Das Buch hieß The Collected Stories of Edgar Allan Poe und lag mit dem Einband nach oben auf dem Boden neben der Statue des Erzengels Michael. Als Ella es aufhob, konnte sie erkennen, dass die Bindung notdürftig erneuert und der Rücken nur scheinbar abgerissen worden war. Die Seiten fielen von selbst an einer Stelle auseinander, an der sie offenbar einen festen, schmalen Gegenstand verbargen. Der Geruch von frischem Klebstoff stieg von ihnen auf.
Ella riss die Seiten heraus, löste sie voneinander und hielt einen flachen, ungekennzeichneten Memory Stick in der Hand. Sie legte ihn auf das Podest der Statue, dann blätterte sie weiter. Auf den letzten Seiten hörte der gedruckte englische Text auf. Die nächsten Blätter hatten eine andere Färbung und waren nur behelfsmäßig mit Messer oder Schere auf das Format der vorherigen zurechtgestutzt worden. An die Stelle der horizontal verlaufenden Linien des Drucks traten jetzt vertikal abfallende handschriftliche Zeilen – Deutsch statt Englisch –, und um sie lesen zu können, musste Ella das aufgeschlagene Buch drehen.
Sie überflog die ersten Sätze: Wenn man die Frage beantworten will, wie es zu der Begegnung zwischen Raymond Lazare und Madeleine Schneider kommen konnte und was für ein Schicksal die beiden Familien verbunden hat, muss man zurückgehen bis ins Jahr 1929, als die Schneiders und die Lazares noch im selben kleinen Ort im Elsass als Nachbarn lebten. Ich will versuchen, die Begebenheiten so verständlich wie möglich zusammenzufassen, trotz der wenigen Zeit, die mir noch bleibt.
Die Kugelschreiberschrift war krakelig, teilweise verschmiert, und zeugte von der großen Hast, mit der Forell die Informationen zu Papier gebracht hatte. Rasch blätterte Ella die in der Mitte gefalteten und notdürftig eingeklebten Seiten durch, die sich unter ihren Händen aus dem Buch lösten. Weiter hinten änderten sich Qualität und Farbe des Papiers noch einmal, und die ebenfalls von Hand, aber mit Tinte geschriebenen Zeilen verliefen wieder horizontal, wie die Eintragungen in einem Notiz- oder Tagebuch. Das Papier zerfiel fast unter ihrer Berührung, es war vergilbt und an den Rändern auf eine Weise ausgefranst, die seinem Alter geschuldet war, nicht der brutalen Eile suchender Hände. Auch die Tinte war verblasst, die Schrift dagegen sorgfältig, fast penibel ausgeführt.
Das Grauen, das mich beim Anblick der Ermordeten packte, war unbeschreiblich, las Ella, diesmal eindeutig von anderer Hand verfasst, in größerer Ruhe und vor vielen Jahrzehnten. Sie riss sich los und schaute auf ihre Armbanduhr: 01:07. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr blieb, bis die Polizei da war; ob sie aus Berlin kam oder aus Potsdam. Sie lauschte. Sie dachte, sie hätte eine ferne Sirene gehört, aber es war nur das Käuzchen draußen im Geäst der Mooreiche. Jammernd strich der Wind um die Kapelle und raschelte in den Zweigen.
Ohne noch mehr zu lesen, schob sie das Buch in eine Jiffy-Tasche, die sie auf Forells Schreibtisch fand und steckte den Memory Stick dazu. Sie verließ die Kapelle durch die Sakristei, wo sie das Küchentuch von dem Haken an der Wand nahm und Forells Gesicht damit bedeckte. Es tut mir leid, dass ich nicht schneller hier war, dachte sie. Dann verließ sie auch die Sakristei, um zur Straße hinunterzulaufen, bevor die Polizei eintraf.
Als sie das Taxi kommen sah, verließ sie ihren Platz hinter einem Maulbeerbusch und kletterte die Böschung hinauf zur Straße. Das Taxi wendete an der Mündung des Feldwegs zum Friedhof, kehrte um und hielt neben ihr. »Man kann dich nicht eine Minute allein lassen«, sagte Annika durch das heruntergelassene Fenster im Fond, öffnete die Tür und rutschte auf die andere Seite der Rückbank, damit Ella einsteigen konnte. Oben auf dem Hügel flackerte die Kapelle im Widerschein der Blaulichtleisten mehrerer Streifenwagen, die in den letzten zwanzig Minuten mit heulenden Sirenen von der E 51 in den Feldweg eingebogen waren.
