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Es war 20:47, und Ella wusste, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten. »Wir kommen zu spät«, sagte sie. »Wir verpassen ihn!« Sie steuerte den Pick-up von der Zubringerstraße auf den Besucherparkplatz und suchte eine Lücke zwischen den abgestellten Fahrzeugen.

Der Anruf war kurz nach 19 Uhr gekommen, und Ella hatte sich sofort gemeldet, denn sie saß bereits hinter dem Steuer, und das Handy lag griffbereit in ihrem Schoß. »St. Jacques Aeroport Rennes«, hatte Raymond Lazare gesagt, jetzt ohne jede mechanische Verzerrung. »Der Iberia-Flug aus Madrid um 20:45. Falls wir uns am Gate verfehlen, treffen wir uns beim Eingang zur Flughafenambulanz.«

»Wie erkenne ich Sie?«, hatte Ella sich erkundigt. »Sehen Sie noch so aus wie auf den Fotos?«

»Nein. Ich – « Lazare hatte einen Moment geschwiegen, als koste es ihn Überwindung, eine Beschreibung von sich zu geben. »Ich trage einen beigen Anzug, einen roten Schal, eine rote Baseballkappe und hellbraune Reeboks.«

»Ich komme nicht allein«, hatte Ella gesagt. »Ich habe eine Freundin bei mir.«

»Vertrauen Sie ihr?«

»Absolut.«

»Beschreiben Sie sie.«

Ella hatte Annika beschrieben, und dann war sie losgefahren, auf der Route Nationale 175 nach Rennes. Unterwegs hatten sie noch einmal versucht, Dany anzurufen. »Was Neues, eine Frauenstimme«, hatte Annika erklärt, während sie zuhörte. »Jetzt kann man nicht mal mehr eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht hat er aus irgendeinem Grund das Handy gewechselt. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich mache mir aber Sorgen«, hatte Ella gesagt und gedacht, was mache ich, wenn er nicht anruft oder wenn er Mado nicht rechtzeitig findet? Was mache ich dann?

Eine knappe Stunde Fahrzeit später standen sie im Stau. Kurz vor der Abfahrt zum Flugplatz hatte es auf dem Ring einen Unfall gegeben, und die Straße war in beide Richtungen gesperrt, Schlangen wartender Fahrzeuge, Polizei, Feuerwehr, Notarzt, die reine Poesie! Annika hatte neben ihr gesessen, blass und angespannt. Einige Minuten lang hatten sie auf die Männer gestarrt, die sich in dem Geflacker blauer und roter Blitze um die Unfallopfer zu kümmern schienen. »Vielleicht ist das gar kein Unfall«, hatte sie gesagt.

»Was soll es denn sonst sein?«

»Eine Straßensperre. Du wirst doch gesucht, oder nicht? Und bestimmt haben die ihre Leute auch bei der französischen Polizei.«

Paranoia, hatte Ella gedacht, und sie dachte es noch immer, als sie den Renault jetzt in eine Parklücke manövrierte. Trotzdem hatte sie das Steuer scharf eingeschlagen und Gas gegeben, um von der Fahrbahn die Böschung hinunterzuholpern. Dann hatte sie den Renault mit Vollgas über die Wiese neben der Straße gesteuert, bloß dass sie noch immer spät dran war, denn jetzt zeigte die Uhr am Armaturenbrett 20:51. Sie sprangen aus dem Fahrerhaus und rannten auf die hell erleuchteten Betonflügel des Flughafengebäudes zu.

Vor dem Ausgang der großzügig verglasten Halle bestieg ein Pilgertrupp einen klimatisierten Überlandbus mit der Aufschrift Sacred Tours, der bei laufendem Motor wartete, um sie nach Mont-Saint-Michel zu bringen. Es waren fast ausschließlich Amerikaner und ein paar Japaner – erschöpfte Männer und Frauen in ausgebeulten Jeans, mit Golfhüten, Windjacken, karierten Hemden oder Sweatshirts. Einige trugen Baseballkappen mit der Aufschrift Saint-Michael. Fast jeder hatte einen Fotoapparat oder eine Videokamera umgehängt. Ein paar stützten sich auf Gehstöcke oder Krücken, aber alle schleppten Rucksäcke, Sporttaschen oder mit Dutzenden von Aufklebern verzierte Plastikkoffer zum Kofferraum des Busses. Ein junger Reiseführer stand mit einem zusammengerollten Banner neben der Tür und half den älteren Pilgern in den Bus.

»Pardon!« Ella drängte sich durch den Pulk zur Eingangstür, zog Annika hinter sich her. Sie stürzte in die Halle, und ihr Blick flog hoch zur elektronischen Tafel oben an der Wand hinter dem Eingang. Der Iberia-Flug aus Madrid war für 21:05 angekündigt. »Verspätung!«, rief Ella erleichtert.

Sie liefen durch die Eingangshalle zum Ankunftsgate. Ella suchte einen Platz am Aussichtsfenster, von dem aus sie die Start- und Landebahnen im Auge behalten konnten. Bis auf die Scheinwerfer der Düsenjets und die Rollfeldbeleuchtung lag die Piste in nächtlicher Dunkelheit. In der Fensterscheibe spiegelte sich die nur schwach belebte Halle. Im Licht der hoch oben an der Decke angebrachten Lampen wirkten alle ein wenig kränklich, die wartenden Fluggäste, das hin und her eilende Flughafenpersonal, die Verkäuferinnen im Duty-Free-Shop die mit verkniffenen Mienen herumstehenden Flics, die ankommenden Passagiere und die Freunde und Verwandten, die sie abholen wollten.

