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Obwohl es noch nicht einmal ganz Morgen war, meldete Frère Rémy sich nach dem dritten Freizeichen, und Ella sagte: »Ich kann in einer Stunde bei Ihnen auf der Insel sein.«

»Das ist zu früh«, sagte der Geistliche. »Ich erreiche meinen Onkel nicht vor heute Abend. Wenn sie um neunzehn Uhr an der Klosterpforte sind, hole ich Sie dort ab.«

»Geht es bestimmt nicht früher?«, fragte Ella.

»Nein«, sagte Frère Rémy. »Es wäre sinnlos und gefährlich, sich früher zu treffen.«

»Sie wissen Bescheid?«

»Dass die Feinde meines Onkels uns die ganze Zeit beobachten? Natürlich.« Der Geistliche wirkte unbeeindruckt. »Ich weiß, wie diese Leute vorgehen. Deswegen treffen wir uns im Kloster und nicht unten im Dorf oder auf dem Festland. Ich erwarte Sie um neunzehn Uhr.«

Er unterbrach die Verbindung, und Ella hielt das Handy noch einige Sekunden ans Ohr gepresst, als könnte er plötzlich wieder in der Leitung sein und sagen, ich habe mich geirrt, mein Onkel wartet doch schon auf meinen Anruf, kommen Sie jetzt gleich. Sie sah durch die offene Beifahrertür auf die Wiesen hinaus, die hinter der Parkbucht lagen. Das Morgenlicht, das blendend hell um den Citroën flutete, erschien ihr auf einmal unwirklich, wie ein übertriebener Effekt der Natur. Annika vertrat sich draußen die Beine und entfernte sich langsam immer weiter vom Wagen. »Bleib in der Nähe!«, rief Ella ihr zu.

Ella wählte die Nummer, die der Anwalt ihr gegeben hatte. Sie wusste nicht, ob er ihr glauben würde, aber wenn er befürchtete, dass sie von seinem Plan abwich, rückte Mado ihrem Tod wieder etwas näher. Sie spürte, dass ihre Hand zitterte, nicht sehr stark, nur ein bisschen. Sie achtete nicht darauf; wichtig war, dass ihre Stimme nicht zitterte. »Hallo«, meldete sich eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

»This is Ella Bach speaking«, sagte Ella. Der Mann redete weiter, erst auf Französisch, dann auf Englisch, und sie begriff, dass sie mit einem Anrufbeantworter sprach. »Ich bin jetzt kurz vor der Küste«, erklärte sie. »Lazares Neffe will sich erst heute Abend mit mir treffen, früher kann er seinen Onkel nicht erreichen. Ich halte mich weiter an Ihren Auftrag, es verzögert sich alles nur um ein paar Stunden. Hören Sie? Ich tue weiter genau das, was Sie von mir verlangen.« Sie überlegte, ob sie sonst noch etwas sagen sollte, etwas, das glaubwürdiger klang. Ihr fiel nichts ein, und sie sagte, »Danke« und klappte das Handy zu. Sie tastete nach dem USB-Stick in ihrer rechten Jeanstasche wie nach einem Talisman, der ihr Glück bringen oder wenigstens weiteres Unglück verhindern konnte.

Er muss dir glauben, dachte sie; er kann nicht anders, denn er hat auch keine andere Wahl. Er weiß nicht, dass du ihm nur etwas vorspielst, um Mados Leben zu retten. Sie brauchen dich. Etwas später dachte sie, dass er ihr ja auch nur etwas vorspielte und dass Dany wahrscheinlich recht hatte, und alles hing von ihrem Gespräch mit Lazare ab. Leben oder Tod, dachte sie.

Ihr Blick fiel auf die Zeitung, Le Monde, die Annika an der Tankstelle gekauft und ungelesen auf den Rücksitz geworfen hatte. Auf der Titelseite der Zeitung waren mehrere Chinesen in schwarzen Anzügen und mit schwarz gerahmten Brillen zu sehen, die, ohne zu lächeln, vor dem Eiffelturm standen. In der Überschrift las Ella die Worte Chinois und Peking, aber viel mehr verstand sie nicht. Sie stieg aus und suchte Annika, die zwischen den Sträuchern und Büschen am Rand der Parkbucht verschwunden war und jetzt auf der noch von schimmerndem Morgentau überzogenen Wiese stand.

»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Annika. Sie drehte sich einmal um sich selbst, die Hände ausgestreckt, als könnte sie den Geruch greifen.

»Äpfel«, sagte Ella.

»Du riechst Äpfel?«

»Ja. Du nicht?«

»Doch. Aber manchmal rieche ich etwas, das gar nicht da ist, kurz bevor ich einen Anfall kriege.«

»Wir riechen beide Äpfel«, beruhigte Ella sie. Es war der süße, erdige Herbstgeruch der reifen Früchte, die unter den Bäumen zu kleinen Bergen aufgetürmt lagen. Rechts und links der Straße erstreckten sich grüne Wiesen, in die sich bereits große Flecken Gelb gemischt hatten. Kleine Schafe mit dunkelbraunen Köpfen und schwarzen Füßen weideten in der leuchtenden Sonne, und die Kronen der Apfelbäume und das Gras wogten im salzigen Wind, der vom Meer landeinwärts wehte. Von irgendwoher trieb der Wind das Motorengeräusch eines fahrenden Traktors heran. Das Geräusch kam nicht näher, und der Traktor selbst blieb unsichtbar.

