Das Grauen, das mich beim Anblick der Ermordeten ergriff, lässt sich kaum beschreiben. Wie ein Schlafwandler ging ich durch das Haus, und mit jedem Schritt schien es mir, als tauchte ich tiefer in einen Albtraum. Blut war überall, auf den Teppichen, in den Vorhängen, es rann von den Möbeln und klebte an den Wänden. Die Leichen lagen so, wie sie gestorben waren, in den Korridoren und Zimmern.
Zuerst stieß ich auf Émilie, das Hausmädchen, das mit eingeschlagenem Gesicht gleich hinter der Schwelle lag, Schürze, Kleid und Strümpfe rot und nass. Wenn sie mir nicht lang vertraut gewesen wäre, hätte ich sie nicht wiederererkannt. Ich weiß nicht, warum ich nicht hier schon einen Schrei des Entsetzens ausstieß oder lauthals nach meinen Lieblingen Sébastien, Jean-Marie und Annémone rief, um mich ihrer Unversehrtheit zu versichern. Stattdessen ging ich schweigend weiter, tiefer in das halbdunkle Haus, dessen Tür ich nur angelehnt vorgefunden hatte. Ich bemühte mich sogar – vermutlich aus einer Ahnung heraus –, nicht den geringsten Laut zu verursachen.
François, der Hausdiener, war der Nächste. Ihn fand ich im Korridor zum Salon, am Fuß der Treppe in das obere Stockwerk. Er lag halb auf den Stufen, ein Bein untergeschlagen, als wäre er in großer Eile heruntergestürzt und geradewegs in das Messer des Mörders gerannt. Seine weit offenen Augen hatten den Ausdruck von jemand, der dem Teufel selbst ins Antlitz geschaut hat, und noch immer sickerte das Blut aus seinem Leib auf die Teppichstangen aus makellos poliertem Messing.
An dieser Stelle muss ich eine Pause einlegen, denn die Feder in meiner Hand zittert zu sehr bei der Erinnerung an jeden weiteren Schritt in das einst so gesegnete Haus. Muss ich wirklich beschreiben, in welch grässlichem Zustand ich meine kleinen Schutzbefohlenen Sébastien und Jean-Marie vorfand? Und wie ihre Eltern, die gütige Marthe, ihre Mutter und Auguste, einen der gerechtesten Menschen, die mir je begegnet sind? Von Schmerz und Verzweiflung geschüttelt, ging ich weiter, suchte nach Annémone, der Kleinsten, meinem Schatz.
Sie war nicht dort, nicht unter den Toten. Ich stieß auf Sébastien und Jean-Marie, und ich entdeckte auch Marthe, aber keine Annémone! Trotz des Schmerzes hätte ich beinahe laut jubiliert. Da hörte ich das Geräusch im Arbeitszimmer von Monsieur Auguste, und mir blieb fast das Herz stehen. War der Mörder noch im Haus?
Doch bevor ich mit diesen Aufzeichnungen fortfahre, will ich zunächst erklären, warum ich an diesem Nachmittag des 6. November 1929 das Haus von Auguste Schneider aufsuchte. Meine Anwesenheit hing mit meiner Tätigkeit als Hauslehrer der Kinder zusammen, die ich bereits vor einigen Jahren aufgenommen und, das darf ich sagen, immer zur Zufriedenheit aller in der Familie ausgeübt hatte. An jenem Tag sollte mir von Monsieur Auguste mit einiger Verspätung meine Entlohnung für den vergangenen Monat ausgehändigt werden, die ich dringend benötigte, weswegen ich mich auch an meinem arbeitsfreien Nachmittag zu ihm bemühte.
Monsieur Auguste hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mich stets in bar mit Goldmünzen zu bezahlen, da uns beiden eine Abneigung gegen Papiergeld zu eigen war. Aber wegen der Turbulenzen im Wirtschaftsleben hatte die Bereitstellung der für seine sämtlichen Ausgaben benötigten Summe – von der ich natürlich kaum mehr als ein Almosen erhielt – diesmal länger gedauert als üblich.
Aus diesem Grund hatte ich mich an jenem 6. November kurz vor Anbruch der Dunkelheit zu Fuß aus dem Nachbardorf kommend bei ihm eingestellt und das Haus mit offener Tür und erfüllt von unheimlicher Stille vorgefunden. Noch heute läuft mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter, wenn ich daran denke, wie ich mich – als stünde ich unter einem unheimlichen Zwang – dem Arbeitszimmer von Monsieur Auguste zuwandte. Wäre ich stattdessen nur weggelaufen … !