»Zurück nach Berlin«, forderte Annika den Fahrer auf und griff nach Ellas Hand. »Eiskaltes Händchen.«
Das Taxi fuhr los. Die Scheinwerfer einer Ambulanz auf der Gegenfahrbahn tauchten das Innere in helles Licht, und Ella bemerkte, dass der Fahrer sie im Rückspiegel musterte. Sie hatte das Kopftuch tief in die Stirn gezogen, der Schal bedeckte Mund und Kinn, nur auf die Sonnenbrille hatte sie verzichtet. Sie legte das Kuvert mit den Collected Stories von Edgar Allan Poe und Forells Bericht neben sich auf die Bank. »Ist es das?«, fragte Annika.
»Ja.«
»Wir sollten eine Kopie davon machen.«
»Es ist ein Memory Stick, der sich angeblich nicht kopieren lässt.«
»Alles lässt sich kopieren. Hast du Dany inzwischen erreicht?«
Ella schüttelte den Kopf. Die Wärme in dem Taxi stieg ihr in den Kopf, und ließ sie ihre Erschöpfung spüren. Annika fragte: »Denkst du, ihm ist etwas zugestoßen?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
»In welchem Hotel seid ihr untergekrochen?«
»Gartenhotel, in Wedding.«
Annika holte ihr Handy aus der schwarzen Laderjacke, die sie jetzt trug, und wählte die Auskunft. »Ich hätte gern die Nummer des Gartenhotel in Wedding«, sagte sie. »Ja, verbinden Sie mich, bitte.« Sie wartete und warf Ella einen Seitenblick zu. »Gartenhotel? Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe. Ich möchte einen Ihrer Gäste sprechen, einen Franzosen, Monsieur Daniel – «
»Montheilet«, sagte Ella.
»Montheilet, genau«, Annika hielt die Augen weiter auf Ella gerichtet, zwei glänzende Punkte, starr wie das Käuzchen in der Mooreiche, »Monsieur Daniel Montheilet. Könnten Sie mich zu seinem Zimmer durchstellen?« Sie lauschte. »Sind Sie sicher? Danke.« Sie unterbrach die Verbindung und ließ das Handy sinken. »Das war der Nachtportier. Er sagt, Monsieur Montheilet wurde bei seiner Rückkehr ins Hotel heute Abend von zwei Polizeibeamten erwartet und gleich mitgenommen. Ich schätze, das erklärt, warum er nicht an sein Handy geht.«
Ellas Müdigkeit verschwand wie eine schwarze Decke, die ihr von den Lidern gerissen wurde. Vor ihrem inneren Auge stand Dany, wie sie ihn zuletzt im S-Bahnhof Jannowitzbrücke gesehen hatte: am Fenster eines Zuges, der davonfuhr – und da, er hob die Hand, um ihr zu winken, ohne ein Lächeln. Es war wie ein Abschied.
»Woher weiß die Polizei von ihm?«, fragte Annika.
»Von den Überwachungsbändern in der Kanzlei, vermute ich. Wir sind gefilmt worden, als wir sie betreten und wieder verlassen haben.« Und in der Zeit dazwischen hat er zwei Menschen getötet. »Wir wollten längst das Hotel wechseln.«
»Du hast erzählt, er hätte dir am Anfang nicht die Wahrheit gesagt. Er hätte behauptet, er wäre der Bruder der toten Studentin, dabei hatte sie gar keinen Bruder.«
Ella sagte nichts, weil dieser Umstand zu einer Seite von Dany gehörte, die sie nicht kannte. Zu einer der vielen Seiten, die mir noch fremd sind; zu der, die Menschen töten konnte …
»Wie gut ist dein Französisch?«, fragte Annika.
»Mittelprächtig. Aber Dany spricht fließend Deutsch.«
»Wie schön. Ich spreche ziemlich gut Französisch, und deswegen habe ich vorhin vom Hotel aus beim Nouvel Observateur angerufen und einen der Nachtredakteure gefragt, wann ich Daniel Montheilet am besten erwischen kann …«
Und die haben gesagt, es gibt gar keinen Journalisten dieses Namens bei ihnen – Herrgott, nicht schon wieder…
»Er sagte, sie wüssten nicht, wann er wieder in die Redaktion käme. Ich habe gesagt, ich sei mir nicht sicher, aber ich glaubte, ich hätte ihn hier in Berlin gesehen. Da ist der Redakteur zugeklappt wie eine Auster, hat aber nichts Gegenteiliges behauptet. Es scheint also, als hätte er in diesem Punkt die Wahrheit gesagt. « Sie schwieg einen Moment. »Ist er gut zu dir?«
Ella antwortete nicht.
»Das ist das Einzige, worauf es ankommt«, sagte Annika. »Dass er gut zu dir ist.«
»Ich weiß«, meinte Ella.
