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Der Mont Saint-Michel ragte plötzlich über dem Horizont auf, und erst war er noch klein, aber mit jedem Kilometer bis zur Bucht wurde er größer, und bald war er so nah, dass seine Silhouette das Einzige blieb, was Ella noch wahrnahm. Sie fuhr an den Straßenrand und stieg aus. In der Luft hing der salzige Geruch von Algen und brackigem Wasser. Silbermöwen sichelten im Sturzflug über den Damm zur Insel, und sie kreisten auch über dem Kloster und um den Turm der Abteikirche ganz oben auf dem Felsen. Das kupferne Schwert des Erzengels auf der Kirchturmspitze glomm im Licht der tief stehenden Sonne. Unterhalb der Mauern, Steinbögen und Arkaden des Klosters duckten sich die schmalen Häuser des Dorfes gegen den steil abfallenden Granit. Rings um die Insel erstreckte sich Schlick bis zum Horizont. Die Schatten schnell treibender Wolkenfetzen glitten über das Watt, und hier und dort blitzten Wassertümpel in der nass glänzenden Ebene. Wind bewegte das Schilf und die Heidekrautbüschel am Ufer.

Nach ein paar Minuten stieg Ella wieder in den Citroën und fuhr hinter einem aluminiumverkleideten Pilgerbus mit der Aufschrift Sacred Tours über den Damm zur Insel. Aus dem Inneren des Luxus Class Scania Irizar schallte Gesang, der bis zu ihr in den Wagen drang. Sie parkte dicht neben dem Bus am Fuß der Festungsmauer. Unwillkürlich hielt sie nach ihren Überwachern Ausschau. Deinen Mördern. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie spürte ihre Nähe.

Du musst sie sehen, bevor sie dich sehen. Du musst wissen, mit wem du es zu tun hast. Du musst auf alles vorbereitet sein, auch darauf, dass sie den Plan ändern. Wenn du nicht weißt, wer sie sind und ob du ihnen entkommen kannst, bist du das Kaninchen, und sie sind die Habichte am Himmel.

Die Pilger sammelten sich auf dem Parkplatz am Fuß der schroff aufragenden Felsen. Sie sangen immer noch. Ein junger Mann ganz vorn trug an einer Ebenholzstange ein Banner mit einem fein gestickten Bild von Sankt Michael und einem feuerspeienden Drachen, der sich unter seinem Fuß wand. Singend marschierten sie auf das Tor in der Festungsmauer zu, und Ella stieg aus und schloss sich ihnen an, nur dass sie nicht sang.

Die Pilger drängten durch die Porte de l’Avancée in einen befestigten Hof auf der anderen Seite des Vorwerks. Ella hatte das Gefühl, zwischen den Scharen von Amerikanern und Japanern erdrückt zu werden. Das Licht fiel hier nicht mehr bis auf die Köpfe der Menschenmenge, die sich nun durch ein zweites Tor in den nächsten Hof schob. Vorbei an grünspanbefallenen Eisenkanonen aus dem Hundertjährigen Krieg folgten die Wallfahrer dem schräg geneigten Brokatbanner durch die Porte du Roi, und Ella ging mit.

Sie hielt den Kopf gesenkt; versuchte, mit den anderen zu verschmelzen. Aus dem Schatten des Königstors warf sie schnelle, unauffällige Blicke hinter sich. Sie suchte nach vertrauten Gesichtern, verdächtigen Bewegungen, einem kurzes Blitzen in den Pechnasen oder Fallgitterscharten des Mauerwerks, sogar dort. Sie können überall sein, vor dir oder hinter dir oder neben dir. Sie waren da, aber Ella wusste nicht, wer; jemand, den sie kannte oder jemand, den sie noch nie gesehen hatte.