Das Geräusch wiederholte sich in kurzen Abständen, ein Scharren und Klirren wie von Ketten. Die Tür des Zimmers stand ebenso offen wie alle anderen, denn der Mörder hatte ja nichts zu befürchten – im ganzen Haus lebte keine Menschenseele mehr. Er kauerte mit dem Rücken zum Gang vor dem Tresor von Monsieur Auguste, neben sich ein Paar Satteltaschen, und schaufelte mit beiden Händen Goldmünzen und Geschmeide in die großen Taschen, wobei er wie ein Wahnsinniger ächzte und keuchte und auch sonst alle Anzeichen von Besessenheit erkennen ließ. Über den Kopf hatte er etwas geworfen, das wie ein Hafersack aussah.
Vielleicht hätte er mich nie bemerkt, hätte ich nicht vor Kummer und Schrecken aufgestöhnt, als ich auf dem Boden hinter dem Dieb die Leiche von Monsieur Auguste entdeckte. Der kräftige, etwas schwerhörige Mann musste von hinten erstochen worden sein, denn das Messer steckte noch bis zum Heft zwischen seinen Schulterblättern. Bei meinem Stöhnen fuhr der Dieb herum und blickte mir geradewegs ins Gesicht.
Es war tatsächlich ein Hafersack aus grober Jute, den er über den Kopf gezogen hatte, mit zwei unregelmäßigen Löchern, hinter denen seine Augen glänzten. Ein Auge war braun, das andere blau, eine Anomalie, die ich vorher nur bei einem einzigen Menschen gesehen hatte.
Einige Sekunden verharrten wir so, er halb auf den Knien, ich zur Hälfte hinter dem Türrahmen verborgen. In diesen endlosen Sekunden erkannten wir einander, und ich sah mein Schicksal in seinen Augen, denn ich war nur ein kleiner deutscher Lehrer und er war ein weit über die Grenzen des Landstrichs hinaus angesehener Mann. Wer wird es mir verübeln, dass ich, kaum aus meiner Erstarrung erwacht, Fersengeld gab und mich draußen neben der Zufahrt zu dem weit außerhalb des Ortes gelegenen Anwesen im dürren Unterholz verbarg. Erst jetzt entdeckte ich den Rotfuchs, der hinter dem Stall angebunden war – das Lieblingspferd meines Bruders.
In diesem Moment begriff ich die ganze Infamie, die Satteltaschen, der Hafersack, der Rotfuchs! Hätte mich das Schicksal nicht zufällig an diesem Nachmittag ins Haus der Schneiders geführt, wäre meinem Bruder und mir der Prozess gemacht worden, ohne dass wir je erfahren hätten, wer in Wahrheit für diese grauenhaften Taten verantwortlich war.
Aber auch so musste ich um mein Leben fürchten, wie sich gleich darauf zeigte. Wenige Minuten später nämlich verließ der Mörder das Haus, schleppte die prall gefüllten Satteltaschen zu dem Rotfuchs, warf sie ihm über und galoppierte vom Hof. Wäre ich bei meiner Flucht dem Weg zur Straße gefolgt, hätte er mich schnell eingeholt und zweifellos ebenso getötet. Kaum war das Trommeln der Hufe zwischen den Bäumen des Waldes verklungen, hörte ich einen anderen Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war eine helle Kinderstimme, die ein heiteres Lied vor sich hin sang.
Sofort dachte ich an Annémone, die Jüngste, die nicht unter den Toten im Haus gewesen war. Vorsichtig schob ich ein paar kahle Zweige des Gestrüpps, hinter dem ich mich versteckt hatte, beiseite und warf einen Blick in die Richtung, aus der die Stimme an mein Ohr drang. Und tatsächlich, da stapfte die kleine Annie im kupfernen Schein der tief stehenden Novembersonne über die Wiese heran und sang das Lied von der gentille alouette. Wie ich später in Erfahrung brachte, war sie an diesem Tag bei ihrem Patenonkel in Strasbourg zu Besuch gewesen, der sie am frühen Nachmittag dem Schaffner des Zuges nach Haguenau anvertraut hatte. Unter normalen Umständen wäre sie am Bahnhof von François, dem Diener, mit dem Citroën abgeholt worden, und als sie ihn dort nicht vorgefunden hatte, machte sie sich munter auf den Weg nach Hause, wobei sie die Abkürzung über die Wiese nahm.
