37

Ella erwachte zum ersten Mal, als es noch dunkel war. Sie befand sich auf dem Rücksitz eines großen Wagens mit getönten Scheiben, der mit hoher Geschwindigkeit zu fahren schien. Sie konnte die Männer, die bei ihr waren, nicht erkennen. Ihr Herz raste, und ihr war übel. Als sie sich bewegte, sagte der Mann neben ihr auf dem Rücksitz etwas, das sie nicht verstand. Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich um und antwortete etwas, das sie auch nicht verstand, weil der Motor die meisten anderen Geräusche übertönte. Sie spürte einen Stich am rechten Unterarm. Sie versuchte zu sehen, was sie gestochen hatte, aber da verlor sie schon wieder die Kraft, sich zu bewegen, und die Augen fielen ihr zu.

Als sie zum zweiten Mal erwachte, war es heller. Lichtreflexe huschten über ihre Lider, Kreise und Punkte trieben vorbei, leuchtende Farben. Sie hörte Straßenlärm, die Stimmen von Menschen. Im Mund hatte sie einen wattigen, süßlichen Geschmack. Sie öffnete die Augen. Sie lag auf einer dünnen Matratze in einem kahlen Raum mit grauen oder weißen Wänden. Kein Mobiliar, kein Bild, kein Kabel, das sich über den nackten Kachelboden schlängelte. Von der Matratze stieg ein modriger Geruch auf. Es gab eine Tür und ein Fenster, vor dem eine Jalousie mit gekippten Lamellen heruntergelassen war. Blendende Lichtbalken und Zebraschatten lagen über dem ganzen Raum. Die Luft war stickig.

Wo bin ich? Seit wann bin ich hier? Wer waren die Männer in der Limousine mit den getönten Scheiben?

Sie war allein. Sie lag auf dem Rücken, und sie konnte ihre Hände und Beine nicht mehr spüren. Sie versuchte, sich aufzurichten, aber sie fiel sofort wieder zurück. Ihre Hände waren mit breitem Isolierband gefesselt, das die Blutzirkulation abschnürte. Ihre Beine waren auf dieselbe Weise knapp oberhalb der Knöchel fixiert. Auch ihr Mund war zugeklebt. Sie war noch immer müde, trotzdem riss sie jetzt die Augen weit auf. Nicht einschlafen; ich darf nicht wieder einschlafen.

Sie versuchte, den Straßenlärm, der durch das geschlossene Fenster hereindrang, zu sortieren: keine Motoren, weder Autos noch Motorräder, auch keine Räder auf Schienen. Dafür das Scheppern von Mülltonnen, das Schrillen von Fahrradklingeln, Straßenmusikanten, Gitarren und Ziehharmonika. Stimmen, die schnell wechselten; sie schienen von unten zu kommen. Eine Fußgängerzone? Aber in welcher Stadt? Bin ich noch in Berlin? Sie versuchte, Sprachfetzen herauszufiltern, aber sie identifizierte nur einzelne Worte, lauter als die anderen, Arabisch, Englisch, Spanisch. Jemand rief Luc! Luc! Irgendwo lief ein Radio oder Fernsehgerät, auf volle Lautstärke gedreht; ein unverständlicher Sprecher, dann Musik, die türkisch oder arabisch klang.

Warum bin ich hier? Sie merkte, wie ihre Lider wieder schwer wurden. Nicht einschlafen! Was kannst du tun, damit du nicht wieder einschläfst? Sie konnte wütend werden, und als sie das dachte, merkte sie, dass sie es schon war: Sie war allein, auf sich gestellt, kein Dany, keine Annika. Sie war verschleppt worden, sie wurde hier gefangen gehalten – ein guter Grund, um wütend zu sein, aber nur einer von vielen. Sie war Hauptkommissar Aziz in die Falle gegangen und hatte mit ansehen müssen, wie er seinen Kollegen erschossen hatte. Warum hatte er nicht auch sie getötet? War die Tatsache, dass sie noch lebte, ein Lichtblick?