Hinter den flirrenden Kronen der Apfelbäume entdeckte Ella ganz weit entfernt ein Total-Emblem an einem Eisenmast, und als sie genau hinschaute, bemerkte sie am Horizont auch einen Campingplatz. Daneben erhob sich der fensterlose Flachbau eines Carrefour-Supermarktes, vor dem eine bunte Fahne im Wind hin und her schlug.

»Komm zurück, wir fahren weiter«, rief Ella. Annika blieb noch einen Moment am Saum der Wiese stehen, dann kehrte sie um und kam langsam auf Ella zu. Das Metall der Reißverschlüsse und Noppen an ihrer Lederjacke schimmerte und blitzte wie eine Rüstung. »Ich muss was mit dir besprechen«, sagte Ella, als sie da war.

Annika versteifte sich ein wenig. Ein wachsamer Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als wüsste sie bereits, was Ella ihr sagen wollte. »Wir müssen umdisponieren«, erklärte Ella. »Lazares Neffe erwartet mich nicht vor sieben Uhr heute Abend. Die Leute von Birnam Forrest sind wahrscheinlich schon auf der Insel – «

»Deine Mörder«, unterbrach Annika sie.

»Es ist ein Überwachungsteam, mehr nicht«, korrigierte Ella sie. »Gefährlich werden sie erst, wenn ich wieder aus dem Kloster komme, und das vielleicht auch nur, falls ich Erfolg haben sollte. Ich möchte sie mir aber vorher ansehen, um zu wissen, auf wen ich dann achten muss. Deswegen muss ich mich unauffällig bewegen können und schnell – «

»Du willst nicht, dass ich mitkomme«, unterbrach Annika sie erneut, jetzt mit einem verletzten Unterton in der Stimme. Sie blinzelte in die Sonne, sah Annika nur kurz an und fing dann wieder an, das unsichtbare Fädchen von ihrer Bluse zu zupfen.

»Ich habe Angst, dass du dir zu viel zumutest«, sagte Ella.

»Du hast Angst, dass ich einen Anfall kriege«, sagte Annika, »und die Aufmerksamkeit auf dich lenke, und das kannst du nicht gebrauchen. Mit mir ist es gefährlicher als ohne mich, oder?«

»Ja«, gab Ella zu und schämte sich ein wenig. »Das verstehst du doch, oder?«

»Natürlich verstehe ich das«, antwortete Annika. Sie lächelte, aber es war ein Lächeln, an dem man hängen bleiben konnte wie an einem feinen, spitzen Angelhaken. Sie ging an Ella vorbei zum Wagen, holte ihren Rucksack vom Rücksitz, wischte sich noch ein anderes unsichtbares Fädchen von der Bluse und marschierte los.

»Wo willst du denn hin?«, rief Ella verblüfft.

»Ich gehe zu Fuß«, antwortete Annika, ohne stehen zu bleiben. »Ich habe ja keine Eile mehr. Und ich will dich auf gar keinen Fall in Gefahr bringen.«

Ella sah zu, wie Annika das Ende der Parkbucht ansteuerte, mit großen, zielstrebigen Schritten und wie sie dabei nicht aufhörte, kleine mechanische Bewegungen zu machen, die nicht den geringsten Sinn hatten. Herr im Himmel, dachte sie und zwang sich, ruhig zu bleiben, nicht wütend zu werden. Dann dachte sie, wir sind längst über die Grenze zum Chaos gerutscht, Anni, ich, Dany, die ganze Welt.

»Anni, bleib stehen!«

Annika gehorchte. Mit zusammengeknifffenen Augen drehte sie sich um. »Was ist?«

»Du kannst mitkommen«, sagte sie und dachte im selben Moment, dass sie wieder eine falsche Entscheidung getroffen hatte.

Annika blinzelte noch einmal, fuhr sich mit einem schwarzen Lederarm über die Stirn und ließ ihren Rucksack fallen, wo sie stand. Sie atmete heftig, stoßweise, als wäre sie hundert Meter gerannt. Unter ihrem linken Auge zuckte unablässig ein Muskel. »Ich will gar nicht mit«, sagte sie. »Ich weiß selbst, dass ich in diesem Zustand keine Hilfe für dich bin. Ich habe auch noch nie gehört, dass der Mont Saint-Michel ein Wallfahrtsort für Epileptiker ist.« Mit einer fahrigen Bewegung holte sie das Tablettendöschen aus der Jackentasche. »Du kannst mich irgendwo im nächsten Ort absetzen, und ich suche mir dann ein Hotel. Du musst mir nur versprechen, dass du mich wieder abholst, falls deine Mörder dich am Leben lassen.«