Ich stürzte aus meinem Versteck und stellte mich ihr in den Weg, denn auf keinen Fall wollte ich, dass sie ins Haus ging und ihre Eltern und Geschwister tot in ihrem Blut liegend sah. Doch etwas an meinem Verhalten oder meinem Gesichtsausdruck oder auch an der Stille in dem sonst von fröhlichem Lärm erfüllten Haus muss ihr Angst eingejagt haben, denn sie riss sich los – mit erstaunlicher Kraft, wie ich feststellte – und lief zu der immer noch offenen Tür. Noch heute kann ich ihre kleine Gestalt in dem grünen Mäntelchen vor mir in der dunklen Diele verschwinden sehen, die winzigen hellbraunen Stiefel und den orange und violett gestreiften Schal.
Wieder können nur wenige Sekunden vergangen sein, ehe ich ihr nachlief, und dennoch erschien es mir wie eine Ewigkeit. Ich hörte sie nach Émilie rufen, dann nach François – erst die Dienstboten, wohlerzogen wie sie war –, aber schon die Namen ihrer Brüder blieben ihr im Halse stecken …
Im Lauf ihres kurzen neuen Lebens hatte Annika gelernt, auf die kleinen Anzeichen zu achten, mit denen sich ein Anfall vorbereitete. Aber manchmal entgingen ihr die Vorzeichen oder sie blieben ganz aus, und dann traf er sie völlig überraschend, mit einer Heftigkeit, die einer Explosion in ihrem Gehirn gleichkam. Wenn sie sich aufregte oder traurig war, oder wenn etwas geschah, dass sie aus der Kurve warf wie eine zu schnell auf ihren Schienen dahinrasende Spielzeuglokomotive, dann konnte
sie die Kabel hinter ihrer Stirn fast durchschmoren fühlen, bevor alles in das blendende Licht sprühender Funken getaucht wurde. Manchmal hörte sie sich schreien; manchmal spürte sie den Schmerz, wenn sie sich auf die Zunge biss; manchmal war es, als hätte sie einen schwach geladenen elektrischen Zaun angefasst; manchmal roch sie heißen Feuerstein; manchmal veränderten sich die Farben, wurden heller oder dunkler oder begannen zu flimmern; manchmal wurde das Licht greller oder schwächer; manchmal veränderten sich die Dimensionen, und Gegenstände rückten näher heran oder weiter weg; manchmal bekam sie Angst, die zur Panik wurde, so schnell, dass ihr keine Zeit mehr blieb, sich vorzubereiten; manchmal fand sie sich dann hilflos auf dem Boden wieder, und wenn sie die Augen wieder aufschlug, kam sie sich vor, als erwachte sie aus einer Narkose.
Oft jedoch war die Spannung, die sich in ihr aufgebaut hatte, so drückend, dass sie den Anfall geradezu als Erleichterung empfand. Und wenn sie dann merkte, was geschah, wenn sie die Anzeichen las und vorbereitet war, gab es Sekunden, in denen sie leuchtete und alles sah und alles verstand. In denen alles einem Wunder glich, dem sie für diese wenigen Sekunden gewachsen war wie ein Engel dem Licht Gottes. Kein Zorn mehr. Keine Wut. Keine hilflose Raserei. Kein Schmerz. Keine Grenzen, kein Raum, keine Zeit, nur Erfüllung und Ekstase in dem Zucken des Gehirns, das sich entlud. Manchmal verzichtete sie darauf, ihre Medikamente zu nehmen, damit die Anfälle schneller kamen. Wie eine Süchtige.
Sie wusste, dass sie gefährdet war; Schmerzen bedeuteten ihr etwas. Sie verstand die Qualen ihrer Patienten besser, seit sie aus dem Krankenhaus gekommen war, und sie erkannte Zusammenhänge, Strukturen oder Gefahren, die andere nicht sahen. Die Ahnung von Gewalt allein schon versetzte sie in einen Zustand, in dem ihre Nerven zu Antennen wurden, alle Zellen zu Empfängern. Als sie das Journal von Matthias Steinberg las, das ihr Bambi vorsorglich zusammen mit dem Memory Stick zur Aufbewahrung übergeben hatte, sah sie die Bilder zwischen den Zeilen, und bei dem Anblick stockte ihr der Atem.
Sie saß auf einem Hocker an einem Stehtisch in einem 24-Stunden-Kiosk und las, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Bambi hatte sie in der Nacht angerufen, als sie bei der Chinesischen Botschaft angekommen war, aber danach nicht mehr. Seitdem waren vier Stunden vergangen. Annika hatte ihren Rucksack gepackt, ihr Hotel verlassen und war durch die Straßen gegangen, bis sie den Kiosk entdeckt hatte.
