Heute Abend ist alles vorbei. Heute Abend treffen wir Raymond Lazare, und dann liegt alles in seinen Händen. Er wird tun, was nötig ist. Nur noch eine halbe Nacht und ein Tag und ein Abend, und alles ist vorbei, für immer. Heute Abend.
Ella saß an der Strandböschung und sah über die Bucht und das jetzt allmählich zurückweichende Wasser auf den goldenen Glanz, den die angestrahlte Abtei, die Kirche und das Kloster auf dem Berg aus dem Nachthimmel schnitten. Sie versuchte das Fenster der Zelle zu erkennen, in der sie eben noch gewesen war, aber sie konnte es nicht mehr finden. Sie kauerte reglos in der Kälte, und nach und nach erschien ihr alles wie ein Traum, die Begegnung mit dem jungen Geistlichen, das Telefonat mit seinem Onkel und die Fahrt mit dem Schlauchboot durch die Dunkelheit, ohne Licht und mit leise gedrosseltem Außenbordmotor.
Sie saß mit angezogenen Beinen da, weil ihre Füße eisig und nass waren. Sie hatte die Arme um die Beine geschlungen, die Hände ineinandergeschoben und den Kopf auf die Knie gelegt. Sie zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Schüttelfrost. Sie dachte, wenn sie sich zusammenklappte wie ein Taschenmesser, wenn sie sich so klein wie möglich machte, fror sie vielleicht nicht so stark. Sie hörte den Wind im Strandhafer, und sie spürte ihn kalt am Nacken und unter ihrer Jacke.
Ganz am Ende der Bucht ragte in einigen Kilometern Entfernung ein viereckiger Leuchtturm auf, der in regelmäßigen Abständen weiße Blitze über das Meer und den Damm und die flachen Polder hinter ihr schickte. Das Leuchtfeuer erschien ihr jetzt tröstlicher als das Wunder aus Stein, das auf dem Felsenberg vor ihr aus dem Wasser wuchs.
Vor fast zwei Stunden war sie über die Schlauchwand des Zodiacs gestiegen und durch das seichte Wasser an Land gewatet, und als sie sich noch einmal umgedreht hatte, konnte sie das Boot schon nicht mehr sehen, nur sein Kielwasser, das in einem großen Bogen durch die Bucht führte, schimmernd wie Glaswolle. Da hatte der Anblick der Insel ihr den Atem verschlagen, und einen Moment lang dachte sie, ja, Frère Rémy hat recht, es ist wirklich leicht, »Wir sehen Gott, indem wir seine Schöpfung sehen, und wir erblicken den Teufel, indem wir erleben, wie seine Diener sie zu zerstören versuchen.«
Der Mönch hatte sie aus der Abtei durch den steil abfallenden Klostergarten auf der Nordseite der Insel hinunter geführt zu einem Streifen Brachland zwischen einer kleinen Kapelle und einem Brunnen. Mit flatternder Kutte und irrlichternder Taschenlampe war er flink wie eine Bergziege zwischen schroff aufragenden Granitbrocken und dichtem Dornengestrüpp vorangegangen zum Ufer, schweigend, ohne sie anzuschauen. Das Rauschen der Bäume am dunklen Hang war dem Zischen und Donnern der Brandung gewichen, und der geisternde Lichtstrahl der Taschenlampe in Frère Rémys Hand holte schwarzes Wasser und salpeterweißes Felsgestein aus der Finsternis. Dann hatte sich der runde Bug des Zodiac fast lautlos, aber heftig schwankend in den runden Flecken Helligkeit geschoben, gefolgt von den kräftigen Händen eines Fischers und einem bärtigen Gesicht, in dem die Augen gelblich glänzten.
»Gott sei mit Ihnen, Doktor Bach«, war alles gewesen, was der Mönch noch zu ihr gesagt hatte, bevor er dem Fischer mit der Lampe winkte und sie den heftig rollenden Wellen überließ.