Sie konzentrierte sich auf jeden, der ihr verdächtig erschien, bis ihr wieder einfiel, dass es die Unverdächtigen waren, die sie im Auge behalten musste. Der Fischer mit den Stulpenstiefeln, der neben ihr ging. Die beiden spanischen Priester vor ihr. Der uniformierte Flic am Anfang der Grande Rue. Die Kerzenverkäuferin in dem gelben Kattunkleid hinter dem Tour du Roi. Der Souvenirhändler mit den bunten Devotionalien von Sankt Michael, den neonbunten T-Shirts, den Ansichtskarten und Alan Stilvell-CDs an dem Stand rechts vor der Maison d’Arcade. Vielleicht sogar einer der mit Kameras behängten Japaner, schmale Augen über weißem Mundschutz. Jenseits des Tors schob sich die Menschenmenge Schulter an Schulter die steil ansteigende Grande Rue hinauf, die in engen Windungen zum Kloster führte, vorbei an den niedrigen Steinhäusern aus dem 16. Jahrhundert, den Crêpe-Restaurants, Bar Tabacs und Andenkengeschäften. Das Gedränge um Ella wurde dichter. Souvenirläden lockten mit Musik: Orgelklänge mischten sich mit Chorälen und Chansons. Aus den offenen Türen und Fenstern der Lokale zu beiden Seiten der Gasse drang das Klirren von Geschirr, das Scheppern von Töpfen und das Zischen heißen Fetts. Es roch nach gebratenem Lamm mit Zwiebeln und Rosmarin, frischem Knoblauch, gebackenen Muscheln.

Ella spürte die Blicke ihrer Verfolger jetzt ganz deutlich, im Rücken, auf ihrem Hinterkopf. Nicht umdrehen, dachte sie, aber sie konnte nicht anders, sie musste sie suchen. Die von der Sonne geröteten Gesichter der Menge waren erwartungsvoll, fast fröhlich. Die Leute sahen aus wie Bauern oder Schäfer oder Touristen, wie harmlose Tramper aus Rom oder Liverpool oder Tokio. Der Fischer in den Stulpenstiefeln und der blauen Öljacke rempelte Ella an. Sie zuckte zusammen, und er entschuldigte sich, und sie wusste, dass er nicht zu ihnen gehörte; sie konnte es an seinen Augen sehen.

Vor ihr erklang ein helles Lachen. Ein kleines blondes Mädchen mit Sommersprossen, das auf den Schultern seines Vaters saß, hatte sich zu ihr umgedreht und schwenkte ein weißes Papierfähnchen mit einem roten Kreuz darauf. Der Vater blieb bei der jungen Kerzenverkäuferin stehen. Das Mädchen starrte noch immer zu Ella herüber. Es hörte nicht auf zu lachen.

Ellas Blick fiel auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe eines Andenkenladens. Mein Gott, du siehst aus wie eine Landstreicherin, dachte sie. Ihre dunkelblauen Jeans, das graue Jackett, der burgunderrote Pullover – alle Sachen, die Laetitia ihr noch vor der Abfahrt in Paris gebracht hatte, waren staubig, zerknittert. Die Menge schob sie weiter, an einer Aussichtsplattform vorbei. Draußen über dem Watt ging die Sonne unter, eine riesig rot glühende Scheibe wie aus frischer Lava mit einem flimmernden Hof, hinter der sich die Dunkelheit sammelte. Unter dem leuchtenden Streifen des letzten Lichts stieg das Wasser an und näherte sich schnell.

Die Glocke der Klosterkirche oben auf dem Felsen rief mit hellen Schlägen zur Abendmesse. Möwen stoben auf, stiegen flatternd in den Himmel. Ihre metallischen Schreie klangen verloren, wie die verzweifelten Rufe toter Seelen im Fegefeuer. Plötzlich ging die Straßenbeleuchtung an. Die Glühbirnen, die an Ketten über den Gassen schwebten, ließen den Himmel unvermittelt tintenblau wirken. Die Mauern, Arkaden und Fenster der Abtei und sogar die Bäume und die schroffen Felsen darunter strahlten in einem unwirklichen, goldgelben Licht, das aus dem Stein selbst zu dringen schien. Die Stimmen der Menschen klangen lauter und hallten in den schmalen Durchgängen zwischen den Steinmauern.

