Ella fuhr schnell, aber nicht waghalsig. Sie hielt sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeit und blieb auf der rechten Spur. Die Fahrbahn war eine schwarze Fläche, die dem Wagen aus der Dunkelheit entgegenflog. Die weißen Leitstreifen schienen auf dem Asphalt zu schweben, dann schossen sie heran und verschwanden wieder, zu rasch, um ihnen mit den Augen zu folgen. Der Citroën C5 glitt dahin wie eine luxuriöse, leise rauschende Raumkapsel durch die Schwärze des Alls. Manchmal tauchte am Straßenrand überraschend eine Reklametafel oder ein grünes Hinweisschild im Scheinwerferlicht auf, aber sonst war die Nacht leer, und um diese Zeit gab es kaum Verkehr.
Ella warf einen unauffälligen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, ob der andere Wagen noch da war. Der Wagen fuhr seit Paris hinter ihr her, immer im gleichen Abstand. Erst hatte sie gedacht, es seien Aufpasser, die der Anwalt ihr nachgeschickt hatte, um sie zu überwachen. Aber dann hatte der Fahrer mehrmals die Lichthupe betätigt, als legte er es darauf an, dass sie ihn bemerkte, und sie war schneller gefahren. Sie wollte nicht, dass etwas Unvorhergesehenes geschah.
»Wir sind die ganze Zeit bei Ihnen«, hatte der Anwalt gesagt. »Wenn Sie irgendwo halten, wo Sie nicht halten sollten, werden wir es bemerken. Denken Sie immer an Mademoiselle Schneider. Sie wird sterben, wenn Sie von Ihrem Auftrag abweichen. Sobald Sie Mont Saint-Michel erreichen, lassen Sie den Wagen stehen. Dort haben wir Männer, die Sie im Auge behalten. Sie erwarten Sie bei Tagesanbruch. Tun Sie immer genau, was ich Ihnen gesagt habe, dann bleibt Mademoiselle Schneider am Leben.«
Weiter voraus glitt eine erleuchtete Tankstelle heran. Ella beschloss, dort anzuhalten und zu sehen, was der Fahrer des anderen Wagens machte. Eine Tankstelle war unverdächtig; ihr Ortungssystem würde ihnen das sagen. Sie durfte nur nicht länger bleiben, als man brauchte, um sich frisch zu machen und einen Kaffee zu trinken.
Wenn etwas Außerplanmäßiges passiert, rufen Sie uns an.
Ella setzte den Blinker und kontrollierte kurz ihr Aussehen im Innenspiegel. Schminke, Kopftuch und eine Brille mit ungeschliffenen Gläsern veränderten ihr Gesicht genug; bei Dunkelheit wies es kaum noch Ähnlichkeit mit den schlechten Fotos in den Zeitungen oder im Fernsehen auf.
Am Abend hatte sie unter Laetitias Aufsicht das Kloster auf Mont Saint-Michel angerufen und sich mit Frère Rémy verbinden lassen. Der Mönch war zuerst auf der Hut gewesen, vorsichtig, obwohl Professor Barrault sich bereits mit ihm in Verbindung gesetzt hatte. Dann jedoch musste etwas in Ellas Stimme, an ihrer Dringlichkeit, ihn überzeugt haben, und er hatte ihr eine Handynummer gegeben, unter der sie ihn erreichen konnte, sobald sie auf der Insel war. Seine Stimme war nicht weich gewesen, wie sie erwartet hatte, sondern klar und entscheidungsfreudig.
»Heute ist Dienstag, und die Hauptversammlung der Banque National d’Alsace findet am Freitagvormittag statt«, hatte der Anwalt gesagt, bevor er gegangen war. »Wenn wir bis dahin nicht mit Monsieur Lazare sprechen konnten, ist es zu spät.«
»Zu spät für wen?«, hatte Ella gefragt.