An Land war sie dann in die Richtung gegangen, die der Fischer ihr gezeigt hatte. Kleine Krebse waren seitwärts aus dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe geflohen, und aus dem hohen Gras und den Stranddisteln hatten fahle Augen ihr seelenlose Blicke zugeworfen. Mit nassen Schuhen und einer flackernden Taschenlampe in der klammen Hand war sie über das Marschland gestapft, und eine Zeit lang hatte ihr auch der Scheinwerferstrahl des Leuchtturms geholfen.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie erkannte, dass sie sich verirrt hatte. Der Weg, von dem der Fischer gesprochen hatte, tauchte nicht auf, und vor ihr erstreckte sich nur farbloses, flaches Land ohne Orientierungspunkte. Einmal stieß sie an eine schwarze Hecke, der sie ein Stück weit folgte, bis sie merkte, dass sie sich zu weit vom Meer entfernte. Sie ging zurück, durch dasselbe eintönig graue Land und war wieder da, wo sie angefangen hatte. Kein Bauernhof, keine Scheune mit dem Renault Pritschenwagen, zu dem der Fischer ihr die Schlüssel gegeben hatte.
Die Batterie der Taschenlampe war ständig schwächer geworden. Nach einer weiteren halben Stunde hatte sie schließlich aufgegeben und sich an die Strandböschung gekauert. Das Wasser war immer weiter zurückgewichen, und das nasse Watt glitzerte im Mondschein. Der Scheinwerferstrahl des Leuchtturms kreiste wie ein bleicher Finger über der Bucht. Sie merkte, dass sie müde wurde. Schließlich holte sie ihr Handy heraus und drückte die Kurzwahltaste für Annikas Nummer. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis eine verschlafene Stimme sagte: »Ella?«
»Ja. Habe ich dich geweckt?«
»Wo bist du?«
»Irgendwo in der Gnade Gottes.«
»Was heißt das denn?«
»Ich war auf Mont Saint-Michel, aber ein Fischer hat mich mit einem Schlauchboot an Land gebracht, und jetzt bin ich hier am Ufer und warte darauf, dass es hell wird.«
»Hast du mit Lazare gesprochen?«
»Ja.«
»Was hat er gesagt?«
»Das erzähle ich dir, wenn ich dich abhole. Was ist mit Mado? Hast du etwas von Dany gehört?«
»Er hat vor ein paar Stunden angerufen, weil Mado nicht mehr in der Wohnung war. Sie haben sie woandershin gebracht, und er wusste nicht, wohin. Niemand von seinen Kontakten spricht mehr mit ihm.«
»Aber er sucht doch weiter?«, fragte Ella.
»Ja, er fürchtet nur, dass sie vielleicht nicht mehr lebt und dass du die Nächste sein könntest.«
Ella wurde elend zumute, und Annika merkte es und fragte schnell: »Wann kommst du?«
»Frère Rémy hat mir die Schlüssel zum Wagen eines Freundes gegeben«, sagte Ella, »aber ich muss warten, bis ich was sehen kann. Ich habe mich verirrt und sitze gerade mit kalten Füßen am Strand. Immerhin mit Blick auf Mont Saint-Michel bei Nacht.«
»Muss toll aussehen. An der Wand gegenüber von meinem Bett hängt ein Poster davon.« Ein Rascheln erklang, offenbar setzte Anni sich auf und knipste die Nachttischlampe an. »Denkst du, dass sie den Citroën beobachten?«
»Und ob. Außerdem könnten sie uns damit überall orten.«
»Sie werden mit allen Mitteln versuchen, uns zu finden, nicht?«
»Und ob.«
»Hast du Angst?«
»Dazu bin ich zu kaputt.«
Annika schwieg eine Sekunde. »Ich habe Angst«, gestand sie.
»Uns wird nichts passieren.«
»Woher weißt du das?«
»Gott ist auf unserer Seite«, sagte Ella ausdruckslos.
Annika sagte nichts, aber es hörte sich an, als schlucke sie.
»Ist auf deinem Poster auch ein Leuchtturm?«, fragte Ella.