»Sag ihm, wenn er nicht gut zu dir ist, bringe ich ihn um.«
»Übertreibst du deine Fürsorge nicht ein bisschen?«, fragte Ella und spürte ein leichtes Brennen unter den Lidern, aber das war bestimmt auch die Müdigkeit.
»Wieso kommt es mir vor, als hätte ich all das schon mal erlebt? «, fragte Annika zurück. Linker Hand glitten die Lichter von Potsdam vorbei, und die Straßenlaternen knipsten ihr blasses Gesicht an und wieder aus, vor allem das Rot der Lippen.
»Du kriegst doch jetzt keinen Anfall?«, fragte Ella.
Annika schüttelte den Kopf. »Die sind nur einmal pro Woche fällig – so regelmäßig, dass man die Zeit danach einteilen könnte, wenn die Uhr nicht schon erfunden worden wäre. Für einen außer der Reihe müsste ich mich besonders aufregen, und dazu gibt es gerade ja keinen Anlass.« Das Handy auf ihrem Schoß brummte in kurzen, ungehaltenen Intervallen. Vorsichtig meldete sie sich. Sie hörte einen Moment zu, dann fragte sie: »Woher haben Sie meine Nummer?« Sie hörte wieder zu. »Okay, das geht Sie gar nichts an, wem ich mein Handy leihe. Ich geb sie Ihnen.« Sie reichte Ella das Handy. »Dein Bulle.«
»Hallo?«, sagte Ella.
»Aziz hier.« Er war schroff. »Ich will Sie sofort sehen, nicht erst morgen. Ein Taxifahrer hat vor einer halben Stunde einen Mord in einer Kapelle in der Nähe von Potsdam gemeldet. Seine Beschreibung der möglichen Täterin trifft ziemlich genau auf Sie zu, wenn man Schal und Kopftuch abzieht. Die Kollegen der dortigen Polizei haben die Leiche als einen Professor Forell identifiziert. Wissen Sie etwas darüber?«
»Ja«, antwortete Ella.
»Haben Sie den Täter gesehen?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
»Nein.«
»Wo sind Sie gerade?«
»Auf dem Rückweg nach Berlin.«
»Wer ist noch bei Ihnen außer Ihrer Freundin?«
»Niemand. Daniel Montheilet haben Sie ja bereits abgeholt.«
Aziz schwieg, und Ella dachte schon, die Verbindung wäre unterbrochen. Dann sagte er: »Sind Sie noch da? Ich habe niemanden abholen lassen.« Es klang, als schlüge oder trete er gegen etwas. »Ich weiß nicht mehr, was da vorgeht, aber ich finde es heraus. Haben Sie das Gefühl, verfolgt zu werden?«
Ella drehte sich um und sah aus dem Rückfenster. Die Straße hinter dem Taxi war leer. Während sie noch hinausschaute, begann es zu regnen, und die Farbe des Himmels veränderte sich. »Nein, ich sehe niemanden.«
»Gut. Wie lange werden Sie noch brauchen bis Berlin?«
»Ungefähr eine Viertelstunde.«
»Kennen Sie die Chinesische Botschaft am Märkischen Ufer?«
»Ja.«
»Wir treffen uns da in einer Dreiviertelstunde. Glauben Sie, dass Sie das schaffen?«
»Warum da?«
Sie dachte, dass er sagen würde Nicht am Telefon, stattdessen erklärte er nur: »Ich wohne in der Nähe. Außerdem ist es nicht weit vom S-Bahnhof Jannowitzbrücke, Sie müssen also kein Taxi nehmen. Ach ja, und kommen Sie allein. Einen epileptischen Anfall auf offener Straße können wir uns gerade nicht leisten.« Er unterbrach die Verbindung, ohne sich zu verabschieden. Annika fragte: »Triffst du dich mit ihm?«
»Ja.«
»Ich nehme an, er will, dass du allein kommst?«
»Ja.«
»Ruf mich kurz vorher an, auch wenn ich schon schlafe. Davor und sofort danach, klar?«
»Der Akku von meinem Handy ist leer. Ich habe fast die ganze Fahrt raus zu Forell mit ihm telefoniert, bis es seinen Geist aufgegeben hat.« Ella fiel ein, dass die Verbindung mitten in einem Satz Forells abgebrochen war. »Kann ich mal kurz meine Mailbox anrufen?« Sie gab den PIN-Code ein und hörte, dass sie eine neue Nachricht hatte. Sie hoffte für einen Moment, die Nachricht wäre von Dany. Stattdessen hörte sie Professor Forells Stimme, vor Aufregung halb erstickt, während im Hintergrund die Orgel dröhnte.