»Für ihn. Für Sie. Für Mademoiselle Schneider.«
»Und was ist mit Monsieur Montheilet?« Die ganze Zeit hatte diese Frage Ella auf der Zunge gebrannt, und nun hatte sie sie endlich gestellt.
»Mit wem?«
»Daniel Montheilet. Der Journalist vom Nouvel Observateur, der in Berlin bei mir war. Ich möchte wissen, was aus ihm geworden ist. Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Der Anwalt war einen Moment lang stumm geblieben. »Die Frage ist doch wohl eher«, hatte er dann gesagt, »was Sie mit ihm gemacht haben, nicht?«
Immer wieder dachte sie an Dany; inmitten des ganzen Irsinns der letzten Tage hatte sie tatsächlich angefangen, sich eine Zukunft mit ihm vorstellen zu können. Wenn ihn wirklich die Polizei abgeholt hat, warum haben dann weder Aziz noch Schröder etwas davon gewusst? Und wenn es nicht die Polizei war, wer dann? Warum meldet er sich nicht?
Ella lenkte die Limousine auf die rechte Spur, um die Ausfahrt zur Tankstelle zu nehmen. Der Wagen, der die ganze Zeit hinter ihr gefahren war, blieb auf der mittleren Spur. Dann, als Ella die Geschwindigkeit drosselte, zog er an dem Citroën vorbei. Ein schwarzer Seat mit einem Pariser Kennzeichen. Sie konnte nicht erkennen, wer darin saß. Die Rücklichter wurden schnell kleiner, und eine Zeit lang konnte sie sie noch sehen, als sie schon auf das Tankstellengelände fuhr, dann erloschen die roten Punkte hinter einem Gebüschstreifen.
Das großflächig überdachte Areal um die Zapfsäulen und vor dem Servicebereich war in gleißendes weißes Licht getaucht. Der Eingang zur Waschstraße wurde von einem Torbogen aus rot blinkenden Glühlampen bewacht. Es gab nur einen anderen Wagen, einen beigen Peugeot 504 mit altmodischen gelben Scheinwerfern, der verlassen an der zweiten Dieselsäule stand. In dem verglasten Servicebereich hielten sich außer dem Nachtkassierer zwei Personen – ein Mann und eine Frau – auf, die vor den Vitrinen mit Snacks und Getränken herumschlenderten.
Dort, wo das Licht der Tankstelle nicht mehr hinreichte, ragte die mondlose Nacht wie eine Wand auf. Ella steuerte die Limousine auf den schlecht beleuchteten, fast leeren Parkplatz und stellte sie hinter einem Lastwagen ab. Sie öffnete das Seitenfenster. Das Sirren von Zikaden drang in das Wageninnere.
Und wenn ich einfach losrenne, da in die Wiesen hinein und weiter, so weit, dass sie gar nicht erst versuchen, mich zu finden?
Nein, dann würde Mado sterben.
Ella hatte fieberhaft hin und her überlegt, ob es einen Ausweg gab; eine Möglichkeit, die Pläne des Konsortiums zu durchkreuzen, ohne Mado in Gefahr zu bringen. Ob ein Weg existierte, Lazare zu warnen und herauszufinden, warum seinetwegen so viele Menschen umgebracht worden waren, ohne dass es Mados Leben erneut gefährdete. Aber jedes Mal war die Antwort dieselbe gewesen: Nein, dann wird Mado sterben.
Auf der anderen Seite des Parkplatzes rollte langsam ein Wagen rückwärts über die Ausfahrt auf das Tankstellengelände. Dort wendete er und fuhr an den wenigen geparkten Fahrzeugen vorbei, bis das Licht seiner Scheinwerfer den Citroën erfasste. Er bremste und blieb einen Moment so stehen, als wollte der Fahrer Ella genauer in Augenschein nehmen. Dann schlug er das Steuer scharf ein und bog auf das Parkfeld neben ihr. Er schaltete die Scheinwerfer aus. Kurz darauf wurde die Innenbeleuchtung angeknipst, und jetzt konnte Ella etwas sehen. Zuerst erkannte sie die Beifahrerin und danach den Fahrer.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, als wäre es die ganze Zeit stillgestanden und würde gerade durch einen Stromstoß wieder zum Leben erweckt: Es tat einen Satz und den nächsten, und es fühlte sich wieder an wie Leben.
