Das Schönste in dem nicht allzu großen Hotelzimmer war das Himmelbett, von dessen Baldachin blasse Rosenknospen regneten, ohne wirklich zu fallen. Annika lag auf dem Rücken und schaute zu den schwebenden Rosen hoch und versuchte, nicht den Boden unter sich zu verlieren. Ihr Handy lag neben ihr auf dem Kopfkissen, und sie wartete darauf, dass es klingelte.
Die Wände des Zimmers waren mit einer wasserfleckigen, hellblauen Tapete verkleidet, die an einigen Stellen Wellen geworfen hatte. Es gab ein kleines Fenster mit dunkelroten Leinenstores und einer gestärkten Gardine. Das von der Straße hereinfallende Licht der Laternen hatte einen beunruhigenden violetten Ton. Nacheinander fasste Annika jeden Gegenstand in dem nicht allzu großen Zimmer ins Auge, um sich an ihm festzuhalten.
Unter dem Fenster stand eine mit zerschlissenem grünem Samt bezogene Couch, davor ein Beistelltisch mit einer staubigen Glasplatte und neben der Tür zum Bad ein Teakholzschrank. Das Bettgestell war aus grau angelaufenem Messing, und an der Wand gegenüber hing der zweitschönste Gegenstand, ein Poster von Mont Saint-Michel bei Nacht mit dem angestrahlten Kloster auf dem Felsenberg. Der einzige andere Schmuck bestand aus einer Porzellanstatue des heiligen Michael, der seinen nackten Fuß auf einen feuerspeienden Drachen gesetzt hatte.
Annika betrachtete den Erzengel und den Drachen und danach die nächtliche Klosteranlage, und sie konnte nicht aufhören, an Ella zu denken, die dort war und der sie nicht helfen konnte. Ihre beste Freundin, und sie konnte sie nicht beschützen. Es war ein Gefühl, als drücke ihr jemand einen kleinen Stein die Kehle hinunter. Nach einer Weile konnte sie es nicht mehr ertragen, nur so dazuliegen. Sie beugte sich aus dem Bett, um den Rucksack auf dem Boden zu sich heranzuziehen. Sie öffnete den Rucksack und holte die Ausgabe von Le Monde heraus, die sie gestern Nacht gekauft hatte. Darunter lag das zerfledderte Journal von Matthias Steinberg. Sie nahm es ebenfalls heraus, obwohl die Lektüre sie bedrückte. Bevor sie die Stelle fand, an der sie in Berlin zu lesen aufgehört hatte, summte endlich das Handy. Sie griff danach und meldete sich atemlos. »Ja, hallo?«
»Dany Montheilet hier«, sagte seine Stimme dicht an ihrem Ohr. Im Hintergrund erklangen Verkehrsgeräusche, Motorenlärm, der anschwoll und wieder zurückwich. »Die Wohnung ist leer. Sie haben Mado weggeschafft.«
Annika schwieg überrascht.
»Ich versuche herauszufinden, was das bedeutet«, fuhr Dany fort. »Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist und ob sie überhaupt noch lebt.«
»Warum erzählst du mir das?«
»Weil ich Ella nicht erreiche.« Der Motorenlärm wurde leiser, dann jäh wieder laut; Hupen ertönte. »Es kann sein, dass sie jetzt in noch größerer Gefahr schwebt. Ich dachte, du weißt vielleicht, wo sie ist.«
»Auf Mont Saint-Michel«, sagte Annika. »Bei Lazares Neffen.«
»Jetzt erst?« Dany klang erregt, anders als sie ihn kannte. »Und du, wo bist du?«, fragte er.
