38

Sie befand sich wieder in dem Raum, in dem sie aufgewacht war, und sie hatte auch wieder die Plastiktüte über dem Kopf und hockte auf der flachen Matratze, als der Anwalt fragte: »Wo ist es?«

Ella sagte: »Ich habe es nicht mehr.«

»Das wissen wir. Wo ist es?«

Ella antwortete nicht.

»Hat Ihre Freundin es? Frau Jansen?«

»Nein.«

»Sie hat es also. Was ist darauf?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ella. Außer der Stimme des Mannes hörte sie in sich auch noch die von Mado – Mado, die lebt, die gar nicht tot ist –, die in der kleinen Kammer kauerte und gesagt hatte: »Bitte – bitte, helfen Sie mir!« In diesem völlig unpassenden Augenblick verspürte sie noch einmal den Rausch jenes Morgens, als sie in der Feuerwache erwacht war und geglaubt hatte, wieder ein Leben gerettet zu haben, als Siegerin aus dem aussichtslosen Kampf gegen den Tod hervorgegangen zu sein.

Der Anwalt sagte: »Wir wissen inzwischen, was es ist und wie es von Paris nach Berlin gelangt ist. Wir wussten es nicht, als wir jemanden zu Mademoiselle Schneider geschickt haben und wie sich herausstellte, wusste sie es selbst auch nicht. Aber jetzt wissen wir, dass es ein Memory Stick ist und dass Mademoiselle Schneider ihn an Professor Forell weitergegeben hat, von dem er zweifellos vor seinem Tod in Ihre Hände gelangt ist. Nach wie vor unklar ist uns aber, was sich auf diesem Memory Stick befindet – was für eine Ton- oder Bildaufnahme. Das wusste nicht einmal Mademoiselle Marceau, die uns als Quelle sehr nützliche Dienste geleistet hat. Oder Professeur Barrault, von dem Sie bestimmt auch schon gehört haben …«

»Ich habe Durst. Geben Sie mir ein Glas Wasser, bitte.«

»Wenn wir fertig sind.« Der Anwalt zündete sich eine neue Zigarette an. »Wir haben natürlich eine Vorstellung von dem Inhalt des Sticks, und Professor Barrault hat uns bestätigt, dass diese Vorstellung aller Wahrscheinlichkeit nach zutrifft, aber das macht es umso notwendiger, dass wir mit Raymond Lazare persönlich darüber sprechen können, und zwar schnell, denn viel Zeit bleibt uns leider nicht mehr. Deswegen brauchen wir jemanden, der uns hilft.«

»Ich höre Ihnen nicht mehr zu, wenn ich nichts zu trinken bekomme«, sagte Ella.

»Sie werden mir zuhören«, sagte der Anwalt, »und wenn Sie mir bestätigen, dass Sie alles verstanden haben, bekommen Sie, was immer Sie wollen.«

»Warum sollte ich Ihnen helfen?«, fragte Ella. »Für mich war Madeleine Schneider schon tot. Ich hatte ihr Leben gerettet und sie in die Klinik gebracht, aber Sie haben sie von dort entführen lassen und die Nachricht verbreitet, ich hätte Sie ermordet. Jetzt erfahre ich, dass sie noch lebt, aber das hat nichts mehr mit mir zu tun.«

»Es hat sehr viel mit Ihnen zu tun«, sagte der Anwalt, »denn wenn Sie uns nicht helfen, wird sie zum zweiten Mal sterben, und nur Gott bringt es fertig, jemanden erst zu retten, um ihn dann doch denselben Tod noch einmal sterben zu lassen, aber nicht Sie! Ich habe Sie studiert, Sie bringen das nicht fertig. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen erkläre, wie kompliziert unsere Situation damals war. Unsere Mandanten kamen zu uns, weil sie darauf vertrauten, dass wir ihnen schnell helfen. Einer aus ihrem Kreis hatte sich gegen sie gewandt und drohte sie alle in den Abgrund zu stürzen. Unsere Mandanten wollten, dass wir herausfinden, warum er sich so verhielt. Was geschehen war. Und sie wollten, dass wir ihn entweder davon überzeugen, in ihren Kreis zurückzukehren oder Maßnahmen ergreifen, um ihn unschädlich zu machen. Wir standen und stehen unter großem Zeitdruck, schon vom ersten Tag an.«

Ella hatte Angst, das Bewusstsein zu verlieren, wenn sie nicht bald etwas zu trinken bekam. Ihr Atem hörte sich hechelnd an, das dünne Plastik flatterte vor ihren trockenen Lippen.