Annika. Und Dany.
Nein, das ist unmöglich.
Beide schauten im schwachen Licht der kleinen Lampe über dem Armaturenbrett unverwandt zu ihr herüber, und die Frau sah genauso aus wie Annika in ihrem schwarzen Rollkragenpullover, der schwarzen Lederjacke mit kreuz und quer angebrachten Reißverschlüssen und einer rot-schwarz karierten Schirmkappe. Ella konnte den Blick nicht von ihr lösen, und sie sah noch immer wie Annika aus. Das ist sie, das ist Anni! Ein kurzes, kleines Lächeln huschte über den flammend roten Mund der Frau.
Ella stieg aus und ging um den Citroên herum, und Annika stieg ebenfalls aus und sagte: »Dr. Livingston, nehme ich an?«
»Anni!« Im nächsten Augenblick hielt Ella sie in den Armen; sie fuhr ihr sogar mit der Hand über das Haar. »Wo kommt ihr denn her? Was macht ihr hier?«
Annika antwortete nicht, aber sie hatte Tränen in den Augen, und das sagte auch etwas.
Jetzt stieg Dany aus, groß und schlank und blond, und Ellas Herz schlug noch schneller, aber sie blieb stehen. »Hey, Dany«, sagte sie, ohne sich vom Fleck zu rühren.
»Hey«, antwortete er leise, fast verlegen, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
Annika trat einen Schritt zurück und blickte zum erleuchteten Servicebereich der Tankstelle hinüber. »Ich geh mir mal die Hände waschen. Soll ich euch was mitbringen? Kaffee? Sandwich? «
Ella sah ihr Gesicht und begriff, dass irgendetwas nicht stimmte. Annika schlenderte an der Waschstraße mit den rot blinkenden Lampen vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ella drehte sich zu Dany um. »Was ist hier los?«, fragte sie. »Wie habt ihr mich gefunden?«
»Wir sind dir nachgefahren«, sagte Dany.
»Von wo?«
»Von Paris.«
»Von wo in Paris?«
»Von da, wo du gefangen gehalten worden bist, im Quartier de l’Horloge.«
Ella spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Woher weißt du, dass ich gefangen gehalten worden bin?«
»Das will ich dir ja gerade erklären.«
»Das letzte Mal haben wir uns in Berlin gesehen, weißt du noch? Du musst eine ganze Menge erklären.« Sie sah, wie er den Blick senkte, sogar bei der schlechten Beleuchtung des Parkplatzes sah sie es, und da wusste sie auf einmal alles, und er brauchte ihr nichts mehr zu erklären. »Ich weiß nur nicht, ob ich es hören will«, sagte sie.
»Du musst es trotzdem wissen«, sagte Dany. »Es geht um dein Leben und um meins, aber mehr um deins. Deswegen bin ich hier.«
Ella schwieg, weil sie das Gefühl hatte, Reden könnte zu wehtun, fast so sehr wie Zuhören. Doch dann musste sie doch etwas sagen, und es sagte sich fast von selbst: »Es war alles eine einzige Lüge, oder?«
»Nicht alles«, sagte Dany.