»Nein. Nur die Insel.«
»Mit Leuchtturm ist es doppelt so schön.«
Einen Moment lang sagten beide nichts, und Ella hörte nur Annikas leises Atmen und das Flüstern des Wassers, das sich über das Watt zurückzog, und ein paar Sekunden lang war ihr nicht mehr kalt.
Dann sagte Annika: »Ich muss weiterschlafen. Gute Nacht, Leuchtturm.«
»Gute Nacht, Insel.«
Ella steckte das Handy ein. Sie dachte noch, dass sie wer weiß was darum gäbe, jetzt auch in einem warmen Bett zu liegen, als sie eine Stufe hinunterfiel, wo gar keine war. Sie fing sich mit einem Ruck, der fast schmerzhaft war, aber dann fiel sie wieder, und diesmal fing sie sich nicht. Sie träumte, sie läge zusammengekauert unter einer Düne am Strand, zitternd vor Kälte, und als sie aufwachte, zitterte sie immer noch, bloß dass sie auf der anderen Seite lag als im Traum, und es wurde gerade hell. Zwischen Disteln und Strandflieder glänzten im Watt silberne Tümpel, zurückgelassen von der Flut. Der Damm zur Insel lag leer im ersten Licht unter einem knochenweißen Himmel, und nach und nach erloschen die Scheinwerfer, die den Bauwerken auf dem Mont Saint-Michel ihren goldenen Glanz verliehen hatten.
Ella stand auf. Ihre Glieder waren starr, und eine Zeit lang fühlte sie ihre Füße und Hände nicht. Die nassen Kleider klebten an der Haut. In ihrer rechten Hosentasche spürte sie einen kalten Druck: die Schlüssel für den Renault. Zwei Kilometer die Küste hinauf, dachte sie; das schaffst du noch. Jetzt, bei Licht, konnte sie ihre eigenen Spuren im Sand sehen und stellte fest, dass sie nachts erst ein Stück weit den richtigen Weg eingeschlagen hatte, bevor sie der Hecke in die falsche Richtung gefolgt war.
Sie ging los. Ein Graureiher, der sie im Strandhafer stehend beobachtet hatte, stieg mit einem lang gezogenen Schrei auf und flog über das Watt davon. Sie kletterte die sanft ansteigende Böschung hinauf. Der Geruch nach Seetang und Salz war sehr stark. Unter ihren Schuhen knirschten kleine Muscheln. Oben angekommen, packte der kalte Wind sie so heftig, dass sie Schwierigkeiten hatte, zu atmen.
Die Farben der Küste – rostiges Braun, mattes Grüngelb, stählernes Blau – hatten die letzten Schleier der Nacht abgeworfen. Weit draußen war das Meer eine dünne silberne Linie. Über dem Horizont ballten sich schwarze Gewitterwolken, die nicht näher kamen. Davor hing das Morgenlicht wie ein blendender Gegenstand, weiß und dicht.
Ella schob die Hände in die Jackentaschen und wandte sich nach links. Ihre Schritte raschelten im hohen Gras. Sie folgte der Hecke in die andere Richtung und stieß auf den Weg, von dem der Fischer gesprochen hatte. Zwischen zwei niedrigen Mauern aus unbehauenen Steinen führte er von dem Leuchtturm weg zu einer Ansammlung niedriger Häuser. In der Ferne konnte sie die Dächer sehen, graue Schindeln und Stroh, das in der Feuchtigkeit schwarz geworden war. Keine Männer, keine Frauen, nur wei-ße Möwen in der Luft und das Bellen eines einzelnen Hundes.
Ella marschierte mit gesenktem Kopf, denn das scharfe Seelicht blendete sie, obwohl die Sonne gerade erst aufging. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Kälte versteinerte ihr Gesicht. Ihre Augen brannten. Dann entdeckte sie das Gehöft, das etwas abseits von den anderen Häusern stand, und es sah genauso aus, wie Frère Rémy es beschrieben hatte. Als sie nah genug war, konnte sie auch den ramponierten, burgunderfarbenen Renault Pick-up in der offenen Scheune sehen. Sie holte den Schlüssel aus der Tasche und hielt dabei Ausschau nach den Leuten, die den Hof bewohnten. Als sie die Scheune erreicht hatte, rief sie: »Hallo? Hallo?!« Kein Fenster ging auf, keine Tür öffnete sich.