»Wir fanden heraus«, sagte der Anwalt, »dass Monsieur Lazare wenige Tage vor seinem Verschwinden Besuch von Mademoiselle Schneider erhalten hatte und dass dieser Besuch ihn in einem Ausmaß verwirrt haben musste, das uns bei einem Mann wie ihm – wir kannten ihn ja als langjährigen Mandaten – unvorstellbar erschien. Allerdings wussten wir zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, was diese Verwirrung ausgelöst haben mochte und auch nicht, dass er schon länger Zweifel an dem Plan hegte, den er doch ursprünglich mit den sechs anderen zusammen entwickelt hatte. Genauso wenig wussten wir von der Geschichte seiner Familie und dem Ursprung ihres Reichtums oder dass sein Neffe Rémy Lazare ihm seit Jahren deswegen zusetzte und von ihm verlangte, den Namen der Familie reinzuwaschen.«

Der Anwalt hielt inne, als wüsste er nicht, wie viel er ihr erzählen durfte, redete dann jedoch schnell weiter, bevor sie ihn wieder unterbrach. »In dem aufgewühlten Zustand, in den ihn Madeleine Schneiders Besuch versetzt hatte, traf Raymond Lazare jedenfalls eine folgenschwere Entscheidung. Er entschied, die unerwartete Begegnung als ein Zeichen dafür zu betrachten, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen wäre, das Blut von seinen Händen zu waschen, sozusagen. Allerdings ahnte er wohl, dass er sich damit selbst zur Persona non grata machte und gab Mademoiselle Schneider daher – wie wir heute wissen – einen Memory Stick mit, in einer Flasche Rotwein versteckt. Offenbar ist sie mit dem Zug gefahren, beim Durchleuchten in der Flughafenabfertigung hätte man so was wohl bemerkt. Gott bewahre uns vor den Geistesblitzen und der Vertrauensseligkeit alter Männer. Wie auch immer, wir vermuten, dass der Stick eine Bild- oder Tonaufnahme von einem Zusammentreffen des Konsortiums enthält, einen Mitschnitt eines oder mehrerer Gespräche über die Absichten der Teilnehmer.«

Ella hörte, wie seine Stimme schwächer wurde; sie konnte ihn kaum noch verstehen.

»Jedenfalls«, fuhr er fort, während sich die Tüte immer weiter vor ihrem Gesicht blähte und zusammenzog, an ihren Nasenlöchern klebte, die Lippen verschloss, »ohne Mademoiselle Schneider zu sagen, wozu er sie benutzte, hatte er bereits beschlossen, unterzutauchen, bis der geeignete Moment gekommen war, mit dem, was er wusste, an die Öffentlichkeit zu treten und das Konsortium so mit höchster Wahrscheinlichkeit ins Gefängnis zu bringen. Was ist denn? Was haben Sie?«

Ella antwortete nicht; ihr war schwindlig, sie kippte zur Seite und blieb zusammengekrümmt auf der Matratze liegen.

Der Anwalt seufzte gereizt. Er sagte etwas auf Französisch, woraufhin die Frau, die er Laetitia nannte, sich mit leisem Quietschen auf ihren Gummisohlen entfernte. Etwas später kehrte sie zurück, hob die Plastiktüte ein paar Zentimeter weit an und setzte Ella ein Glas an die Lippen. Lauwarmes Wasser. Ella trank gierig, hustete, das Wasser lief ihr über das Kinn, aber sie trank weiter, bis die Frau das Glas wegnahm und die Tüte wieder zurechtrückte.

»Kann ich fortfahren?« Der Anwalt schien sich Mühe zu geben, nicht angewidert zu klingen. »Um seine Absicht so lang wie möglich zu verschleiern und so sein Verschwinden vorzubereiten, wollte Lazare seine Geliebte, Mademoiselle Marceau, erst kurze Zeit später zu sich holen. Ein folgenschwerer Fehler, der uns die Möglichkeit gab, auf Mademoiselle Marceau zuzugreifen. Von ihr erfuhren wir, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Geht es Ihnen jetzt besser?«

Ella gab keine Antwort.