Sie trat auf ihn zu, trat dicht an ihn heran, und weil er sie noch immer nicht ansah, versetzte sie ihm einen Stoß mit der Faust gegen die Brust, nicht sehr heftig, nur um irgendetwas zu tun, das auch ihm wehtat. »Was?«, fragte sie. »Was war nicht gelogen? Dass du Mados Bruder bist? Dass sie dich verzweifelt um Hilfe gebeten hat? Dass du Journalist bist, beim Nouvel Observateur? Dass du mich die ganze Zeit bespitzelt und verraten hast, weil du zu Rochefort, Gladstone & Wentworth gehörst? «
Jetzt sah Dany auf, als wäre er froh, etwas sagen zu können, das der Wahrheit entsprach. »Ich arbeite wirklich bei Nouvelobs. com., nur nicht ausschließlich. In meinem Job braucht man eine Fassade, die echt ist.«
»Eine Fassade wofür?«, hakte Ella nach. »Dafür, dass man Menschen umbringt? Warum erzählst du mir nicht alles von Anfang an!? Wir sind uns zum ersten Mal in Mados Wohnung begegnet, aber sie hat dich nie angerufen, oder? Ihr kanntet euch gar nicht!«
Dany trat näher an sie heran, als wollte er ihre Hände ergreifen, aber er berührte sie dann doch nicht, und das war gut für ihn, so wie sie sich gerade fühlte. »Hör zu«, sagte er mit einem drängenden Unterton, »so viel Zeit haben wir nicht. Ja, ich habe dich belogen und benutzt, und ich sollte dich sogar umbringen. Sie wollten, dass ich es tue, und ich habe es nicht getan, und das ist doch das Einzige, was zählt, oder? Aber sie wollen dich immer noch töten, egal, was sie dir erzählt haben – dich und Mado. Sie wollen, dass du sie zu Lazare führst, und sobald sie ihr Ziel erreicht haben, werdet ihr beide sterben, weil sie keine Zeugen gebrauchen können – «
»Weswegen warst du in Mados Wohnung?«, unterbrach Ella ihn. »Hast du mich reingehen sehen? Wolltest du mich auch foltern wie sie – «
Dany breitete die Arme aus, eine fast resignierte Geste. Er warf einen Blick über ihre Schulter, zu den Zapfsäulen, zum Kassenhäuschen, zur Parkplatzeinfahrt. »Ich wusste gar nicht, dass du dort warst! Der Mann, den die Berliner geschickt hatten, um Mado einen Besuch abzustatten, hatte es versiebt. Es beunruhigte die Firma, dass es Zeugen gab, um die man sich nun kümmern musste – dich, deinen Freund Max und wer weiß, wen noch. Sie wollten wissen, ob die Möglichkeit bestand, dass man ihnen über Mados Verschwinden auf die Spur kommen könnte. Deswegen haben sie mich beauftragt, weil sie den Deutschen nicht vertrauen. Du warst unseren Leuten immer wieder entkommen. Dass wir uns in der Wohnung begegnet sind, war ein Zufall. Ich hatte mich gefragt, wer wohl anonym bei der Feuerwehr den Arzteinsatz angefordert hatte – deswegen bin ich in das Penthouse eingedrungen, um zu sehen, von wo aus man die Vorgänge darin beobachten konnte. Ich war aus demselben Grund da wie du, und als ich ihnen von unserer Begegnung berichtet habe – «
»Wer sind sie?«, fragte Ella. »Wer ist die Firma? Rochefort und die anderen Anwälte?«
»Eine Sicherheitsagentur namens Birnam Forrest«, erklärte Dany. »Aber das kann ich dir alles erzählen, wenn wir mehr Zeit haben. Du musst verschwinden, bevor es zu spät ist. Ich kann dich von hier wegbringen und dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist, so lange wie sie brauchen, um – «
»Und Mado?«, fragte Ella kalt. »Wer bringt sie in Sicherheit? «