Sie hatte sich getäuscht, in beiden, und sie fragte sich, ob Hauptkommissar Schröder noch leben könnte, wenn sie weniger naiv gewesen wäre. Sie knirschte mit den Zähnen bei dem Gedanken, dass er vielleicht gestorben war, weil er sie retten wollte; weil er ihr geglaubt hatte, nicht Aziz. Sie sah ihn sterbend auf der Straße liegen. Sie erinnerte sich an Männer, die aus der Chinesischen Botschaft gekommen waren, um seinen Körper wegzutragen. Was haben die Chinesen damit zu tun?

Sie bewegte die Füße, damit die Blutzirkulation wieder in Gang kam. Sie bewegte die Hände. Sie versuchte den Mund zu öffnen, aber das Isolierband saß zu straff und war über ihren Unterkiefer und um den Nacken geklebt. Es fühlte sich an, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Ihre Zunge schien größer als sonst, geschwollen. Sie presste sie gegen den Gaumen und drückte sie in den Rachen hinein. Auf einmal spürte Ella einen Würgereiz und geriet in Panik. Du darfst dich nicht übergeben, dachte sie; wenn du Erbrochenes in den Mund kriegst, kannst du ersticken.

Sie drehte den Kopf zur Seite und schluckte mehrmals schnell hintereinander, bis der Brechreiz verschwand, nur der pappige, süßliche Geschmack blieb. Noch einmal versuchte sie mit aller Kraft, den Mund zu öffnen. Nach wenigen Sekunden begannen ihre Halssehnen zu schmerzen, dann glühte der ganze Nacken. Sengende Stiche schossen in den Gaumen und von dort in die Stirn. Sie biss sich auf die Zunge. Ein Kitzeln breitete sich darunter aus, lief in den Rachen, die Kehle, Blut, sie schluckte wieder. Die angespannte Haut unter dem Klebeband brannte jetzt ebenfalls. Der Schmerz hallte hinter den Schläfen und im Hinterkopf nach, ein Echo, das nur langsam verklang, aber nicht ganz.

Tränen rannen Ella über die Wangen, und sie blinzelte, bis sie wieder klar sah. Sie rollte sich von der Matratze, landete auf dem harten Boden und zog die Beine an, versuchte auf die Knie zu kommen. Auf der rechten Hüfte liegend, drehte sie sich halb um sich selbst, hoch mit dir, komm schon!, aber sie schaffte es nicht.

Sie vernahm ein neues Geräusch, das ihren Herzschlag stocken ließ. Es drang von draußen herein, aber nicht durch das Fenster, sondern durch einen Belüftungsschacht. Sie hielt den Atem an, hoffte, dass es sich wiederholte. Sie lag auf der Seite, den Kopf lauschend angehoben, und wünschte, ihr Herz stünde still, nur um besser hören zu können.

Da, da war es wieder! Sie erinnerte sich an das Geräusch. Sie hatte sich nicht getäuscht, und jäh begriff sie, was es bedeutete: Sie war in Paris. Was sie hörte, war das Abfahrtssignal der Métrozüge, gedämpft und doch unverkennbar.

Vielleicht solltest du Paris von der Liste deiner Reiseziele streichen.

Sie ließ den Kopf auf den harten Boden zurückfallen. Sie schrie gegen das Isolierband an, brüllte durch die geschlossenen Lippen, mit zusammengebissenen Zähnen. Sie warf sich herum, scharrte mit den Füßen. Versuchte noch einmal, auf die Beine zu kommen.

Dann ein anderes Geräusch: ein Schlüssel, der im Türschloss umgedreht wurde. Die Tür ging auf, und eine farbige Frau betrat den Raum. Die Frau war kräftig – breite Schultern, kleine Brüste, schmale Hüften, fast wie ein Mann. Sie trug schwarze Laufschuhe, eine schwarze Jogginghose und ein weißes Feinrippunterhemd. Pulswärmer verdeckten ihre Handgelenke. Das dicke rotbraune Haar war straff nach hinten gekämmt und zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, schien sich aber mit allen Strähnen gegen diese Behandlung zu wehren. Kleine schwarze Muttermale bedeckten ihr Gesicht wie Fliegendreck. Ihre muskulösen nackten Arme waren mit einem glänzenden Schweißfilm überzogen. Auf dem rechten Bizeps befand sich ein Tattoo, das einen Drachen oder ein Seepferdchen zeigen konnte. Ihre bernsteingelben Augen sahen Ella gleichgültig an. Sie holte ein flaches Handy aus der rechten Tasche der Jogginghose, klappte es auf und wählte eine gespeicherte Nummer. Nach ein paar Sekunden sagte sie mit einer dunklen Stimme: »Elle s’est reveillée.«