»Die Aufgabe bestand nun darin«, erklärte er, noch immer gereizt, »möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, wo Raymond Lazare sich aufhielt und was er Mademoiselle Schneider nach Berlin mitgegeben hatte. Außerdem wollten wir es nach Möglichkeit bei ihr sicherstellen. Alle drei Aufgaben erwiesen sich als unerwartet schwierig, und leider hat der in Berlin eingesetzte Spezialist sich als sehr ungeschickt herausgestellt. Aber in der Zwischenzeit haben andere Mitarbeiter der von uns beauftragten Firma Mademoiselle Marceau weiter befragt und erfahren, dass die Begegnung mit Madeleine Schneider bei Raymond Lazare einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Unsere Mandanten erkannten, dass sie mit ihr einen Joker in die Hand bekommen hatten, der sich zu gegebener Zeit vielleicht noch als nützlich erweisen könnte. Deswegen beschlossen sie, Mademoiselle Schneider umgehend aus der Klinik, in die Sie sie gebracht hatten, in die Obhut anderer Spezialisten zu überführen. Das alles musste sehr schnell gehen, denn es war ein riskantes Spiel, und jede Karte, die man zog, hatte ein Verfallsdatum. Glücklicherweise half uns das Chaos nach dem Brand in dieser Berliner Diskothek, die Patientin gewissermaßen nahtlos von Ihnen zu übernehmen, was unter den gegebenen Umständen keine großen Schwierigkeiten bereitete.«

»Und eine dieser erwähnten Karten mit dem abgelaufenen Verfallsdatum war Max Jansen«, unterbrach Ella ihn.

»Bedauerlich, ja, ein Kollateralschaden«, gab der Anwalt zu. »Wir wussten einfach nicht, ob Mademoiselle Schneider nicht Ihnen oder ihm etwas gesagt oder gegeben hatte, das sie uns nicht gesagt oder gegeben hatte. Sie konnte zu jenem Zeitpunkt ja nicht mehr reden, um uns darüber aufzuklären, und wenn sie es gekonnt hätte, hätten wir nicht gewusst, ob sie die Wahrheit sagt.«

»Waren Sie auch bei mir zu Hause?«

»Natürlich.«

»Wenn Sie mich dort angetroffen hätten, dann wäre ich genauso behandelt worden?«

»Wahrscheinlich, ja.«

Ella hatte noch immer Durst, aber ihr Kopf war wieder klar. »Und da erzählen Sie mir, ich hätte mir das alles selbst eingebrockt? Ich hätte nur aufgeben und mich von einem Ihrer Spezialisten quälen und umbringen lassen müssen, um mir das alles zu ersparen? Anwaltslogik?«, fragte sie wütend. »Wann haben Sie denn beschlossen, sich meine Karte noch mal genauer anzusehen und zur späteren Verwendung wieder im Ärmel verschwinden zu lassen?«

Wieder schien der Anwalt kurz zu zögern, ehe er antwortete: »Mademoiselle Marceau hatte nicht Ihren Durchhaltewillen und vermutlich auch ein schwaches Herz. Wir mussten überlegen, wie wir mit einer weiteren Leiche umgehen sollten, die wir nicht einfach verschwinden lassen konnten, immerhin war sie die Geliebte eines der reichsten Männer der Welt gewesen. Nachdem Sie uns aber schon so viele Probleme bereitet hatten, entstand die Idee, Sie in den Plan zu integrieren und den Tod von Mademoiselle Marceau bei passender Gelegenheit als weitere Etappe auf ihrem Weg von Berlin nach Paris sichtbar werden zu lassen. Es ist wie bei einem Puzzle oder einer Schnitzeljagd: Es zählt immer nur die nächste Etappe, das große Ganze erkennt man erst am Ende.«

Ella fragte: »Würde es mir helfen, das große Ganze etwas schneller zu verstehen, wenn Sie mir sagen, warum die Frau, die mich hier bewacht, vorhin ein Foto von mir gemacht hat?«

»Jedes Handyfoto weist ein Datum und eine Uhrzeit auf. Diese Aufnahme dient als Beweis dafür, dass Sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort waren.«

»Das Foto zeigt mich gefesselt auf dem Boden einer Wohnung, die wie tausend andere aussieht – «

»Nur mit dem Unterschied, dass diese Wohnung Raymond Lazare gehört«, erklärte der Anwalt. »Er besitzt viele Wohnungen, und diese steht seit einiger Zeit leer. Hier werden Sie – wie das Foto beweist – gefangen gehalten, zu einem durch Datum und Uhrzeit belegten Zeitpunkt, zu dem Monsieur Lazare selbst noch untergetaucht ist. Es handelt sich also gewissermaßen um eine Versicherung für die Zeit danach. Denn falls es Ihnen nicht gelingen sollte, Monsieur Lazare davon zu überzeugen, dass Mademoiselle Schneiders Leben von seinem Verhalten abhängt – dass sie genauso sterben wird wie seine Geliebte, Nicolette Marceau –, wenn er uns also nicht die Gelegenheit gibt, ihn noch vor der Aktionärsversammlung seiner Bank am nächsten Freitag von seinem Vorhaben abzubringen, dann brauchen wir dieses Mittel, um zu verhindern, dass er uns nachträglich zu schaden versucht.«