Sie stieg in den unverschlossenen Wagen, startete den Motor und fuhr den Renault aus der Scheune. Sie hupte zweimal. Als sich noch immer niemand zeigte, steuerte sie den Pick-up vom Hof und über den Feldweg zur Straße nach Pontorson. Sie drehte Heizung und Gebläse ganz auf. Im Handschuhfach fand sie eine halbe Tafel Schokolade mit Nüssen, die sie heißhungrig verschlang, ohne sie ganz auszupacken oder einmal aus der Hand zu legen.
Scheppernd schaukelte der Renault über den feuchten Feldweg. Das Lenkrad bockte in Ellas Händen, und der Wagen rutschte immer wieder in den ausgefahrenen Furchen hin und her. Angestrengt starrte sie durch die schmutzige Windschutzscheibe, in der sich das Sonnenlicht brach. Als sie die befestigte Straße erreichte, trat sie das Gaspedal durch. Im Rückspiegel konnte sie noch eine Zeit lang den Mont Saint-Michel und das goldene Schwert des heiligen Michael auf der Spitze der Abteikirche blitzen sehen, doch dann verschwand es in den heranziehenden Gewitterwolken.
Die Septembersonne wirkte zu schwach, um es bis in den Zenit zu schaffen. Im Gegenlicht stießen Möwen aus dem Himmel herab auf den Schlick. Der kalte Wind rannte gegen den Wagen an, aber im Inneren spürte Ella jetzt nichts mehr davon. Sie blinzelte.
Sie holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer, die Dany ihr gegeben hatte, bevor er nach Paris zurückgefahren war. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie hoffte, dass er eine Mailbox hatte, auf die sie sprechen konnte. Sie hörte seine Stimme, die nur seinen Namen sagte, sonst nichts. »Dany?« Ein Pfeifton stach ihr ins Ohr. »Ella hier. Anni hat mir erzählt, dass du – ich wollte nur sagen, bitte, tu, was du kannst, um Mado zu finden – sie hat es verdient, zu leben – ich will nicht, dass die sie umbringen – oder mich – aber vor allem sie – « Mehr fiel ihr nicht ein, und mehr wollte sie auch nicht sagen. Sie unterbrach die Verbindung.
Sie fuhr einige Kilometer durch die flache Küstenlandschaft. Vom Meer trieb Nebel heran, der das Sonnenlicht aufsog. Wie feiner Goldstaub glühte er rings um den Wagen. Als sie die Häuser von Pontorson erreichte, änderte sich das Wetter wieder, und der Nebel löste sich auf, dafür kamen die schieferfarbenen Wolken näher. Sie schoben sich vor die Sonne, und ein paar Minuten später begann es zu regnen.
Der Regen wurde zu einem Wolkenbruch. Die Scheibenwischer des Renault kapitulierten vor den herabstürzenden Wassermassen, sodass Ella den Wagen kurz vor der Auberge Saint Michel an den Straßenrand lenkte und anhielt, um zu warten, bis das Unwetter vorüber war. Das Fenster auf der Fahrerseite des Renault schloss nicht richtig. Wasser lief über die Scheibe und dann an der Tür herunter. Ein vorbeirauschender Pilgerbus pflügte Gischt gegen die Karosserie des Wagens. Nach fünf Minuten ließ das Unwetter nach, und die Scheibenwischer eroberten sich einen Teil der Frontscheibe zurück. Mit dem Jackenärmel wischte Ella die beschlagene Innenseite über dem Lenkrad frei.
Annika stand auf der Treppe vor dem Hotel, gehüllt in den ersten blassen Sonnenstrahl nach dem Regen. Sie winkte. Ihr lächelnder Mund war rot wie frisch ausgespuckte Lava.