Dany schwieg. Das Sirren der Zikaden schien plötzlich überall in der Luft zu sein. »Nur fürs Protokoll«, sagte Ella, »du wusstest also die ganze Zeit, dass sie noch am Leben war?«
»Ja, ich wusste es, aber – «
Sie fiel ihm ins Wort. »Du hast mich belogen und als Köder benutzt und mit mir geschlafen und mich im Stich gelassen, als ich dich brauchte, und jetzt erwartest du, dass ich dir noch irgendetwas glaube? Du erwartest, dass ich mich dir anvertraue? Sag mir eins – warum? Wie kommst du darauf, dass ich mit dir auch nur so viel noch zu tun haben möchte?!«
Sie fuchtelte in der Luft herum, versuchte mit einer Bewegung so viel in die Nacht zu malen. Er griff in die Jackentasche, holte etwas heraus und hielt es ihr auf dem Handteller hin. Es sah aus wie der Memory Stick, den sie bei Forell gefunden und Annika gegeben hatte. Es sah aus wie so viel. »Du kannst ihn haben«, sagte er. »Er interessiert mich nicht mehr.«
»Woher hast du den?«
»Als man ihn bei dir nicht gefunden hatte, gab es nicht mehr so viele Möglichkeiten, wo er noch sein konnte«, sagte Dany. »Annika hatte mich angerufen, weil du nach deinem Treffen mit Aziz nicht mehr aufgetaucht warst. Sie hat mir vertraut, jedenfalls am Anfang. Sie wollte alles tun, um dir zu helfen.«
Er stand da und hielt ihr den Stick hin, und der Wind spielte mit seinem Haar, und selbst jetzt fand sie noch, dass er verdammt anziehend war, aber nicht mehr interessant, nicht mehr liebenswert. Wütend griff sie nach dem Stick und steckte ihn ein. »Sie hat ihn dir gegeben? Freiwillig?«
»Das spielt doch keine Rolle.« Endlich zog er seine Hand zurück und steckte sie in die Jackentasche. »Ich habe ihr nicht wehgetan. Ich mag sie, wenn auch nicht so sehr wie dich – «
»Nein«, sagte Ella, »nicht so sehr wie mich. Für mich setzt du ja dein Leben aufs Spiel und – «
»Das tue ich auch«, sagte er erregt. »Ich habe Kleist und einen seiner Männer getötet, glaubst du, das lassen sie mir einfach so durchgehen?« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ella, bitte, fahr nicht nach Mont Saint-Michel! Sie verfolgen dich und den Citroën mit einem satellitengestützten Ortungssystem. Sie sind über jeden deiner Schritte informiert, sobald du ihn auch nur in Erwägung ziehst, und die Leute, die dich auf der Insel erwarten, haben den Auftrag, dich umzubringen, nachdem du Lazare angelockt hast.«
Er hatte wahrscheinlich recht, dachte Ella müde und nicht einmal besonders überrascht; wahrscheinlich war es so, wie er sagte, aber sie musste trotzdem mitspielen, sich an den Plan halten, ihren Auftrag erfüllen. »Geh zum Teufel«, sagte sie leise. »Du hast mir das Leben gerettet, ja? Vielleicht wäre es gar nicht in Gefahr gewesen, wenn du deine Leute in Paris nicht über jeden meiner Schritte auf dem Laufenden gehalten hättest. Vielleicht hätte der Motorradfahrer bei dem Treffen mit Freyermuth nicht auf mich geschossen und Kleist nicht versucht, mich zu erwürgen. Vielleicht wäre auch der Anwalt noch am Leben und der Voyeur und Professor Forell – «
Sie unterbrach sich selbst, denn plötzlich sah sie noch etwas ganz deutlich vor sich, den grauen Audi hinter Forells Kapelle und den gleichen Wagen vor der Chinesischen Botschaft. »Wer hat ihn getötet? Forell, meine ich. Du warst plötzlich nicht zu erreichen, angeblich hatte die Polizei dich abgeholt – «
