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»Es war ein ungesühntes Verbrechen«, sagte Frère Rémy, »ein Verbrechen, für das jemand büßen musste, damit die Toten endlich Frieden finden konnten. Jemand aus der Familie der Täter. Ich sprach mit meinem Vater, aber der war uneinsichtig und ließ die Beweise verschwinden. Ich sprach mit meinem Onkel, der ebenfalls uneinsichtig war und auch die Kopien der Beweise verschwinden ließ. Ich blieb hartnäckig, immer wieder zwang ich ihn, mir zuzuhören, und als ich beschloss, mein Leben Gott zu weihen, wurde er wankend. Aber erst die Begegnung mit einer jungen Studentin, ausgerechnet eine Nachfahrin jener ermordeten Familie, führte ihn auf den Pfad der Erkenntnis: Gottes Wege, Gottes Fügung, Gottes Werkzeug.«

»Vielleicht war es auch bloß ein Zufall«, sagte Ella mit vollem Mund. »So wie der, dass Ihr Onkel und ich beide derselben Studentin begegnet sind, und jetzt beide mit dem Tod bedroht werden.«

»Und das nennen Sie tatsächlich noch Zufall?«, fragte Frère Rémy ungläubig. »Dann glauben Sie wohl auch nicht an Gott?«

»Ich bin Ärztin. Bei dem, was ich tagtäglich zu sehen bekomme, fällt es schwer, an einen Gott zu glauben. Jedenfalls an einen gütigen Gott.«

»Ja, ich verstehe – wenn es ihn gibt, wie kann er das zulassen … Aber Gott ist nicht nur gütig, das kann er sich gar nicht leisten, und das will er auch nicht sein. Denn er befindet sich im Krieg, er wird angegriffen, und manchmal verliert er Schlachten, bei denen es unendlich viele Opfer gibt, die er nicht verhindern kann, wenn er den Krieg am Ende gewinnen will.«

»Und gegen wen verliert er diese Schlachten?«

»Gegen das Böse. Gegen Luzifer und seine Heerscharen.« Frère Rémy stand auf und trat ans Fenster, als müsste er auf die aufgewühlte See schauen, um dort eine Entsprechung für das Toben in seiner Seele zu finden. »Deswegen bin ich hierhergekommen, nach Mont Saint-Michel, denn dieser Ort ist dem heiligen Michael geweiht, jenem Erzengel, der von Gott dazu auserwählt wurde, den abtrünnigen Erzengel Luzifer zu bekämpfen. Gleich nach Jesus Christus ist er der mächtigste Himmelsfürst, und seine Aufgabe ist es, den Menschen auf der Erde beizustehen, an ihrer Seite zu gehen und ihre Seelen auf dem Weg ins Jenseits, zu Gott, zu geleiten. Den Drachen in Schach zu halten. Kennen Sie die Offenbarung des Johannes? Die Stelle über den Kampf Michaels gegen den siebenköpfigen Drachen? Es ist ein schrecklicher Kampf, und der Drache ist ein gewaltiges Ungeheuer, dessen Schwanz die Sterne vom Himmel fegt und zur Erde stürzen lässt. Und dieser Kampf, diese Schlacht ist noch nicht vorbei, sie geht weiter bis in die Zukunft, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.«

Er drehte sich um und breitete verlegen die Hände aus. »Ich doziere schon wieder. Jedenfalls – hier hoffte ich die Kraft zu finden, der es bedarf, wenn man die Angreifer Gottes erforschen will, um sie bekämpfen zu können – das große Dunkel, die tiefe Leere, in der das Böse ist und aus der es immer wieder in die Seelen der Menschen aufsteigt.« Er schien seinen Worten nachzulauschen. »Wenn man es erforschen will, ohne selbst hineinzustürzen und für immer davon aufgesogen zu werden«, ergänzte er.