Der Kiosk war leer, nur ein junger Mann in einem schwarzen Trainingsanzug an der Kasse und ein älterer Mann auf der anderen Seite des Tresens, mit dem er sich unterhielt, während ein Sänger in einem unsichtbaren Radio traurige arabische Lieder sang. Hier suchte bestimmt niemand nach ihr, selbst wenn sie auf die Idee kamen, dass Ella vor ihrem Treffen mit Aziz zu wenig Zeit gehabt hatte, um den Stick in einem Schließfach zu deponieren oder woanders zu verstecken. Und dass nur eine Person infrage kam, der sie vertraute und die bis vor Kurzem mit ihr zusammen gewesen war.
Annika hatte einen Kaffee aus dem Automaten gezogen – gefährlich, wegen des Koffeins, aber sie durfte nicht einschlafen – und ein belegtes Sandwich, weil sie beim Lesen immer Hunger bekam. Sie saß an dem runden Stehtisch ganz hinten zwischen ein paar Regalen mit Wein-, Schnaps-, Cola- und Bierflaschen, halb verborgen hinter Drehständern mit Zeitungen, und da las sie beim schlechten Licht einer unruhig flackernden Neonröhre an der Decke des kleinen Raums die Aufzeichnungen, die Matthias Steinberg nach seiner Flucht in seinem Journal niedergeschrieben hatte.
Sie sah das kleine Mädchen, das sich von seinem Hauslehrer losgerissen hatte. Sie sah es auf dem vergilbten Papier, und sie sah, wie es das Papier verließ und durch die offen stehende Tür in die dunkle Diele dahinter lief. Sie spürte die Angst, die in Annémone aufstieg und sich ihr auf die Brust legte.
Es war inzwischen so dunkel geworden, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Annie rief »Émilie« und »François«, und danach hörte ich nichts mehr. Der Anblick der toten Köchin und des ermordeten Hausdieners musste ihr die Sprache verschlagen haben, denn sie rief weder nach ihren Brüdern noch nach ihren Eltern. Als ahnte sie schon, dass das Grauenhafte auch diese nicht verschont hatte, wollte aber den Moment des Begreifens nicht voreilig herbeiführen, ging sie schweigend weiter, mit jener Tapferkeit, jener unbedingten Weigerung, vor dem Bösen zurückzuweichen, wie sie nur Kindern zu eigen ist.
Und so ging die kleine Annie weiter, tiefer in das dunkle Haus hinein, und dort fand sie ihren Bruder Sébastien. Gott sei Dank reichte das Licht nicht mehr aus, um sie die Wunden genau erkennen zu lassen, nicht einmal das Blut war mehr rot. Sie bückte sich, berührte Sébastien an der Hand, zupfte an seinem Ohr, als spielte er ihr nur einen seiner Streiche wie sonst so oft. Inzwischen hatte ich sie eingeholt und wollte sie wegführen, doch einmal mehr schüttelte sie mich ab und ging weiter, und auch diesmal wollte ich ihr folgen, um ihr wenigstens das Schlimmste zu ersparen.
Da erklangen Stimmen vor dem Haus, leise noch, in einiger Entfernung, aber doch auf dem Weg, der zum Anwesen führte. Was, wenn man mich hier fand, das Blut der Toten an meinem Schuhwerk? Ich wollte Annie davon abhalten weiterzugehen, und ich wollte fliehen, und beide Gefühle waren gleich stark, sodass ich einige Herzschläge lang keinem von beiden nachgab.
Annémone ging weiter, Schritt für Schritt, und beim Lesen war Annika, als ginge sie dicht hinter ihr, als wäre sie bei dem kleinen Mädchen in dem dunklen Haus. Sie fanden auch ihren anderen Bruder, Jean-Marie, reglos auf der Schwelle. Sie konnten
die Wunde in seinem Hals sehen, da, wo der Knorpel an seiner Kehle gewesen war, und sie merkten, wie ihre Beine ganz zitterig wurden, und in ihrem Kopf brannte es. Sie bekamen kaum noch Luft. Annie ging weiter, weil sie nicht stehen bleiben konnte, und auch Annika konnte nicht zurück.