Dany wirkte, als würde er sie am liebsten schütteln. »Ella, in diesem Moment fragt sich gerade jemand bei Rochefort & Co., warum du dich so lange an dieser Tankstelle aufhältst – «
Sie sah jetzt ebenfalls auf ihre Uhr. »Ich habe noch Zeit«, sagte sie, von unheimlicher Ruhe erfüllt. »Ich habe genug Zeit, dir zuzuhören – es ist ja das letzte Mal, und es sind nur noch ein paar Stunden bis zur Küste. Du bist gar nicht im Hotel von der Polizei abgeholt worden, am Abend von Forells Ermordung, stimmt’s?«
»Nein.« Er sprach weiter, jetzt wieder, ohne sie anzusehen, als schämte er sich tatsächlich dafür. »Ich habe den Portier bezahlt, damit er das sagt, falls du von deinem Treffen mit Annika zu früh ins Hotel zurückgekommen wärst. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du noch in der Nacht rausfährst zu Forell. Dass er dich anruft, bevor wir uns um ihn gekümmert hatten. Ich musste verhindern, dass Forell dir am nächsten Tag das Objekt übergab, von dem wir inzwischen wussten, dass es sich in seinem Besitz befand. Die Deutschen hatten am Nachmittag alles durchsucht, ohne etwas zu finden.«
Er war es, dachte Ella plötzlich, er hat Forell umgebracht. Wenn es Aziz gewesen wäre, hätte er mich nicht irgendwohin bestellen müssen; er hätte mich dort betäuben und kidnappen können. »Du warst es«, sagte sie.
Er redete weiter, als hätte er sie gar nicht gehört. »Als du dann versuchte hast, mich zu erreichen, dachte ich, gut, die Polizei ist ein prima Alibi. Auf meiner Mailbox war aber auch der beunruhigte Anruf von Annika. Ich rief sofort in Paris an und erfuhr, dass die Firma in der Zwischenzeit einen neuen Plan entwickelt hatte – einen Plan, in dem du plötzlich eine andere Rolle spielen solltest, und diese Rolle verlangte es, dass du noch nicht sterben durftest. Man konnte dir so viel in die Schuhe schieben – erst Mado, dann Max Jansen. Danach den Wirtschaftsanwalt, Forell. Sogar Lazares Geliebte, Nicolette Marceau, die sie auch erst nach anderthalb Wochen getötet hatten, als sie eine Stelle in dem Puzzle fanden, an den ihr Tod passen würde.« Er hielt inne, warf ihr einen raschen Blick zu. »In dieser Nacht ist mir etwas klar geworden. Ich wollte, dass du am Leben bleibst, damit ich weiter mit dir zusammen sein kann.«
»Hast du Forell getötet?«, fragte Ella unerbittlich. »Hast du den grauen Audi gefahren?«
»Der Wagen gehört Aziz, aber ich habe ihn benutzt und hinterher wieder – «
»Warum?«, fragte sie.
Plötzlich wirkte er ungehalten, er schob seine Schultern vor, als wäre ihm ein Schwall kalter Luft unter die Jacke gedrungen. »Warum habe ich Forell getötet, wenn ich doch schon wusste, dass sie mir Schwierigkeiten wegen Kleists Tod machen würden? Es war mein Job. Kleists Tod war ein Unfall, Forell war ein Auftrag. Ich war dafür bezahlt worden. Außerdem dachte ich, mit dem, was ich da finde, kann ich mir den Rücken freihalten. Hat das nicht jeder gedacht? Nur dass du mich gestört hast – «
»Warum hast du mich nicht einfach genauso umgebracht? Bist du dafür nicht auch bezahlt worden?«
Er schwieg so lange, dass Ella ein paar Schritte von ihm wegging, einfach um wieder atmen zu können. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie so wütend sein konnte und gleichzeitig so verletzt; noch nie war es so gewesen. Aber du warst auch noch nie so kurz davor, dich in einen Killer zu verlieben, dachte sie.