Sie lauschte. »Oui.« Sie ging zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Sie umkreiste Ella, ging dann elastisch in die Hocke und fotografierte sie mit dem Handy, wobei sie darauf zu achten schien, dass der Blick aus dem Fenster mit auf dem Bild war. Danach überprüfte sie, breitbeinig über Ella stehend, das Isolierband an Beinen und Handgelenken. Sie roch nach Schweiß und einem herben Eau de Toilette.

Ella schrie durch die zugeklebten Lippen, bis ihr der Speichel in die Nase drang. Die farbige Frau sah sie an und sagte nichts und tat auch nichts, außer dass sie die Jalousie wieder herunterließ, aus dem Zimmer ging und den Schlüssel im Schloss umdrehte. Als Ella mit dem Schreien innehielt, hörte sie die farbige Frau vor der Tür mit einer anderen Frau sprechen, sie sagte etwas, und die andere Frau antwortete, und dann lachten beide kurz.

Ella wollte sich wieder auf die Matratze rollen, allerdings gelang es ihr nicht. Einige Zeit später wurde die Tür zum zweiten Mal geöffnet, und die farbige Frau kehrte zurück und brachte ihr einen Nachttopf aus emailliertem Metall. Sie stellte den Topf neben die Matratze und blickte Ella fragend an. Ella nickte. Mit der langen Klinge eines Taschenmessers durchtrennte die Frau das Isolierband an Ellas Beinen, knöpfte ihr die Jeans auf und zog sie herunter. Danach streifte sie Ella auch noch das Höschen bis über die Knie. Ella schoss das Blut in den Kopf. Die Frau trat ein paar Schritte zurück, wandte sich aber nicht ab.

Ella kehrte ihr den Rücken zu, hockte sich auf den Topf und spürte, wie ihr Tränen der Scham in die Augen stiegen. Als sie fertig war, stand sie auf, und die farbige Frau zog ihr das Höschen und die Jeans wieder hoch und knöpfte die Jeans zu. Die Frau legte einen Zeigefinger an die Lippen. »Pas hurler!«, sagte sie warnend. Die Knöchel des Fingers waren geschwollen und mit Hornhaut bedeckt. »Don’t yell!« Dann zog sie Ella mit einem Ruck das Isolierband von den Lippen.

Ella japste vor Schmerz und verschluckte sich fast an der Luft. »Was haben Sie mit mir vor?«, fragte sie keuchend.

»Comprends pas«, sagte die Frau.

»What do you want from me?«

»Don’t speak.« Die halb geschlossenen Augen der Frau waren wie ein Spiegel. Ella sah sich darin und dachte, was immer geschehen kann, ist bereits geschehen, ich brauche nicht mehr darauf zu warten. Nur auf die Erklärung. Diesmal verließ die Frau den Raum nicht wieder, sondern deutete auf die Matratze. »Sit down.« Ella schüttelte den Kopf, aber schließlich gehorchte sie. Sie dachte, du musst so tun, als wärst du bereit mitzuspielen, du musst ihre Wachsamkeit einschläfern.

