschuldig sind. Fast alle Ihre Angaben haben sich als wahr herausgestellt.« Er dämpfte neuerlich die Stimme. »Aber Sie schweben in höchster Gefahr. Allem Anschein nach sind Sie da in eine Sache hineingeraten, in – «
»Ich verstehe Sie ganz schlecht«, sagte Ella.
»Eine Verschwörung«, jetzt wieder lauter, »in die sogar Teile der Polizei verwickelt sind, Kollegen von mir, vom LKA. Ich weiß nicht genau, wer und wie weit nach oben das reicht, aber – «
»Ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen muss«, sagte Ella, »eine DVD, die Mado – Madeleine Schneider – vor ihrem Tod aufgenommen hat. Es könnte sein, dass die ganze Sache etwas mit dem Verschwinden von Raymond Lazare, dem französischen Bankier, zu tun hat. Ich habe mit jemandem gesprochen, der die junge Frau kannte und eine Verbindung zwischen ihr und Lazare angedeutet hat. Außerdem habe ich mehrere Überwachungsfilme, die von einem Nachbarn auf der anderen Seite des Hofs aufgenommen wurden und auf denen man ihren Mörder und die Männer, die später die Spuren des Mordes beseitigt haben, sehen kann.«
Aziz schien den Atem anzuhalten. »Wissen Sie, dass Sie denen eine Heidenangst einjagen? Jetzt verstehe ich, warum.«
»Ich jage denen Angst ein?«
»Kann man die Männer erkennen?«
»Nur einen«, sagte Ella, »die anderen trugen Kappen und Mundschutz.«
»Wir müssen uns treffen«, sagte Aziz. »So bald wie möglich. «
»Morgen.«
»Wann? Wo?«
»Ich rufe Sie wieder an.«
»Unter dieser Nummer«, sagte Aziz. »Auf keinen Fall im LKA. Und sprechen Sie mit niemandem sonst.«
Ella unterbrach die Verbindung; erst, als es zu spät war, fiel ihr ein, dass sie sich gar nicht bedankt hatte. Plötzlich fröstelte sie. Sie überlegte, ob etwas an Aziz’ Stimme oder dem, was er gesagt hatte, merkwürdig gewesen war, ob sie vorsichtig sein sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie ging zurück in den Imbiss, an ihren Tisch, an dem inzwischen ein halbes Dutzend andere Gäste saßen. Annika hatte die Augen geschlossen. Mit zurückgelehntem Kopf und einem kaum sichtbaren Lächeln schien sie der Musik und den Gesprächen rings umher zu lauschen. Als Ella das Handy vor sie hinlegte, öffnete sie die Augen und holte ein dickes Briefkuvert aus der Jackentasche. »Hier, für dich.«
»Was ist das?«
»Geld.«
»Was für Geld?«
»Ein Darlehen. Du kannst es mir zurückzahlen, wenn du wieder was abheben darfst. Um Geldautomaten solltest du augenblicklich einen großen Bogen machen, aber das weißt du ja.«
Ella nahm das Kuvert. Es fiel ihr schwer, Annika nicht um den Hals zu fallen. »Danke. Du kriegst es so schnell wie möglich zurück.« Genau in diesem Moment klingelte ihr eigenes Handy, und sie dachte, es wäre Dany und meldete sich.
»Was haben Sie getan?«, schrie eine aufgeregte Stimme ihr ins Ohr. »Was haben Sie getan?«
»Wer spricht da?«
»Warum haben Sie das getan!?«
»Professor Forell?«
»Ich habe Ihnen vertraut!«
»Was getan?«, fragte Ella. »Ich weiß nicht, wovon Sie – «
»Mit wem haben Sie gesprochen? Wer wusste, dass wir uns treffen?!«
»Niemand, nur Dany – Monsieur Montheilet und ich …«
»Sie waren hier!«, rief der Professor. »Jemand war hier, während ich mit Ihnen gesprochen habe.«
Ella wechselte einen Blick mit Annika. »Beruhigen Sie sich«, sagte sie. »Wo ist hier? In Ihrem Büro?« Sie hob die freie Hand, deutete zur Tür und ging wieder nach draußen, drängte sich durch die hungrigen Nachtschwärmer, die vor Murats Theke anstanden.