Du musst weg von den Leuten, dachte Ella; sie sind zu langsam. Sie schützen dich, aber sie sind zu langsam. Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke: Was ist, wenn sie die Jacke oder die Hose mit einem Chip versehen haben? Wenn sie dir jederzeit folgen können, ohne dir überhaupt nahe kommen zu müssen?

Sie stolperte. Eine Hand griff nach ihrem Arm. Erschrocken riss sie sich los und drängte sich durch die Menge. Vor ihr trug ein Mann ein Netz mit großen, tropfnassen Wolfsbarschen über die Straße in eine Seitengasse. Ihr Blick fiel auf die offen stehenden Fischmäuler, die starren Augen, und plötzlich sah sie alles wieder vor sich: das Blut überall in der dunklen Wohnung, das Blut und Mado und die zuckenden, zappelnden Fische, die auch starben.

» Une chandelle?« Die junge Frau in dem gelben Kattunkleid stand neben Ella und lächelte verlegen. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der linken Wange hinter das Ohr. »Une chandelle, Madame?«, fragte sie leise und griff in die große Basttasche vor ihrem Bauch.

»Nein«, antwortete Ella, »non merci, Mademoiselle.« Sie ging schneller, fort von der Kerzenverkäuferin, den Fischern und den Pilgern mit der Brokatfahne. Sie hatte die Treppe zum Klostertor fast erreicht, als sie den Mann mit der Brandwunde entdeckte. Er stand vor einem Souvenirladen, zwischen zwei Drehständern mit Ansichtskarten. Er sah direkt zu ihr herüber. Das Licht einer Lampe an der Hausecke über seinem Kopf fiel auf seinen schwarzen Hut, dessen Krempe einen Schatten auf sein Gesicht warf und die Wunde verdeckte, aber Ella wusste, dass sie da war.

Jetzt kam er auf sie zu, die Hände in den Taschen einer blauen Windjacke. Er teilte die Menge, als wäre sie gar nicht da. Ellas Herz setzte aus, nur einen Schlag oder zwei und doch lang genug, um ihr das Gefühl zu geben, dass es für immer stehenbliebe.

Sie wollen dir Angst einjagen. Dir zeigen, dass sie da sind, dass du ihnen nicht entkommen kannst, selbst wenn du es wolltest. Sie machen dir klar, wie hilflos du bist, wie fest in ihrer Hand.

Sie prallte gegen einen Rücken, wich einem Japaner mit geblähtem Mundschutz aus, lief weiter, achtete nicht auf die Schultern, die sie anrempelte, die undeutlichen Gesichter, die vorbeiflogen. An der nächsten Ecke blieb sie atemlos stehen und drehte sich um. Der Mann mit dem Hauttransplantat war verschwunden. Trotzdem, sie hatte sich nicht geirrt: Auch wenn er in Berlin etwas anderes angehabt hatte, nicht diese klobigen schwarzen Halbschuhe, auch keine blaue Windjacke mit rotem Futter, nur eine ähnliche dunkelgraue Hose.

Sie blieb vor einem Fachwerkhaus stehen, hinter dessen honigfarbenen Butzenfenstern Lachen und Gläserklirren erklangen. Ihr Puls raste. Auf der Zunge spürte sie einen bitteren Geschmack, und die Bluse unter ihrem Pullover klebte ihr am Rücken. Du musst aufpassen, dachte sie; du hast zu wenig geschlafen in letzter Zeit, zu wenig gegessen und getrunken. Vielleicht wirst du paranoid.