Er ging zum Stehpult, griff nach dem Handy und wählte. »Aber von Sankt Michael abgesehen hat mir auch das Motto der Brüder und Schwestern der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem gefallen: ›Sich nicht aus der Welt zurückziehen, sich aber hüten vor dem, was den Geist der Welt ausmacht.‹ Ich glaube, diesem Motto werde ich gerade wohl einigermaßen gerecht! «

Er wechselte ins Französische und sprach ins Handy. »Jean-Jacques, le bâteau est preparée? Oui, elle est là. Non, sais pas. Il faut attendre.« Er legte das Handy wieder zurück auf das Stehpult. »Ich habe einen Freund, einen Fischer, der Sie mit einem Boot an Land bringen wird, sobald Sie mit meinem Onkel gesprochen haben. Sie können nicht hierbleiben, es ist gegen die Klosterregeln, und nach Tagesanbruch kann ich mich nicht mehr für Ihre Sicherheit verbürgen.«

Ella sah auf ihre Uhr. Es kam ihr vor, als wäre viel Zeit vergangen, seit Frère Rémy sie unten im Dorf abgeholt hatte, aber es war noch nicht einmal Mitternacht. Ich wünschte, er würde endlich anrufen, dachte sie.

»Vielleicht ist es ja einfach so, dass es einen Gott gibt für die, die an ihn glauben, und für die, die nicht an ihn glauben, gibt es keinen«, gab sie zu bedenken. »Und das Böse ist nicht für alle gleich Luzifer, sondern einfach nur die Abwesenheit vom Guten. So wie Sie hier in der Welt sind, sich dem Geist der Welt aber nicht unterworfen haben. Und alles, was Sie göttliche Fügung nennen, hat sich durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren ergeben, von denen wir nur einen Bruchteil kennen.«

»Wieder Ihr Zufall?«

»Genau betrachtet ist es eher eine ganze Kette von Zufällen.«

Frère Rémy fuhr sich mit der flachen Hand über die nackte Kopfhaut. »Sie meinen wirklich, all das, was Ihnen in den letzten Tagen, vielleicht Wochen zugestoßen ist, was Sie hierhergebracht hat, ist nur eine Folge von Zufällen?« Auf einmal wirkte er fast wütend. »Wenn es um Leben und Tod geht, gibt es keine Zufälle mehr. Oder, anders ausgedrückt, je mehr auf dem Spiel steht, desto häufiger treten sie auf, so häufig, dass sie nicht mehr Zufälle genannt werden können. Meinetwegen zäumen Sie das Pferd auch von hinten auf: Je leichter die Gewichte sind, je weniger auf der Waagschale liegt, je geringer die Konflikte und bedeutungsloser die Krisen sind, desto weniger sogenannten Zufällen sehen Sie sich ausgeliefert. Und dafür gibt es einen Grund, nämlich den, dass Zufälle herbeigeführt werden. Nicht von Ihnen oder mir, nicht einmal von mächtigen Männern wie meinem Onkel. Sondern von den Hilfstruppen Gottes und des Teufels. Sie sehen also, auch die Häufung von Zufällen, wenn jemand so einen Kampf wie Sie aufnimmt, ist eine Art Gottesbeweis. «

Das Handy auf dem Stehpult gab einen leisen Summton von sich, aber er schien es nicht zu hören.

»Der ewige Kampf zwischen Gott und dem Teufel ist nämlich so gewaltig«, fuhr er fort, »dass die ihn gar nicht allein führen können, keiner von beiden. Jeder hat Hilfstruppen – Adjutanten wie Erzengel Michael, Generäle, eine Armee von Engeln und Dämonen, die immer wieder versuchen, den Verlauf der Schlacht zu beeinflussen, zu ihren Gunsten zu wenden, und zwar mit allen möglichen Tricks, manche davon ziemlich schmutzig. Mit Finten, mit überraschenden Schachzügen, mit Karten, die sie plötzlich aus dem Ärmel ziehen. Und genau das sind die sogenannten Zufälle, die unwahrscheinlichen Ereignisse, mit denen wir dann konfrontiert werden und die Sie Zusammenwirken verschiedener Faktoren nennen – Manöver und Gegenmanöver in der gigantischen Schlacht.«

Das Handy summte weiter, und noch immer schenkte er ihm keine Bedeutung. Geh dran, dachte Ella, das kann doch dein Onkel sein!