»Frau Bach? Sie waren plötzlich weg! Ich erreiche Sie nicht mehr. Ich weiß nicht – vielleicht sind Sie das ja in dem Auto, das da kommt –, aber es ist kein Taxi. Ich habe alles aufgeschrieben – was ich Ihnen eben erzählt habe, habe ich heute Abend alles aufgeschrieben und die Seiten hinten in eins der Bücher geklebt, die auf dem Boden liegen. Da ist auch der Memory Stick versteckt, den Lazare mir wasserdicht verpackt in einer Flasche Bordeaux geschickt hat. Ich habe ihn herausgenommen und immer bei mir getragen, und vorhin habe ich ihn in eins von den Büchern geklebt. Es ist eine Sammlung mit Erzählungen von Edgar Allan Poe. Das Buch liegt auf dem Boden neben dem Podest mit der Statue des heiligen Michael. Es ist ganz leicht zu finden. Sie sind – Sie sind doch wirklich auf dem Weg zu mir?«
Annika neigte sich zu Ella, als wollte sie mithören; ihre Wange berührte fast Ellas Hand. Sie duftete nach einem teuren Parfüm, das gleichzeitig süß und herb war, verführerisch und gefährlich.
Forell sprach schneller. »Ich habe keine Nachricht von Raymonds Tod erhalten, das heißt, er ist noch am Leben. Jemand muss ihn darüber informieren, dass er sich nicht mehr auf mich verlassen kann. Sie müssen ihn informieren! Nehmen Sie Kontakt mit Serge Barrault in Paris auf, fragen Sie ihn, was Sie tun sollen. Sagen Sie ihm, dass der Stick jetzt in Ihrem Besitz ist. Wenn Sie ihn nicht erreichen oder wenn Sie hören, dass ihm oder Raymond etwas zugestoßen ist, dann geben Sie den Stick Franz Wittstock im Finanzministerium; ihm kann man vertrauen. Wenn er jemand anderem in die Hände fällt, bedeutet das Raymonds Ende und dass niemand mehr die Verschwörer daran hindern kann, ihr Ziel zu erreichen. Und es bedeutet, dass Sie auch sterben, hören Sie? Wenn der Stick nicht mehr existiert, werden sie jeden töten, der davon weiß.«
Warum hast du die Aufnahme nicht längst veröffentlicht, du Idiot, dachte Ella; so viele Menschen könnten noch leben. Sie hörte ihn wieder einen Schluck von seinem Wein trinken. »Was noch? Habe ich noch etwas vergessen? Mein Gott, so ein Ende – so ein Ende … Ach, das Journal – die Chronik, die Matthias Steinberg, der deutsche Hauslehrer von Sébastien, Jean-Marie und Madeleine Schneider, verfasst hat. Madeleine hat mir kurz vor ihrem Tod noch das Original mit ihrer Magisterarbeit geschickt. Darin beschreibt er, was er während seiner Zeit im Elsass und danach in Deutschland erlebt hat. Bei uns haben er und sein Bruder Oskar ja später in Potsdam die in Reiterkreisen berühmte Steinberg-Zucht gegründet. Hören Sie das? Können Sie das hören?«
Hektisch sprach er weiter, redete, um zu reden, als würde Schweigen eine Leere schaffen, die nur sein Tod füllen konnte. »Wir hatten es ja geschafft, Fräulein Schneider und ich, wir haben die letzte noch lebende Verwandte der Steinbergs in Potsdam aufgespürt – eine Urenkelin, verheiratet mit einem iranischen Journalisten im Exil. Und die Frau hat tatsächlich auf dem Dachboden unter allem möglichen längst vergessenen Krimskrams ihrer Eltern und Großeltern in einer Truhe dieses handschriftliche Journal entdeckt. Bei seinem Anblick wäre Madeleine fast in Tränen ausgebrochen. Deswegen war sie nach Berlin gekommen, eine lange, quälende Reise hatte sie an ihr Ziel geführt, zum letzten noch fehlenden Beleg für die Unschuld der Brüder und die Wahrheit dessen, was ihre Großmutter immer behauptet hatte! Sie hatte herausgefunden, warum ihr Urgroßeltern sterben mussten, sie war den Fluss hinauf geschwommen bis – bis zu seiner Quelle, die – die auch die Quelle ihrer Erlösung war und – «
Und ihres Todes, dachte Ella. »Was ist – Hören Sie das? Die Tür …! Können Sie das hören?« Forells Stimme entfernte sich, als ließe er das Handy sinken, und dann hörte sie, wie er überrascht ausrief: »Sie?! Aber Sie – «, und danach hörte sie nur noch die Orgelmusik.
Annika ließ sich gegen die Lehne der Bank zurücksinken. »Weißt du, woran mich das alles erinnert? Zehn kleine Negerlein. Und du bist eins davon, ein totes Negerlein aus der Zukunft.«