»In einem Hotel in Pontorson.«
»Warum bist du nicht bei ihr?«
»Weil ich eine schlechte Freundin bin«, sagte Annika schroff. »Wenn auch nicht ganz so schlecht wie du als Freund. Ist das Verkehrslärm? Rufst du vom Auto aus an?«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte er. »Die müssen misstrauisch geworden sein, sonst hätten sie Mado nicht in ein anderes Versteck gebracht. Oder sie haben einen neuen Plan.«
»Was sagen denn die Leute, die dir sonst immer alles verraten? «
»Von denen redet auf einmal keiner mehr mit mir.« Er schwieg abrupt, Bremsen quietschten, noch eine Hupe. »Verdammt, aus dem Weg!« Der Motor wurde wieder hochgejagt. »Es war klar, dass das passiert, aber ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde. Ein paar von denen schulden mir noch was, und die klappere ich gerade ab.«
Annika ließ sich wieder auf den Rücken sinken und schaute zu den Rosenknospen hoch, das Handy am Ohr. »Nur mal so zum Spaß gefragt«, sagte sie, »diese Leute, von denen du sprichst – die Firma, für die du arbeitest –, was ist eigentlich der Unterschied zu einer kriminellen Vereinigung?«
Ein heftiges Rauschen wie von einem Asteroidenregen im All überlagerte sämtliche anderen Laute. Für einen Moment war Danys Stimme ganz weg. »Dany?«
»… kümmert sich um Sicherheitsbelange von Konzernen und Regierungsstellen in ganz Europa«, kehrte er plötzlich zurück, »mit dem Schwerpunkt auf Informationsbeschaffung und Abwehr von … und Industriespionage in allen Formen«, neues Rauschen, »arbeiten für globale Anwaltskanzleien und internationale Konzerne, aber auch … Ministerien oder Parteien. Wir … durchleuchten Firmen … für eine Fusion oder als Kandidaten für eine feindliche Übernahme infrage kommen … Politiker, die sich für ein Amt bewerben oder in ihrem Amt lästig werden für ihre Partei oder die ihrer Gegner. Ein paar … und jagen Produktpiraten, die Laufschuhe oder Spielzeug oder Computer oder sonst was kopieren.«
Er redete darüber wie über ein Hobby, dem er nun nicht mehr nachgehen konnte, obwohl er ihm immer gern seine Zeit gewidmet hatte. Ohne Leidenschaft, fast etwas abgelenkt, schon auf der Suche nach dem nächsten.
»Das ist doch nicht alles«, sagte sie, »das klingt noch nicht schmutzig genug. Ihr macht doch bestimmt auch die schmutzigen Sachen.«
»Was für schmutzige Sachen?«, fragte er durch das an- und abschwellende Rauschen.
»Die richtig schmutzigen«, sagte Annika. »Die neuen Waffen, die ihr testet, bevor sie in Serie gehen. Die ihr an Tieren und manchmal an Menschen ausprobiert. Die schweren Unfälle mit Todesfolge, die ihr inszeniert, um eine Autofirma an den Rand des Ruins zu bringen. Die Kinderpornos, die ihr auf die Computer von missliebigen Führungskräften spielt, wenn man sie ohne Abfindung loswerden will. Die Aktien von Atomkonzernen und Chemiemultis, die ihr Umweltschützern unterjubelt. Die Streikbrecher, die ihr organisiert oder selbst stellt. Die Prozesse, die ihr manipuliert, indem ihr bestecht, bespitzelt, korrumpiert, unter Druck setzt. Die Versicherungen, denen ihr Material für – «
»Und im Notfall töten wir auch«, fiel Dany ihr, zur Abwechslung überraschend klar, ins Wort, »ist ja gut, komm wieder runter.«
»Schnee von gestern, ich weiß«, sagte Annika. »Das hat Patrick auch immer gesagt.«
»Wer ist Patrick?«
»Der Mann, dem ich mein Hirntrauma verdanke«, stieß Annika heiser hervor. »Habe ich dir nicht von ihm erzählt? Ein korrupter Bobby von New Scotland Yard, der lauter Kumpels wie dich hatte. Von denen hat bestimmt die Hälfte auch für Birnam Forrest oder eine ähnliche Gangsterbande gearbeitet. Was glaubst du denn, warum ich dir den Stick sofort ausgehändigt habe, als du mich danach gefragt hast? Warum ich mich nicht gewehrt habe? Meinst du, ich weiß nicht, wozu ihr fähig seid? Ich war nicht da, um Ella vor dir zu beschützen, als sie dir begegnet ist, aber genau deswegen habe ich alles getan, damit du mich mitnimmst nach Paris. Weil ich verhindern wollte, dass ihr da weitermacht, wo ihr aufgehört habt.«
»Alles?«, fragte Dany.