»Bei mir zu Hause«, antwortete Forell, so schrill, dass die Worte Ella ins Trommelfell schnitten wie das Messer eines Chirurgen. »Jemand war hier und hat meine Wohnung durchsucht. Sie müssen gewusst haben, dass ich nicht da war.«
»Wer?«, fragte Ella.
»Ich weiß nicht, wer sie sind«, er ächzte vor Angst, »Die haben sie geschickt. Ihretwegen! Das alles geschieht Ihretwegen. Sie müssen sofort herkommen!«
»Rufen Sie Daniel Montheilet an, seine Nummer ist – «
»Das habe ich schon! Er meldet sich nicht!«
»Was ist mit den Nachbarn? Können Sie nicht zu den – «
»Ich wohne hier ganz allein auf dem Land, der nächste Ort ist zehn Kilometer weit weg!«
»Wer sind die?«, fragte Ella noch einmal. »Sie müssen mir sagen, vor wem Sie Angst haben – «
»Birnam Forrest«, zischte der Professor, »die schicken sie immer, wenn ihnen jemand gefährlich werden kann. Die Anwälte von Rochefort machen sich nicht selbst die Hände schmutzig, das machen die Schläger von Birnam Forrest – « Er unterbrach sich, als wäre ihm auf einmal ein neuer Gedanke gekommen. »Ich gebe es Ihnen. Ich gebe Ihnen alles, das ganze Material. Sie konnten es nicht finden, weil ich es so gut versteckt habe.« Wieder hielt er den Atem an, nur ein leises Pfeifen entwich seinen Lungen. »Wenn ich es nicht mehr habe – wenn Sie es haben – lassen die mich vielleicht am Leben. Sie müssen kommen und es holen, schnell!«
Was denn?, dachte Ella, aber sie fragte nicht noch einmal danach, denn sie wusste, dass jemand in seiner Verfassung Anweisungen brauchte, keine Fragen. »Gut«, sagte sie. »Ich komme. Sagen Sie mir, wo Sie wohnen.«
»Hier draußen«, rief er, »ich wohne in einer umgebauten Kapelle. Sie müssen die E 51 Richtung Hannover-Nürnberg nehmen, an Potsdam vorbei, und dann ist es rechts, kurz vor Rehbrücke, ein unbefestigter Feldweg. Es liegt auf einem Hügel, neben einem alten Friedhof.«
»Gut«, sagte Ella und sah auf ihre Uhr. »Ich verabschiede mich noch von meiner Freundin, und dann nehme ich ein Taxi – «
»Nein, legen Sie nicht auf«, Forells Stimme fiel wieder in den schrillen, panischen Tonfall zurück, »ich will Sie hören, ich will hören, wie Sie ins Taxi steigen und losfahren.«
»Gut, dann reden Sie mit mir.« Zum zweiten Mal kehrte Ella in den überfüllten Döner zurück und schob sich, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen, durch das Gedränge an den Tisch, wo Annika in der Zwischenzeit bezahlt hatte. »Erzählen Sie mir etwas über diese Firma, die Sie gerade erwähnt haben.«
»Birnam Forrest Security?«, fragte Forell.
»Ja«, bestätigte Ella, und zu Annika sagte sie: »Ich muss leider los.« Sie hoffte, dass Anni verstand und suchte nach Absolution in ihrer Miene. »Ich hole dich morgen früh ab. In welchem Hotel wohnst du?«
»Eine Sicherheitsfirma mit Sitz in Zürich«, erklärte Forell. »Es handelt sich um eine Tochterfirma von Rochefort, Gladstone & Wentworth, die hauptsächlich Expolizisten, ehemalige Militärs und Agenten beschäftigt.«
»Residenz, in der Knesebeckstraße. Kann ich von hier aus zu Fuß hingehen.« Anni zwinkerte Ella zu, ohne zu lächeln, ist in Ordnung, tu, was du tun musst, und dann trat sie spontan auf Ella zu und umarmte sie. »Du hast mir gefehlt«, sagte sie. Ella presste sie mit dem freien Arm an sich, ein paar Herzschläge lang. »Bis morgen.« Anni ließ Ella los und ging als Erste hinaus, pflügte sich durch die Schlange vor dem Tresen und war draußen noch einen Moment im Widerschein der Imbissbeleuchtung zu sehen und dann in der Dunkelheit verschwunden.
