Kurz vor Rennes nahm der Verkehr zu, und Ella weckte Annika, weil die Musik im Radio jetzt öfter von Verkehrshinweisen unterbrochen wurde. Sie wollte es wissen, wenn Meldungen über Staus oder Unfälle durchgegeben wurden, alles, was nach Polizei klang. Es war noch immer dunkel, aber über den Bogenlampen an der Autobahnumgehung konnten sie schon die Positionslichter der ersten Flugzeuge sehen, die vom Airport aufstiegen. Bis zur Küste war es jetzt nicht mehr weit.
»Hat er dir wehgetan?«, fragte Ella.
Annika antwortete nicht sofort, als müsste sie erst überlegen, wen Ella gemeint haben könnte. »Nein«, sagte sie dann. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Aber ich wusste, dass er dazu in der Lage war. Als ich aus der Ohnmacht aufgewacht bin und seine Augen gesehen habe, war es, als erblickte ich Patrick, wenn er sich morgens über mich beugte. Da wusste ich es. Ich erkenne eine gewalttätige Veranlagung inzwischen sofort.«
Das hatte sie als Erstes gesagt, als sie an der Tankstelle mit ihrem Rucksack zu Ella in den Citroën gestiegen war, fast noch, bevor sie richtig fuhren. »Ich hatte einen Anfall in Berlin … Ich saß in meinem Zimmer im Hotel, und auf einmal wurde mir klar, dass sie nach mir suchen würden, wenn sie den Stick nicht bei dir finden. Ich bin durch die Straßen gerannt und dann in so einem 24-Stunden-Kiosk gelandet, wo sie mich bestimmt nicht suchen würden, und da wollte ich in Ruhe nachdenken, und ich dachte, das Journal von diesem deutschen Hauslehrer, Matthias Steinberg, könnte mir dabei helfen.«
Sie hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen, und selbst im schwachen Schein der Instrumentenbeleuchtung war Ella aufgefallen, wie erschöpft sie aussah. »Ich habe einen Kaffee getrunken und dann noch einen, und ich konnte nicht aufhören zu lesen, und als ich dann an die Stelle kam, wo der Lehrer die ganze Familie ermordet auffindet und dann auch noch das Kind, die kleine Annémone, in das Haus zu ihren toten Geschwistern und Eltern rennt, das hat mich so mitgenommen, dass ich das Gefühl hatte, ich bin da, ich erlebe das alles live mit. Erst hat sich nur die Schrift verändert, sie wurde größer und rückte näher, dann traten einzelne Sätze hervor, wuchsen mir regelrecht aus der Seite entgegen, als wollten sie sich an mich direkt wenden, nur an mich, und auf einmal sah ich alles wie in 3-D, das Kind, die Farben, die Toten, ich roch sogar das Blut und ihre Angst. Es war so stark, dass ich selbst plötzlich panische Angst bekam. Ich habe nicht mal mitgekriegt, wie der Anfall sich vorbereitete, deswegen konnte ich auch meine Medikamente nicht rechzeitig nehmen. Ich bin einfach vom Hocker gekippt.«
Sie hatte einen Moment geschwiegen und dann die Augen wieder geöffnet. »Als ich zu mir gekommen bin, habe ich Danys Gesicht vor mir gesehen.«
»Aber wie hat er dich gefunden?«
»Ich hatte ihm doch auf die Mailbox gesprochen«, erklärte Annika, »und nachdem er dich nicht erreichen konnte, wollte er mich zurückrufen. Bloß dass ich gerade weggetreten war. Die beiden Männer in dem Kiosk, der Betreiber und ein Freund, hatten natürlich keine Ahnung, was mit mir los war. Einer von denen hörte mein Handy klingeln und ging dran, weil er dachte, vielleicht ruft da jemand an, der mich kennt und ihnen sagen kann, was sie tun sollen. Zehn Minuten später war Dany da, keine Ahnung, wie er das geschafft hat, vielleicht Teleportation oder so was, und als ich die Augen aufgemacht habe, beugte er sich über mich und sagte: Hallo, Annika, ich bin Dany!« Sie hatte die Augen wieder zugemacht, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. »Und ich habe gesagt, Bambi ist in Paris.«
»Wie bist du denn darauf gekommen?«
»Epileptiker haben besondere Gaben, wusstest du das nicht?« Annikas Lächeln konnte das Rote Meer teilen, sogar wenn es sanft war. »Nein, mir ist nur der Artikel in der B. Z. wieder eingefallen, in dem stand, du wärst in Paris gesehen worden. Die berühmten Schuppen, die einem von den Augen fallen: Als der Artikel erschienen ist, warst du noch in Berlin, aber der, der ihn lanciert hat, wollte dich mit Paris in Verbindung bringen. Als Dany das hörte und dann auch noch, dass du dich mit Aziz bei der Chinesischen Botschaft triffst, lag die Sache für ihn irgendwie auch auf der Hand. Er hat ein bisschen herumtelefoniert, und danach wusste er genau, wo du warst und was passiert war. Frag mich nicht, wie er das so schnell herausgekriegt hat.«
Ella hatte nicht gefragt. Sie hatte gesehen, wie das Lächeln auf Annis Lippen erstarrt war. Und du bist meinetwegen tatsächlich in ein Flugzeug gestiegen, hatte sie gedacht.