»Wenn also Ihr Leben jäh aus der Bahn geworfen wird«, redete Frère Rémy einfach weiter, »wenn rings um Sie völlig unerwartet die Erde bebt oder Leidenschaften auf dramatischste Weise explodieren, dann können Sie sicher sein, dass Sie unversehens in den Brennpunkt dieser Auseinandersetzung geraten sind, und genauso sicher können Sie sein, dass sie im selben Atemzug mit Zufällen nur so bombardiert werden.«

Das Handy hörte auf zu summen. Jetzt erst warf der Mönch ihm einen Blick zu, als verhielte es sich ganz seinen Erwartungen gemäß; er nickte sogar kurz und senkte die Stimme. »Und wenn ein mächtiger Mann wie mein Onkel den Kampf mit ebenso mächtigen Männern wie den anderen Mitgliedern des Konsortiums aufnimmt, dann haben auch hier beide Seiten Gefolgsleute und Helfer – Anwälte, Spezialisten, Detektive –, auf deren eigene Zukunft Sieg oder Niederlage ihres Anführers selbstredend nicht ohne Auswirkungen bleiben. Sie tun daher alles, damit ihre Seite gewinnt, setzen jedes Mittel ein, das ihnen zur Verfügung steht, offen oder heimlich, aber immer möglichst unerwartet, erschreckend, Furcht einflößend – Zufall um Zufall wird herbeigeführt. Denn Zufälle erfüllen uns immer mit Angst – der Angst davor, dass wir umgeben sind von übernatürlichen Mächten, deren Taten und Fähigkeiten unsere kühnsten Fantasien übersteigen. Und genauso ist es ja auch, denn mein Onkel, das Konsortium, Sie, ich, wir alle sind es, um die es in der großen Schlacht zwischen Gott und dem Teufel geht. Unsere Seelen sind es.«

Das Handy begann erneut zu summen, und diesmal reagierte er sofort. »Oui.« Eine andere Art von Röte trat auf seine Stirn, gefolgt von einem Lächeln, das aber gleich wieder erlosch.

Er sah Ella an, dann nickte er. »Oui.« Er reichte ihr das Handy und sagte: »Er möchte mit Ihnen reden. Aber er bittet Sie, weder seinen noch Ihren Namen zu sagen, am besten überhaupt keinen, den irgendein Satellitencomputer erkennen und herausfiltern könnte.«

Sie nahm das Handy und sagte: »Hallo?«

»Hallo«, antwortete eine weiche Stimme, die weit weg und nicht ganz menschlich klang, als würde sie von einem Sprachprogramm hergestellt oder gehörte einer freundlich gesinnten außerirdischen Intelligenz. »I know who you are but not what you want.« Es gab keine Hintergrundgeräusche, keine brummenden Turbinen oder Düsen, nur die schwerelose Stimme aus dem All.

»Ich weiß auch, wer Sie sind«, sagte Ella, »weil ein Freund von Ihnen in Berlin mir alles über Sie erzählt hat. Und er hat mir einen Gegenstand übergeben, von dem es nur noch ein anderes Exemplar gibt, das, das Sie haben. Vor seinem Tod hat er mich gebeten, Sie darüber zu informieren, dass er seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen kann, verstehen Sie? Der Aufgabe, die Sie ihm zugedacht haben für den Fall, dass Ihnen etwas zustößt.«

»Ich habe von seinem Tod gehört.« Die Stimme klang völlig emotionslos. Er benutzt einen Sprachverzerrer, dachte Ella. »Hat er Ihnen gesagt, worum ich ihn gebeten hatte?«

»Ja.«

»Trauen Sie sich zu, diese Aufgabe zu übernehmen, falls der erwähnte Umstand eintritt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«, fragte die emotionslose Stimme nach einer kurzen überraschten Pause noch einmal.

Ella sagte: »Weil es unbedingt notwendig ist, dass Sie sich der Situation hier persönlich stellen. Hören Sie, es ist unbedingt notwendig, dass Sie Ihr Versteck verlassen und – «

»Warum?«, fiel die Stimme ihr ins Wort, jetzt nicht mehr ganz so weich.