Sie löste sich von der Fachwerkmauer, um sich zur Treppe vorzuarbeiten. In diesem Moment sah sie den zweiten Mann. Er stand einige Meter weiter, gleich bei der ersten Stufe. Er trug eine rot-grün karierte Schirmmütze, einen roten Quastenschal, einen sandfarbenen Dufflecoat mit winzigen Tannenzapfen aus Horn als Knöpfen und lehmbespritzte Jeans, als wäre er durch das Watt zur Insel gestiefelt. Er stand nur da, tat nichts, kümmerte sich um niemanden. Stand da und starrte Ella an. Von Zeit zu Zeit fasste er sich an sein linkes Ohr, wahrscheinlich um einen unsichtbaren Empfänger zurechtzurücken, während er in ein winziges Mikro am Ärmelaufschlag sprach, ohne die Lippen zu bewegen.Und wenn sie dir nicht nur Angst einjagen wollen? Wenn sie einen anderen Weg gefunden haben, an Lazare ranzukommen, und dich gar nicht mehr brauchen? Was bedeutet das? Was haben sie vor? Warum ruft Dany nicht an? Haben sie ihn geschnappt, als er Mado befreien wollte? Haben sie ihn auch gefoltert? Hat er ihnen alles gesagt? Du kannst nicht mehr klar denken. Nicht klar denken.

Ihr Blick flog über die Köpfe der Passanten zum Kloster hinauf, zurück zur Straße, nach links, nach rechts. Gleich neben ihr befand sich der Eingang eines Hotels. Sie stieß die Tür auf und betrat die Brasserie im Erdgeschoss. Der Raum war klein, und die unverputzten Steinwände und das gedämpfte Licht eines eisernen Kronleuchters ließen ihn noch kleiner erscheinen. In einem offenen Kamin brannte ein Holzkohlenfeuer. Der Geruch von Lammbraten, Thymian und gerösteten Zwiebeln hing in der Luft. Im ganzen Lokal war kein Platz mehr frei, weder an der Theke noch an den runden Holztischen, nicht einmal auf den Bänken unter den bleigefassten Butzenfenstern.

Ella sah sich um. Sie musterte die Gäste, besonders die, die aussahen, als wären sie von hier – alte Männer mit wettergegerbten Gesichtern und hellen Augen, bärtige Jungen mit sehnigen Armen, Frauen ohne Schmuck, die Haare glanzlos von der salzigen Meerluft. Sie arbeitete sich zur Theke vor und bestellte einen Cidre, und als sie die kalte Flasche in der Hand hielt, merkte sie erst, wie durstig sie war. Sie setzte die Flasche an den Mund. Während sie trank, behielt sie in dem beschlagenen Spiegel neben dem Tresen den Eingang im Auge.

Danach holte sie wieder ihr Handy heraus und rief noch einmal Frère Rémy an. »Ich werde verfolgt«, sagte sie, als er sich meldete. »Ich weiß nicht, ob ich es rechtzeitig zum Kloster schaffe.«

»Wo sind Sie gerade?«

»In einem Hotel an der Grande Rue. Ich weiß nicht, wie es heißt, aber es hat Sprossenfenster, eine dunkelrot gestrichene Tür und so einen verrosteten Laternenhalter neben dem Eingang. Ich bin im Schankraum.«

»Bleiben Sie da. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Der Fischer mit den Stulpenstiefeln saß zwei Tische weiter mit dem Rücken zum Kamin. Plötzlich hob er den Kopf, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie ihn ansah. Rasch sah sie weg, aber aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung. Gleich darauf stand er lächelnd vor ihr und sagte etwas, das sie nicht verstand. Hinter ihm ging die Tür auf, und die Kerzenverkäuferin von der Straße betrat den Schankraum.

Mit der großen Basttasche an einem Tragriemen über der linken Schulter ging die Verkäuferin von Tisch zu Tisch und bot Kerzen und Medaillons von Sankt Michael an. Wieder strich sie sich die Haarsträhne aus der Wange, wie vorhin auf der Straße. Aber dann bewegte sie den Kopf, und Ella bemerkte den matt blinkenden Knopf in ihrer Ohrmuschel. Die Verkäuferin kam näher und näher, und alles, was jetzt noch zählte, waren ihre Augen. Sie blickten hellblau und kalt, und die rechte Hand der jungen Frau tauchte tief zwischen die Kerzen und Medaillons, griff nach irgendetwas, das auf dem Boden der Basttasche liegen musste, einer Pistole oder einer Betäubungsspritze. Du hast dich getäuscht, dachte Ella, niemand kann gegen sie gewinnen, niemand.