»Ja, alles, obwohl ich Angst vor dir hatte und immer höllisch aufgepasst habe, um bloß nicht mit dir allein zu sein, bis es sich nicht mehr vermeiden ließ – «
Ein lang gezogenes Hupen unterbrach sie. »Ich bin gleich da«, sagte Dany, »und vielleicht ist das jetzt das letzte Mal, dass wir miteinander reden. Deswegen hör zu: Ich hätte dir nie etwas getan, weil du Ellas Freundin bist und weil ich gemerkt habe, wie viel du ihr bedeutest. Ich kenne deinen Patrick nicht, aber ich verprügele keine Frauen, und ich hätte dich so oder so mitgenommen, ganz egal, was du getan hast oder nicht.«
Für einen Moment verschlug es Annika die Sprache. Dann fragte sie: »Warum?«
»Aus demselben Grund, aus dem ich zu dir gekommen bin, als die Männer in dem Kiosk mir am Telefon gesagt haben, wo du steckst und was mit dir los ist. Ich wollte verhindern, dass Aziz oder einer der anderen in Berlin dich findet und auch umbringt.«
»Weil du mich ja so magst, fast so sehr wie Ella«, sagte Annika und starrte die Rosenknospen an.
»Weil es schwer gewesen wäre, diesen Mord jemandem in die Schuhe zu schieben«, fuhr Dany fort, »Ella war ja schon in Paris. Und sie stand dir so nah, dass dann vielleicht doch jemand misstrauisch geworden wäre und angefangen hätte, nach anderen Verdächtigen zu suchen. Ein Polizist wie Hauptkommissar Schröder, der nicht von Birnam Forrest bezahlt wird. Schröder haben sie verschwinden lassen – angeblich hat er einen Haufen Geld aus der Asservatenkammer geklaut und sich damit abgesetzt. Dich habe ich verschwinden lassen, mitsamt den Aufzeichnungen, aber du bist am Leben, das ist doch was.«
»Die reine Poesie«, murmelte Annika. Ihr Blick fiel auf das Titelblatt von Le Monde, den Eiffelturm mit den Chinesen davor, und plötzlich hatte sie das Gefühl, etwas zu begreifen, ohne genau zu wissen, was. »Welche Rolle spielen eigentlich die Chinesen bei der ganzen Sache?«, fragte sie ins Blaue hinein.
»Was für Chinesen?«
»Aziz hat von Ella verlangt, dass sie sich vor der Chinesischen Botschaft treffen, und gleich danach ist sie verschwunden«, sagte Annika. »Kommissar Schröder ist dort erschossen worden und nie wieder aufgetaucht, wie du gerade gesagt hast. Als ich dir sagte, wohin Aziz Ella bestellt hatte, wusstest du sofort, was zu tun war, wen du anrufen musstest. Also – «
»Vergiss die Chinesen!« Das Motorengeräusch erstarb, und die plötzliche Stille war wie ein weißes Loch. »Ich meine es ernst, vergiss sie, bitte!« Sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. »Ich bin da. Scheint alles dunkel zu sein. Drück die Daumen, dass Mado noch lebt. Denn wenn sie nicht mehr lebt, bedeutet das, dass Ella die Nächste sein wird.«
Die Verbindung brach zusammen, und das weiße Loch wurde riesig. Wo ist die Grenze?, dachte Annika. Sie war der Wachtposten, aber sie wusste nicht mehr, wo die Grenze war.