»Weil die sonst Mado töten – Madeleine Schneider – «

»Keine Namen, bitte!«

Ella holte tief Luft. »Weil jemand, der Ihnen sehr viel bedeutet hat, sonst sterben muss.«

Diesmal war die Pause länger, und es klang, als würde der Stimmverzerrer nachjustiert, damit das Ergebnis menschlicher wirkte. »Die fragliche Person ist schon tot.«

»Nein. Sie ist in Paris. Sie wird von den Leuten von Roche… – von den Leuten! – in einer Ihrer Wohnungen gefangen gehalten. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen! Ich habe ihr damals in Berlin das Leben gerettet. Ich habe sie wiedererkannt.«

»Wenn das stimmt …«

»Es stimmt.«

»Wenn das wirklich stimmt, verändert es alles.« Eine noch längere Pause. »Wie kommt es, dass Sie die Person gesehen haben?«

»Sie haben mich entführt und zu ihr gebracht.« Sie wollen mich auch töten, wenn Sie nicht tun, was von Ihnen verlangt wird. »Sie wollten, dass ich es Ihnen erzähle, weil sie – sie dachten, mit mir würden Sie vielleicht reden.«

»Ich rede mit Ihnen.«

»Es geht um die Aktionärsversammlung Ihrer Bank am Freitag. Sie haben gesagt, sie wollen in jedem Fall vorher mit Ihnen sprechen. Sie sollen Kontakt mit ihnen aufnehmen, damit sie Sie von Ihrem Plan abbringen können.«

»Kann ich mich auf Sie verlassen?«, fragte die Stimme.

»Wobei?«

»Kann ich mich auf Sie verlassen?«

»Ja. Sie können sich auf mich verlassen. Allerdings …«

»Allerdings?«

»… wüsste ich gern, worum es überhaupt geht. Was war auf dem Stick? Was soll auf der Aktionärsversammlung – «

»Nicht am Telefon.«

Ella schwieg, und die nächste Pause dehnte sich so lange, dass sie schon dachte, die Verbindung wäre unterbrochen. Dann sagte die Stimme: »Ich möchte Sie kennenlernen. Sie haben lange durchgehalten. Halten Sie noch etwas länger durch, bitte. Haben Sie einen Wagen?«

»Nein.«

»Können Sie einen auftreiben?«

Ella sah Frère Rémy an und flüsterte: »Ein Wagen?« Der Mönch nickte eilig.

»Ich kann einen organisieren.«

»Gut, wir sprechen schon zu lange miteinander.« Die Stimme wurde schwächer, als entferne sie sich aus der Reichweite ihres Netzes. »Geben Sie mir eine Nummer, unter der ich Sie morgen Abend ab sieben Uhr erreichen kann. Ich bin nicht in Frankreich, aber ich werde einen Linienflug nehmen. Mit meiner Privatmaschine kann ich auf französischem Boden nicht unerkannt landen. Ich will auch nicht direkt nach Paris fliegen, dort gibt es zu viele Augen und Ohren. Ich werde Sie morgen Abend anrufen und Ihnen kurzfristig mitteilen, welche Maschine ich besteige und auf welchem Flugplatz in Ihrer Nähe sie landet. Da kommen Sie dann hin und holen mich ab. Geben Sie mir jetzt die Nummer.«

Ella gab ihm die Nummer ihres Handys, und danach sagte er: » Thank you. Good night.« Sie wartete, ob noch etwas nachfolgte, aber es kam nichts, und nach ein paar Sekunden sagte sie auch: »Good night«, und gab Frère Rémy das Handy zurück.

»Was hat er gesagt?«, wollte Lazares Neffe wissen.

»Er kommt.«

Sein Gesicht leuchtete auf, tatsächlich, sein ganzes Gesicht strahlte. »Das ist es – das ist das Wunder, auf das ich gewartet habe! Wollen Sie immer noch behaupten, es gäbe keinen Gott?«

»Ich hatte das Gefühl, er wäre so oder so gekommen«, sagte Ella. »Ich glaube, sein Entschluss stand schon vorher fest.«

»Und die Flut?«, fragte Frère Rémy.

»Was ist mit der Flut?«

Er breitete die Arme aus wie ein Magier, der vorführt, dass seine Hände nichts verbergen, was seinem überwätigendsten Zaubertrick als Erklärung dienen könnte. »Ist es für Sie auch nur ein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Nacht das Meer die Insel umgibt? Nur zweimal im Monat haben wir Flut, und Sie kommen genau zum richtigen Zeitpunkt, um Mont Saint-Michel unbemerkt wieder verlassen zu können. Ihre Verfolger können den Damm kontrollieren, und sie könnten Sie entdecken, wenn Sie bei Ebbe über das Watt zu entkommen versuchen. Aber das Meer – das Meer bei Nacht können Sie nicht abriegeln! Kommen Sie, Doktor Bach, das Boot wartet schon …«