Jetzt blickte Annika wie hypnotisiert auf die schwarze Fahrbahn vor dem Citroên und sah zu, wie die Scheinwerferkegel die Dunkelheit vor sich herschoben. »Ist es noch weit?«, fragte sie.
»Eine Stunde vielleicht«, sagte Ella. Sie erinnerte sich daran, wie Dany sie angesehen hatte, bevor er in den Seat gestiegen und losgefahren war, ausdruckslos, kein Anflug irgendeines Gefühls mehr, nur ein Blick, der alles bedeuten konnte oder nichts. Wie sein letzter Blick aus dem anfahrenden S-Bahnzug auf der Jannowitzbrücke.
»Und?« Annika entdeckte ein kleines Fädchen an ihrer Bluse und zupfte daran, um es zu entfernen. »Wen rettest du jetzt gerade – Mado Schneider, dich oder die ganze Welt?«
Ella schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Der Himmel über den Bäumen wurde allmählich heller, und die Anzahl der Wagen hinter und vor ihnen nahm zu. »Du fängst doch jetzt nicht etwa an, mich zu analysieren?«
Annika schien das Stäubchen nicht zu fassen zu kriegen. »Weißt du, was ich meinen Patienten immer sage? Ich analysiere nicht, ich therapiere nicht, ich bewache sie nur. Ich bin ihr Wachtposten an der Grenze.«
»An welcher Grenze?«, fragte Ella.
»Der, auf der die meisten von ihnen gerade gehen, wenn sie zu mir kommen – der schmalen Grenze zwischen zwei existenziellen Kräften: dem Chaos und dem Menschen. Ich bin ihr Wachtposten, ich stehe auf ihrer Seite der Grenze, bei ihnen, damit sie nicht aus Versehen hinüberrutschen.«
»Und hast du Angst, ich könnte ins Chaos rutschen?«
Annika wandte sich einem anderen Fädchen oder Stäubchen auf ihrer Bluse zu. »Das weiß ich nicht. Deswegen frage ich, wen oder was rettest du gerade?«
»Die Reste von meinem Leben«, sagte Ella, »die nackte Haut, so wie’s im Moment aussieht. Sehr viel ist mir ja leider nicht geblieben.«
»Wovon?«
»Von dem, was ich mir mal gewünscht habe oder sogar von dem, was ich hatte. Max fehlt mir. Ich hätte nie gedacht, dass es so sein könnte, so traurig.«
»Ist es wirklich Max, der dir fehlt? Oder das, was du nicht getan hast in der Zeit, die du mit ihm hattest?«
»Beides wahrscheinlich.« Ella sah ihn vor sich, wie er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn strich; wie er neben ihr im Bett lag; wie er sie beim Frühstück ansah, so verliebt, so gut gelaunt; wie er mit ihr um das Leben eines Patienten kämpfte. »Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich alles falsch gemacht. Ich wollte mal heiraten. Ich wollte mit einem liebevollen Mann ein halbes Dutzend Kinder kriegen oder wenigstens für jemanden alles sein, was er sich wünscht. Und auf einmal habe ich gar nichts und kann mich nicht einmal mehr falsch entscheiden, weil irgendwie alles falsch ist.«
»Na, wenigstens bist du gesund«, sagte Annika. Noch immer zupfte sie an dem unsichtbaren Fädchen auf ihrer Bluse herum. »Diese ganze Geschichte ist anstrengender, als ich gedacht habe, und die Anfälle kommen jetzt in kürzeren Abständen, trotz meiner ganzen Tropfen und Pillen.« Sie hielt kurz inne, als überlegte sie, ob sie Ella wirklich damit belasten sollte. »Als Epileptikerin lebst du, als müsstest du jeden Tag aufs Neue durch eine Landschaft ohne festen Boden gehen. Du kannst jederzeit den Halt verlieren, einbrechen, und diese ständige Erwartung ist es, die dich fast umbringt. Schon der nächste Schritt kann dir wieder das Fundament unter den Füßen wegreißen. Es gibt nichts mehr, worauf du dich verlassen kannst, keine Sicherheit, und jedem, der mit dir zu tun hat, geht es genauso.«
Sie kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, ihr eigenes Leben schärfer zu sehen. »Schwimmengehen? Zu gefährlich, man kann ja plötzlich einen Anfall kriegen und ertrinken. Allein in der Badewanne? Dasselbe. Reiten? Auf eine Leiter steigen? Gar nicht dran zu denken, man fällt runter und bricht sich das Genick. Autofahren? Du meine Güte, viel zu gefährlich, man verliert die Kontrolle über das Fahrzeug und verursacht einen tödlichen Unfall. Essen? Immer das Risiko, sich zu verschlucken und zu ersticken. Liebe, Hass, Sex? Bloß keine starken Gefühle! Im einen Moment wirkst du fast normal und fühlst dich auch so, im nächsten Moment verdrehen sich deine Augen, du fängst an zu zucken und zu schmatzen, gibst komische Geräusche von dir, als wärst du von einem Dämon besessen, der dich dann durch die Luft schleudert, du fällst und fällst und dabei zerbeißt du dir die Zunge und pisst dich voll.«
Zwischen den Kronen der Apfelbäume neben ihnen fiel ein erster kupferroter Sonnenstrahl in den Wagen.