Fast nonchalant fügte er hinzu: »Darüber hinaus stellt es natürlich einen zusätzlichen Anreiz für Sie dar. Schließlich sah es bisher ja so aus, als wären Sie für all die Morde der letzten Wochen verantwortlich, aus sehr persönlichen und – so darf man wohl sagen – niedrigen Beweggründen. Aber wenn Sie selbst eins der letzten Opfer in dieser Mordserie sind – neben dem ersten, Mademoiselle Schneider, von der es ebenso ein Foto hier in der Wohnung gibt –, dann muss zwangsläufig jemand anderer der Täter sein, jemand, der durch den von Hand zu Hand weitergegebenen Stick ebenfalls mit den Leichen in Verbindung gebracht werden kann. Natürlich ist dieser Stick dann längst unauffindbar. Und da niemand weiß, warum Monsieur Lazare untergetaucht ist, weiß dann wohl auch niemand, was er in der Zeit getan hat, in der er wie vom Erdboden verschluckt war. Die Verbrechen fallen ja ausnahmslos alle genau in die Zeitspanne seines Verschwindens – beginnend mit dem Mord an seiner Geliebten, nachdem er Besuch von dieser anderen jungen Frau erhalten hatte. Ach, da gibt es so viele Möglichkeiten, was man aus diesen Fotos konstruieren kann.«

»Wie fühlen Sie sich eigentlich bei dem, was Sie tun?«, fragte Ella in der Dunkelheit unter der Tüte. »Sie reden von Fotos, von Spielkarten, von einem Puzzle und einer Schnitzeljagd, mit einer Stimme, als gingen Sie die Fußnoten eines Fusionsvertrages durch. Aber das alles waren Menschen, jeder Einzelne von ihnen hat gelebt, und er hatte nichts als dieses eine Leben, und Sie haben es ihm genommen. Wie fühlen Sie sich bei dem, was Sie tun?«

»Ich bin Anwalt, ich fühle nichts. Aber Sie – Sie sehen jetzt hoffentlich, wie wichtig es auch für Sie ist, dass Sie Ihre Aufgabe ernst nehmen und genau tun, was wir Ihnen sagen.«

»Wie soll ich Lazare denn finden, wenn nicht mal Sie mit all Ihren Möglichkeiten ihn aufspüren können?«

»Oh, wir wissen, wo er ist, jedenfalls die meiste Zeit. Wir können nur dort nicht mit ihm reden.«

»Warum nicht?«

»Weil er uns nicht zuhört.«

»Und wo ist er?«

»In der Luft. Monsieur Lazare hat von seinem Geld gelernt. Er ist immer in Bewegung. Er hinterlässt keine Spuren. Er schläft und isst in seinem Privatflugzeug, das nur zum Auftanken landet, aber niemals in Frankreich. Er vertraut Frankreich nicht.«

Die Empörung kribbelte in Ellas Nerven, als stünden sie unter Strom. »Überschätzen Sie mich nicht ein bisschen, wenn Sie denken, dass ausgerechnet ich ihn dazu bringen kann, da oben zwischen irgendwo und nirgends meinen Anruf entgegenzunehmen und rechts ranzufliegen, während ich ihm erkläre – «

»Nicht Sie«, erklärte der Anwalt geduldig, »sein Neffe, der Priester. Rémy Lazare ist wie ein Sohn für ihn, nachdem sich sein Bruder vor einigen Jahren das Leben genommen hat. Bedauerlicherweise können wir nicht einfach bei ihm auftauchen und ihn zur Mitarbeit bewegen. Zumindest nicht in der uns zur Verfügung stehenden Zeit. Er lebt völlig zurückgezogen in einem Kloster auf Mont Saint-Michel vor der Küste der Normandie, als einer von einem Dutzend Benediktinermönchen, die dort ihr Leben dem heiligen Michael gewidmet haben.«

Ein Rascheln, als bewegte er seinen Arm, um auf die Uhr zu schauen. »Aber Professor Serge Barrault, ein Freund der Familie Lazare, ist bereit – vor allem, nachdem er von dem schrecklichen Tod seines Freundes Edouard Forell in Berlin gehörte hat –, sich für uns, für Sie, bei Frère Rémy zu verwenden, damit er Ihnen zuhört – «

Ella schüttelte den Kopf; das Plastik knisterte, nass von ihrem kondensierten Atem. »Ich glaube Ihnen nicht.«

»Sie glauben nicht, dass ein enger Freund von Raymond Lazare und Eduard Forell sich als Vermittler zu Verfügung stellt, damit nicht noch mehr Menschen sterben müssen?«

Ella schwieg.