Die Frau griff in die Gesäßtasche der Jogginghose und holte eine zusammengefaltete schwarze Plastiktüte hervor, auf der nur das Wort FNAC stand. Mit dem Taschenmesser stach sie mehrere Löcher hinein, dann stülpte sie Ella die Tüte über den Kopf. »Vous pouvez souffler?«, fragte sie. »Υou get air?«

»No!«, sagte Ella, obwohl sie nach einem ersten Moment der Panik feststellte, dass sie genug Luft bekam. Sie versuchte, durch die winzigen Löcher zu spähen. Die Tüte roch schal nach warmem Kunststoff, nach ihrem eigenen Atem. Die farbige Frau stand noch immer vor ihr, sie konnte sie ebenfalls riechen, und dann streifte sie ein Luftzug, und sie hörte, dass noch jemand den Raum betrat, jemand, der keine Sneakers trug, sondern Schuhe mit harten Absätzen. Sie folgte den Schritten nach Gehör, mit dem ganzen Kopf, den Schlitzen in der Tüte, durch die sie nichts sehen konnte, nur weißes Licht. Die Schritte hielten Abstand zu ihr, näherten sich dem Fenster. Eine Männerstimme sagte: »Bonjour, Madame Bach.«

»Wer ist da?«, fragte sie, und ihre Stimme klang fremd unter der Tüte, viel zu hell. »Wer sind Sie?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte die Stimme jetzt auf Deutsch, mit dem leichten französischen Akzent, den auch Dany hatte. »Wir sind, was wir tun. Und wenn Sie tun, was wir wollen, wird der Albtraum, in dem sie seit einiger Zeit leben, bald vorüber sein.«

»Wir?«, fragte Ella kurzatmig, hastig. »Wer ist wir?«

»Wir vertreten eine Gruppe von Leuten, die ein Problem zu lösen haben«, antwortete der Mann, »vereinfacht gesprochen. Und bitte glauben Sie mir, unsere Ziele sind weit besser als die Mittel, die wir notgedrungen manchmal anwenden müssen.«

Ella fragte: »Was habe ich mit Ihren Zielen zu tun? Warum bin ich hier?« Sie hatte sich schnell ein provisorisches Bild von dem Mann gemacht, den sie nicht sehen konnte, eine Vorstellung – anhand seiner perfekten Beherrschung einer für ihn fremden Sprache, der Lederschuhe und seiner Stimme. Sie stellte sich vor, dass er elegant war, gepflegt, um die vierzig; er trug einen teuren Anzug, und er war gebräunt, nicht von der Sonnenbank, sondern vom Tennisplatz, vielleicht vom Wasserskifahren. Dunkles Haar, möglicherweise mit einer Spur frühem Grau, auf keinen Fall blond. Ein paar Falten auf der Stirn, aufmerksame Augen, sehr wach; manikürte Hände. Aber das Bild, das so entstand, beruhigte sie nicht, denn jemand, der so aussah und sich so verhielt, konnte eigentlich nur zu Rochefort, Gladstone & Wentworth gehören.

»Dieses Problem, das Sie lösen müssen«, sagte sie, »hat nicht zufälligerweise etwas mit dem Verschwinden von Raymond Lazare zu tun?«

»Sie sind scharfsinnig«, sagte der Mann. »Das gefällt mir – schön und scharfsinnig.« Ein Feuerzeug schnappte auf und zu. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«

»Es stört mich, dass Sie mich entführt haben«, antwortete sie wütend. »Es stört mich, dass Sie Menschen umbringen. Ganz besonders meinen Freund Max nehme ich Ihnen übel. Es stört mich, dass Sie mir mein Leben gestohlen haben. Und wo wir schon mal dabei sind: Es stört mich, dass Sie mit mir reden, während ich eine Plastiktüte über dem Kopf trage und hier irgendwo noch ein Topf mit meinem Urin herumsteht – «

Sie spürte, wie sich die Tüte mit ihrem Atem füllte und wie die Innenseite beschlug, sie spürte die feuchte Wärme, und wenn sie die Augen schloss, flimmerte das Licht unter den Lidern.