Annika sagte: »Manchmal lebst du stunden-, tage- oder sogar wochenlang in einem Dämmerzustand und sehnst dich danach, dass endlich der Anfall kommt, der dich erlöst und den Schleier um dich zerreißt, die Käseglocke mit einem Blitz zersprengt. Oder du wirst auf einmal total geil auf jemanden, der überhaupt nicht will, dass du ihm an die Wäsche gehst. Oder du verknallst dich in den heiligen Sebastian, weil du in der Ohnmacht nach dem Anfall irgendeine religiöse Euphorie erlebt hast. Oder du wirst rasend, aggressiv – du musst dich unglaublich beherrschen, weil nämlich nur ein winziges Fünkchen reicht, und du springst jemandem mit dem nackten Arsch ins Gesicht oder ziehst ihm eine Flasche über den Schädel.«
Hinter einer Kurve öffnete sich eine Parkbucht mit einer Bank und einem Toilettenhäuschen, und Ella fuhr langsamer und verließ die Straße. Sie lenkte den Citroën unter einen Baum und stellte den Motor ab. Sie wusste nicht, ob Annika gerade auf einen Anfall zusteuerte, aber sie wollte vorbereitet sein. Ich kann sie nicht mit auf die Insel nehmen, dachte sie; es ist zu gefährlich, für uns beide. Sie ließ die Hände auf dem Lenkrad und sah Anni an, und Anni sah sie ebenfalls an, und ihre Augen wirkten wie heißes, frisch geblasenes Glas.
»Es sind die Nächte, weißt du«, sagte Annika. »Die, in denen man nicht mehr wie früher sanft in den Schlaf hineingleiten will, sondern sich im Bett aufbäumt. Man fühlt sich, als hätte man Scherben gegessen, und wenn man in sich hineinschaut, sieht man sie da unten glitzern, scharf und gefährlich und so wirklich, dass man einen Straßenkehrer runterschlucken möchte, damit der da drinnen alles auffegt. Und dann kommt die Angst – eine Angst, die so groß ist, dass du denkst, sie zerreißt dir die Brust und dein Schädel platzt, weil du diesen Druck auf dein Gehirn einfach nicht mehr aushalten kannst. Aber dann, irgendwann in den frühen Morgenstunden, bist du endlich müde genug, um dich nicht mehr gegen den Schlaf zu wehren, und kurz bevor du dann einschläfst, hast du auf der Zunge einen Geschmack wie von Asche. Genau das ist der Geschmack, wie man sich den von Asche vorstellt. Oder verbranntes Gummi. Oder Nagellackentferner.«
Das war der Moment, in dem die Sonne ganz aufging und das Blau des Himmels plötzlich fast wehtat, wenn man hineinsah. Annikas Augen tränten jedenfalls. »Weißt du, irgendwie bin ich – ich bin nicht mehr dieselbe. Die Anni von früher. Manchmal – manchmal glaube ich, ich halte das nicht durch.«
Ella griff nach ihrer Hand, hielt sie fest. »Doch, tust du.«
»Ach, ja?!« Einen Moment lang schienen Annikas Augen zu glitzern vor Wut. »Woher weißt du das denn?« Sie starrte Ella an wie eine Fremde, dann legte sich das Glitzern, und die Augen färbten sich wieder hell. »Natürlich, du hast recht, ich schaffe das schon, Stephen Hawking würde mich wahrscheinlich sogar beneiden! Ich bin bloß manchmal so wütend! Ich sehne mich zurück nach der Möglichkeit, sanft zu sein.«
»Du warst nie sanft«, sagte Ella. Sie berührte Annikas Hand mit ihrer eigenen und schaute ihr in die Augen, bis sie alle Stacheln eingezogen hatte. »Hör zu, du warst nie sanft, und ich möchte nicht, dass du darunter leidest, es nicht mehr zu sein, wenn du es nie warst.« Sie konnte Annikas trockenen Atem spüren, die Hitze, die noch immer von ihr ausging, und sie strich ihr über das zerzauste Haar, das aussah, als wäre ein Windstoß hineingefahren. Sie glättete es, und unter den sanften Bewegungen verließ die letzte Spannung Annikas Körper; ihr Kopf sank an Ellas Schulter. »Ich bin müde. Und ich bin es leid, zu fallen.«
Ich auch, dachte Ella.