»Laetitia – le cellulaire«, sagte der Anwalt zu ihrer Bewacherin. »Serge Barrault.« Wieder Rascheln, dann leises Klicken, als eine Nummer in ein Handy eingegeben wurde. »Sprechen Sie selbst mit ihm, überzeugen Sie sich, Doktor Bach. Ich verlasse in der Zwischenzeit den Raum.«

»Ich spreche kein Französisch«, sagte Ella.

»Das macht nichts – er spricht Deutsch«, sagte der Anwalt fast verächtlich. »Viele von uns sprechen mehrere Sprachen, und nach la Wiedervereinigung vor zwanzig Jahren schien es nicht wenigen ratsam, vor allem ihre Deutschkenntnisse aufzupolieren. « Die Ledersohlen marschierten klackend aus dem Zimmer.

Die Frau, die er Laetitia genannt hatte, nahm Ella die Tüte ab und sagte »Le Professeur« in das Handy, bevor sie es Ella in die gefesselten Hände drückte. Ella hielt es mit der Rechten, hob beide Hände ans Ohr. Zuerst hörte sie nur Knistern und Rascheln, dann leises, unregelmäßiges Atmen.

»Oui«, sagte ein Mann mit einer alten, müden Stimme, die genauso mutlos und erschöpft klang, wie sie sich fühlte. »Barrault.«

Ella zögerte, dann sagte sie: »Monsieur Barrault, mein Name ist Bach – Ella Bach – Sie kennen mich nicht – «

»Doch, ich kenne Sie«, unterbrach die Stimme sie. »Eduard hat mir von Ihnen erzählt, bei unserem letzten Telefonat …«

»Ich verstehe Sie sehr schlecht«, sagte Ella, obwohl die Verbindung tadellos war. Sie ging zum Fenster. »Jetzt ist es besser. « Sie versuchte, durch die Ritzen der Jalousie einen Blick nach draußen zu erhaschen und verbarg dabei mit der linken Hand ihre Augen.

»Stimmt es, dass Sie mit jemandem von der Anwaltskanzlei Rochefort, Gladstone & Wentworth zusammenarbeiten, um einen Kontakt zu dem verschwundenen Bankier Raymond Lazare herzustellen?«

»Zusammenarbeiten?«, fragte die erschöpfte Stimme. »Ja, so könnte man es wohl nennen, ich arbeite mit denen zusammen – ähnlich wie Sie, nehme ich an.« Jetzt schwang noch etwas anderes in der Stimme mit, das Echo erlittener Schmerzen, der Nachhall von Drohungen und Schlägen. »Sagen Sie, was Sie wollen, ich – ich habe nicht mehr viel Zeit.«

Ella sagte: »Man hat mir von einem Neffen Lazares erzählt – Rémy, einem Priester, der in einem Kloster leben soll …« Sie stand jetzt ganz dicht am Fenster, beobachtet von der farbigen Frau, der nicht aufzufallen schien, dass sie hinausspähte. Das Licht vor dem Fenster blendete sie. Aber dann erkannte sie das riesige Gebäude auf der anderen Seite eines abschüssigen Platzes schräg gegenüber an seiner klobigen, kantigen Form mit den Nebelhörnern auf dem Dach, der schimmernden Metallverkleidung der Wände und den durchsichtigen, geknickten Röhren an der Stirnseite, in denen sich winzige Menschen von Stockwerk zu Stockwerk auf- und abwärts bewegten.

»Ja, ein beeindruckender junger Mann«, bestätigte Barrault.