»Also gut«, sagte Dany plötzlich hinter ihr, aber er sagte es mit einer atemlosen Schärfe, »ich bin dafür bezahlt worden, und am Anfang wollte ich den Auftrag auch ausführen. Als ich dir in Berlin im Hotel gegenüberstand, beschloss ich nur, zu warten und zu sehen, was weiter passiert, was du unternimmst. Deswegen habe ich mich als Mados Bruder ausgegeben. Es war ein spontaner Einfall, und eine Zeit lang hat er ganz gut funktioniert, bis du herausgefunden hast, dass Mado gar keinen Bruder hatte. Ich habe dann Paris vorgeschlagen, dass ich dich weiter im Auge behalte. Ich wollte herausfinden, mit wem du alles gesprochen hattest.«
Er zog die Hände aus den Taschen, und sie waren leer. »Aber du hast plötzlich sehr schnell immer mehr in Erfahrung gebracht und ständig weitergebohrt, und ich konnte dich nicht stoppen, und ich wollte es auch nicht, denn in dieser Hinsicht warst du ausgesprochen nützlich. Die Leute redeten schneller mit dir, verrieten dir mehr als einem von uns. Ich musste nur ab und zu die nötigen Informationen weitergeben. Die Entscheidung, ob jemand eine Gefahr darstellte, wurde dann in Paris getroffen. Bist du jetzt zufrieden?«
Er sah zu dem Peugeot hinüber, der seinen Platz unter dem Zapfsäulendach verließ und mit ausgeschalteten Scheinwerfern an ihm und Ella vorbei zur Ausfahrt der Tankstelle fuhr. Ella drehte sich um. Annika war jetzt allein im Kassenraum. Sie stand am Kaffeeautomaten und ging dann mit dem Becher in der Hand zu einem Drehständer mit Zeitungen. Sie nahm eine der Zeitungen heraus.
»Als dann doch der Befehl kam, dich zu eliminieren«, Dany redete weiter, aber sie blieb, wie sie war, drehte sich nicht zu ihm um, »hatte ich schon angefangen, dich gern zu haben. Eine Frau wie dich hatte ich noch nie getroffen. Und dann machte jemand, dem es nicht schnell genug ging, einen Fehler. Er beauftragte einen anderen, einen Deutschen. Ich mag es nicht, wenn man mitten im Rennen die Pferde wechselt und mich damit in Gefahr bringt, und dass es ein Polizist war, hat mir noch weniger gefallen. Nach der Pleite mit dem Mann auf dem Motorrad wollte er es selbst in die Hand nehmen, in der Kanzlei, aber ich war dabei, und er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er dachte, ich würde ruhig zusehen, wie er dich umbringt. Ich kann so was. Ich kann ruhig zusehen. Aber bei dir nicht.«
Annika verließ das Kassenhäuschen, die Zeitung unter dem Arm. Sie sah zu Ella herüber und schwenkte den Toilettenschlüssel in der Luft. »Noch jemand zum Frischmachen?«, rief sie.
»Moment noch«, rief Ella zurück. »Wir sind hier gleich fertig, warte auf mich.« Sie wandte sich wieder Dany zu. »Vielleicht denkst du jetzt, du hättest mir gerade eine Art Liebeserklärung gemacht: Ich liebe dich so sehr, dass ich sogar darauf verzichtet habe, dich abzuknallen. Kann ja sein.« Sie kniff die Augen zusammen, weil ihr plötzlich zum Heulen zumute war. »Ich weiß nicht, warum ich hier stehe und dir zuhöre, denn was geschehen ist, ändert es nicht, und es ändert dich nicht, und es ändert mich nicht.« Sie ging auf ihn zu, bis sie so dicht vor ihm stand, wie sie es gerade noch aushalten konnte. »Aber wenn es dir so wichtig ist, dass ich nicht getötet werde, dann fahr nach Paris zurück und hol Mado aus der Wohnung, in der sie festgehalten wird. Hol sie da raus und ruf mich an, und sobald ich ihre Stimme gehört habe und weiß, dass sie in Sicherheit ist, denke ich über meine Sicherheit nach, erst dann!«