Der Rauch englischer Zigaretten schwebte in der Luft. Der Mann schien abzuwarten, ob sie noch weiterreden wollte, und als sie schwieg, sagte er: »Die Tüte tragen Sie zu Ihrem Schutz. Es ist besser, wenn Sie mich nicht sehen. Um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Sie sind hier, weil Sie uns keine andere Wahl gelassen haben. Wenn Sie aufgegeben hätten, wären Sie nicht hier. Wenn Sie sich einfach nur versteckt hätten, statt herausfinden zu wollen, was um Sie herum vorgeht, wären Sie nicht hier. Aber Sie mussten ja immer weitermachen, egal, wer alles um Sie herum getötet wurde. Sie mussten uns ja immer näher kommen, und deswegen haben wir den letzten Schritt für Sie getan und die Sache etwas abgekürzt: Jetzt sind Sie da, wo wir auch sind, weil Sie sich auf dem Weg hierher von jemandem, den wir ganz und gar nicht gebrauchen konnten, in jemanden verwandelt haben, den wir doch brauchen können.«

»Sie oder Ihre Mandanten?«, fragte Ella nach. »Oder ist das in diesem Fall dasselbe?«

»Das Ziel unserer Mandanten ist auch unser Ziel, solange wir für sie tätig sind«, erklärte der Mann. »So wie das Ziel eines Patienten zu Ihrem Ziel wird, wenn er zu Ihnen kommt. Anwälte und Ärzte, wir müssen beide nehmen, was wir kriegen, nicht wahr?«

Das Gefühl, das Ella beim Blick in die Augen der farbigen Frau gehabt hatte, war nun stärker als alles andere, sogar als sie selbst: Was immer geschehen konnte, war bereits geschehen, und sie hatten sie nicht getötet. Bisher nicht und solange sie sie brauchen konnten nicht, und wenn es ihr gelang, die Antwort zu finden, vielleicht nie. Bis es so weit war, musste sie so tun, als hätte sie sich damit abgefunden, ihr Instrument zu sein.

»Wozu?«, fragte sie, und merkte, dass ihre Neugier jetzt größer war als ihre Angst, sogar größer als die Wut. »Wozu brauchen Sie mich?«

»Sie sollen das für uns tun, was Sie am besten können«, sagte der Anwalt. »Wie ich schon sagte, wir sind, was wir tun, und Sie tun Gutes. Sie retten Leben. Genau das möchten wir von Ihnen, dass Sie ein Leben retten. In diesem Fall sogar eins, das Sie schon einmal gerettet haben! Laetitia.«

Ella spürte, wie eine Hand ihren rechten Oberarm umschloss und ihr aufhalf. »Viens«, sagte die farbige Frau. Sie führte Ella vom Fenster weg in den nächsten Raum. Das Licht veränderte sich, wurde heller, ein anderer Geruch drang durch die Tütenschlitze. Ella wurde mehrmals um die eigene Achse gedreht und anschließend in einen dritten Raum geführt. Dieser Raum war wieder dunkel. Mit einer schwungvollen Geste zog die farbige Frau Ella die Tüte vom Kopf.

Sie brauchte einige Sekunden, um etwas erkennen zu können. Sie war in einer kleinen Kammer ohne Fenster, an der Decke eine lose baumelnde Glühbirne, die nicht brannte. Die Kammer war leer bis auf eine Matratze von gleicher Machart wie die, auf der sie gelegen hatte. Auf der Matratze kauerte eine junge Frau. Sie war barfuß und trug dunkelblaue Jeans und einen burgunderroten Strickpullover. Die Hände lagen wie kleine verkrüppelte Klauen in ihrem Schoß. Ihre Haare waren strähnig, achtlos hinter die Ohren geschoben, und das Gesicht verschwand hinter Mullbandagen, einer weißen Nasenprothese und einem Drahtgestell vor dem Mund, das auch die Zähne zu schützen schien. Die Wangen waren geschwollen und verfärbt, die in den Höhlen verrutschten Augen blutunterlaufen. Schmutzige Bandagen, die offenbar länger nicht gewechselt worden waren, führten vom Nacken am Hals entlang unter den Pullover, zu den Brüsten.

Bei Ellas Anblick begann die Frau am ganzen Körper zu zittern, als hätte sie plötzlich Angst. Ihre Füße zuckten, und sie bewegte die Hände, und jetzt, als sie die zitternden Hände genauer ansah, erkannte Ella auch die Frau, und sie begriff, dass es keine Angst war, sondern Freude: Mado Schneider freute sich, sie wiederzusehen.