Auf dem von wimmelnden Leben erfüllten tiefergelegten Platz vor dem Beaubourg saßen junge Leute in kleinen Gruppen zwischen Malern und Straßenmusikanten, und Flics auf Motorrädern patrouillierten im Schritttempo längs der Rampe vor den kleinen Cafés, Bistros und Andenkenläden. Direkt unter dem Fenster konnte Ella eine verschmutzte Passage mit einem Pornokino und einem Super-Marché sehen. Darüber befand sich ihre Wohnung, eine von Dutzenden waghalsig gegeneinander versetzter Betonwaben, deren ehemals sandfarbene Mauern wie von Rost- und Nässeflecken zernarbt wirkten.

»Und es stimmt, dass er als Einziger weiß, wie man Monsieur Lazare erreichen kann?«, fragte Ella.

»Ja.«

»Lazare ist also nicht entführt worden und auch nicht tot?«

»Nein.«

»Demnach hat es tatsächlich eine Begegnung zwischen ihm und einer jungen französischen Stundentin namens Madeleine Schneider gegeben, die Sie vermittelt haben?«

»Das ist richtig.«

»Dann stimmt es auch, dass es diese Begegnung war, die Lazare dazu gebracht hat, von heute auf morgen alles über Bord zu werfen, woran er bisher geglaubt, wofür er gelebt und gearbeitet hatte – «

»Nicht von heute auf morgen«, unterbrach Barrault sie. »Schon vorher hatte Rémy ihm die Augen geöffnet für die Schuld seiner Familie und die Verpflichtung, die für alle Lazares aus dieser Schuld erwächst. Aber obwohl er sich Rémy in dieser Angelegenheit nie verschlossen hatte, war die Schuld doch in gewisser Weise immer abstrakt für ihn geblieben, bis er Mademoiselle Schneider traf, deren Urgroßeltern die Opfer seines Großvaters gewesen waren. Ich weiß nicht, ob es ihre Worte waren oder ihr Mut, ihr Anstand, aber er rief mich an und erklärte, er sei beteiligt an der Planung eines großen Verbrechens, eines der größten der letzten Jahre, und er könne damit jetzt nicht mehr weitermachen – er müsse stattdessen versuchen, es in letzter Minute zu verhindern. Dann sagte er noch, er müsse eine Zeit lang untertauchen, aber falls es die dringende Notwendigkeit gebe, ihn zu erreichen, sollte ich mich an seinen Neffen wenden …«

»Weiß er von den Morden, die sein Verschwinden nach sich gezogen haben? Von Madeleines Schicksal?«

»Get away from the window«, sagte die farbige Frau plötzlich scharf.

»Er weiß es«, sagte Barrault. »Er lässt sich über alles auf dem Laufenden halten. Er weiß sogar, dass Sie ihr zuerst das Leben gerettet haben, bevor sie – «

»Aber er weiß nicht, dass sie gar nicht tot ist«, unterbrach Ella ihn, »dass ihr Tod nur vorgetäuscht war? Können Sie Rémy Lazare das sagen, wenn Sie mit ihm sprechen? Madeleine Schneider lebt und ist hier in – «

Die farbige Frau trat rasch auf Ella zu. »Cela suffit! Enough, that’s enough. Give me the phone.« Sie griff nach dem Handy, um es ihr wegzunehmen, aber Ella wandte sich ab, wich ihr aus wie ein Basketballer, der nicht abgedrängt werden will. »Wie kann ich Kontakt mit Rémy aufnehmen?«, rief sie in das Handy, um das sie mit der farbigen Frau rang.

»Das Kloster der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem auf Mont Saint-Michel. Rufen Sie dort an, ich spreche mit ihm und – « Die Leitung war plötzlich unterbrochen, und im selben Moment hatte die farbige Frau Ella gegen die Wand neben dem Fenster gedrängt und ihren aneinandergeklebten Händen das Mobiltelefon entwunden. Sie stieß Ella am linken Oberarm zurück zur Matratze, hob die FNAC-Tüte vom Boden auf und stülpte sie Ella wieder über den Kopf.

»Werden Sie uns helfen?«, fragte der Anwalt, nachdem er in den Raum zurückgekehrt war. »Werden Sie für uns mit Rémy Lazare reden?«

Ella sagte: »Und wenn ich es Ihnen verspreche und mich nicht an das Versprechen halte? Wenn ich mich in Luft auflöse zwischen hier und Mont Saint-Michel?«

»Um Mademoiselle Schneider sterben zu lassen? Aber selbst wenn – vergessen Sie nicht, dass Sie auch in Frankreich wegen Mordes an Nicolette Marceau gesucht werden.«

»Dafür gibt es keine Beweise«, sagte Ella.

Die Stimme des Mannes klang auf einmal fast heiter, als er fragte: »Beweise?«