»Topleute von der GSG 9«, fuhr Forell fort, »dem deutschen Kommando Spezialkräfte, dem britischen SAS, Xe Services – früher Blackwater – in Amerika oder der Antiterroreinheit GIGN in Paris, nicht zu vergessen die 13. Französischen Dragoner. Söldner, Kampftaucher, Sprengstoffexperten, Scharfschützen oder einfach nur perverse Folterknechte, dazu jede Menge Exkripo, Exinterpol, ExKGB. Das einzige Gesetz, dem sie noch dienen, ist das des Profits. Niederlassungen in Paris, London, Washington, Rom, Moskau, Berlin, Tiflis, unter verschiedenen Namen, aber immer mit den besten Verbindungen zu den jeweiligen örtlichen Dienststellen von Polizei, Landeskriminalämtern, Bundesbehörden.«
Ella folgte Annika, winkte Murat, der zurückwinkte, und ging draußen zu dem Taxistand an der Ecke. Sie hielt den Kopf gesenkt. Sie wich den immer noch zahlreichen Passanten vor ihr aus und achtete darauf, dass ihr das Licht nicht ins Gesicht fiel.
Forell sagte: »Die Bezahlung ist erste Sahne. Hervorragende Alters- und Hinterbliebenenversorgung. Minimiertes Todesfallrisiko. Wer noch nicht dabei ist, will dahin, eher heute als morgen. Ganze Seilschaften wechseln vom öffentlichen in den privaten Sektor, behalten aber ihre Kontakte zum alten Arbeitgeber, wo die früheren Kollegen gern jeden Gefallen tun – informieren, manipulieren, sich für den Wechsel profilieren, wie der in Freyermuths Kanzlei getötete Hauptkommissar Kleist. Natürlich sind nicht alle Polizisten gekauft oder korrupt, aber doch so viele, dass man nie wissen kann, wem man trauen darf und wem nicht.«
Er redete jetzt fast wieder normal, schien sich zunehmend sicher zu fühlen, einfach weil er über etwas sprach, womit er sich auskannte. »Woher wissen Sie das alles?«, fragte Ella. Sie überquerte die Straße und erreichte den Taxistand.
»Ich habe meine Quellen«, sagte Forell. »Im Kanzleramt und bei Europol. Überall, wo Rochefort eine Niederlassung hat und bei einem schmutzigen Geschäft als anwaltliche Vertretung einer der Parteien agiert, gibt es bald auch jede Menge faule Eier im Nest der Ermittlungsbehörden.«
»Anwälte werden nicht von sich aus tätig«, sagte Ella. »Sie sind nur ein Werkzeug oder ein Schutzwall. Sie werden beauftragt. Wer sind ihre Mandanten?« Sie ging zum ersten Taxi in der Reihe, öffnete die rechte Hintertür des Mercedes und stieg ein. »Zur E 51, Richtung Hannover-Nürnberg«, erklärte sie dem dunkelhäutigen Fahrer. »Hinter Potsdam sage ich Ihnen dann, wie’s weitergeht.« Der Fahrer drehte den kehligen Raj-Gesang im Radio leiser, schaute in den Rückspiegel und schoss los wie ein Pirañha, der eine Blutwolke im Wasser gesichtet hatte. An Forell gerichtet, wiederholte Ella ihre Frage: »Wer sind ihre Mandanten?«
»Einen Moment …« Der Professor schien nach etwas zu lauschen, bevor er antwortete: »In wessen Auftrag Rochefort, Gladstone & Wentworth gegenwärtig tätig sind, weiß ich nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, wer bis vor Kurzem zu den wichtigsten Klienten der Kanzlei gehörte: die Familie Lazare und ihre Bank.«