Bevor sie jedoch über die Schwelle zum Salon schritt, in dem ihre Mutter lag, hörten wir einen Laut aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Das Geräusch war so fein wie das Rascheln eines dünnen, trockenen Astes. Ohne nachzudenken, lenkte sie ihre Schritte nun in die Richtung, aus der es an ihre Ohren gedrungen war. So fand sie auf dem Boden vor dem offenen Tresor – in den sie nie zuvor schauen durfte – eine schattenhafte Gestalt auf dem Bauch liegend, und der Laut, den sie gehört hatte, wiederholte sich, und in dem Seufzen erkannte sie den Atem ihres Vaters.
Auf das Lebenszeichen antwortete sie mit einem eigenen: »Papa?«
Sie starrten auf den Kopf des liegenden Mannes, dessen Gesicht der Tür zugewandt war, und dabei traten sie langsam auf ihn zu. Als sie nah genug war, sah sie, dass seine Lippen sich bewegten und sogar, dass ein rötliches Rinnsal aus seinen Mundwinkeln floss. Sie sah es, weil in diesem Moment der Raum nicht mehr dunkel war, sondern von einer merkwürdigen, flackernden Helligkeit erfüllt, die einem Wetterleuchten glich. Die Möbel, die Bilder an den Wänden, die Teppiche verblassten und verloren sogar ein wenig die Konturen, während die Lippen des Vaters all ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Langsam, fast bedächtig kniete Annémone neben ihrem sterbenden Vater nieder und strich ihm mit ihrer zarten, kleinen Hand über das graue Haar, das ihm ins Gesicht fiel. »Papa«, flüsterte sie. Er schlug die Augen auf, und einen Herzschlag lang blickten
sie klar und lebendig. Sie legte ihm die Arme um die Schultern und schmiegte sich an ihn, um verstehen zu können, was er ihr zu sagen versuchte, und sie hörte, wie er flüsterte: »La … La – zare … Lazaaaare …«
Das war das letzte Wort, das Auguste Schneider mit seinem letzten Atemzug auf dieser Erde sprach; das war der Name seines Mörders.
Natürlich verstand Annémone nicht, was sie gehört hatte. Das Wort klang so ähnlich wie der Name ihres Nachbarn, der ihr immer Süßigkeiten mitbrachte, wenn er zu Besuch kam und dem die Pferde gehörten, auf denen sie manchmal reiten durfte. Aber jeder, dem sie später erzählte, was sie gehört hatte, glaubte, dass ihr Verstand sich verwirrt hätte, ein bisschen wenigstens. Angeblich war Christophe Lazare ja den ganzen Tag über in Colmar bei einem Kunden gewesen, und niemand machte sich die Mühe zu überprüfen, ob dies der Wahrheit entsprach. Wie viel einfacher war es doch, meinem Bruder und mir das Verbrechen in die Schuhe zu schieben, denn in diesem Moment waren die Stimmen schon sehr nah und ich lief, so schnell ich konnte –
Die Worte verschwammen vor Annikas Augen, die Buchstaben zerliefen, als wären sie in strömenden Regen geraten. Sie stellte fest, dass ihre Hand, in der sie den Kaffeebecher hielt, heftig zitterte. Der Inhalt spritzte auf die eng beschriebenen Seiten. Das feuchte Papier begann zu schillern wie ein Libellenflügel. Sie sah auf. Der ganze Kiosk schien sich ihr entgegenzuwölben und von ihr wegzuschrumpfen wie ein Blasebalg. Plötzlich nahm sie den Geruch von frisch gespitzten Bleistiften wahr. Die Flaschen in den Regalen wirkten aufgebläht, größer als zuvor, auch die Überschriften der Zeitungen in den Drehständern, als hielte jemand eine Lupe dicht an die Worte. Die bunten Titelbilder und die Farben der Flaschen und Zigarettenschachteln hinter dem Tresen leuchteten wie Neon.
Die beiden Männer, der Junge in dem Trainingsanzug, und der Alte, starrten zu Annika herüber. Sie zuckte und brachte den ganzen Tisch zum Wackeln. Sie versuchte sich festzuhalten, weil der Raum langsam unter ihr wegkippte; sie wurde leicht, und die Angst, die sie erfüllt hatte, war auf einmal verschwunden. Sie fühlte sich wie vom weißen Gefieder eines Engels umschlossen, und dann wurde ihr schwindlig, und sie schrie, weil es jählings keinen Boden mehr unter ihr gab, nichts mehr, das sie hielt, und sie fiel, und sie spürte noch, wie das Fallen sie ergriff, aber sie spürte nicht mehr, wie sie auf die Fliesen unter ihr schlug und sich dort noch so lange hin und her warf, bis der Stromkreis in ihrem Gehirn zusammenbrach.