Eine harte weibliche Stimme verbreitete über die knisternde Lautsprecheranlage Informationen, die Ella nicht verstand, weder auf Französisch noch auf Englisch. Sie versuchte, etwas herauszuhören, einen Namen, einen Ort.

»Frage«, sagte Annika. »Was machen wir, wenn wir Lazare nicht erkennen, trotz seiner Beschreibung? Ihn über Lautsprecher ausrufen lassen? Passenger Lazare, arrived with Iberia Flight 123 from Madrid, please come to the information desk immediately. Passenger Raymond Lazare from Madrid …«

»Quite funny«, sagte Ella. »Er hat gesagt, dass wir uns in so einem Fall am Eingang der Ambulanz treffen, da wäre nie etwas los.« Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr, von dort zur Flughafenuhr an der Decke und hinaus aufs Rollfeld, in den nachtblauen Himmel über dem erleuchteten Tower. Ganz weit oben glaubte sie, vereinzelte Sterne erkennen zu können. Annika ging mit ihrem Gesicht so dicht an die Scheibe, als wäre sie ein Schminkspiegel. »Sieh uns an«, sagte sie. »Ein ganzer Tag im Hotel mit Baden, Haarewaschen und Schminken verbracht, und wir sehen immer noch aus wie Thelma und Louise kurz vor ihrem Absprung in den Grand Canyon.«

»Es war kein sehr gutes Hotel«, sagte Ella.

Dann endlich sank weit hinten über der Ebene eine zweistrahlige Boeing 737 aus dem Abendhimmel und schwebte auf die beleuchtete Landebahn zu. »Ist sie das?«, fragte Annika. »Ist das der Flug aus Madrid?«

»Müsste er sein«, sagte Ella. Sie ging an der Glasfront entlang bis zum Ende der Halle, wo sie die Passagiere ankommen sehen konnte, wenn sie die Maschine verließen. Roter Wollschal, rote Baseballkappe, beiger Anzug.

Eine weitere Schar Pilger marschierte durch die Halle wie die Nachhut einer geschlagenen Armee. Ein junger Mann in Jeans und einer braunen Lederjacke kreuzte ihren Weg, ohne sie zu beachten. Sein Gang ähnelte dem eines Soldaten auf dem Kasernenhof. Aber für einen Soldaten hatte er zu lange Haare, schwarz und lang wie ein Indianer auf einem Gemälde mit einem Motiv aus dem Wilden Westen. Seine Haut war dunkel, glänzend.

Seine Augen flogen unruhig hierhin und dorthin, als hörte er von überallher die Schritte unsichtbarer Feinde – Jägeraugen, grün wie Flaschenglas und von fiebriger, leuchtender Intensität. Aber in seinem maskenhaft starren Gesicht lag keinerlei Gefühl, weder Angst noch Zorn, nichts Lebendiges. Ein Mensch, der dazu da war, andere Menschen zu töten, nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl, auf ein Kopfnicken, ein Fingerschnippen.

»Hast du den gerade gesehen?«, fragte Annika. »Ich habe auf einmal so ein komisches Gefühl.« Sie blinzelte. »Riechst du das auch? Diesen süßen Bohnerwachsgeruch?« Es kam ihr vor, als hätte das Licht sich verändert. Es war heller da, wo sie stand, hell und fast flirrend, dafür sammelte sich in den Ecken der Halle die Dunkelheit.

Das Rollfeld glänzte silbrig, als die Scheinwerferkegel des landenden Jets der Iberia auf den Beton fielen. Der Lärm der Düsen legte sich Ella wie eine Klammer um die Brust. Die Lampen zu beiden Seiten der Landebahn verblassten vor der Boeing, aber da, wo die mächtigen Gummireifen des Fahrwerks die Piste berührten, leuchtete der aufgewirbelte Staub. Die Bremsklappen kippten nach unten. Der Umkehrschub der Turbinen ließ die Luft flimmern. Das Bodenpersonal klettert auf die Wartungsfahrzeuge; ein Schlepper zog die Gangway zur Parkposition des Flugzeugs.

Bohnerwachs mit Erdbeeraroma, dachte Annika, aber es war gar kein Geruch, es lag auf ihrer Zunge; ein Geschmack, viel zu süß für Erdbeeren. Der rosarote Nebel breitete sich aus, wurde immer dichter. Er war schon bei Ella, kroch um sie herum.

»Was hast du denn?«, fragte Ella.

»Siehst du den Mann da?«, fragte Annika.

Der Mann trug einen grauen Gabardineanzug und wartete an der hydraulischen Schiebetür, durch die Passagiere die Halle betreten mussten. Er stand mit dem Rücken zu ihr, sodass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Eben war er noch nicht in der Halle gewesen, und sie hatten ihn nicht kommen sehen. Er stand ganz ruhig, wie ein Jagdhund, der auf den Befehl zum Apportieren wartete. In seinem rechten Ohr steckte ein Knopf, von dem ein dünnes Kabel seinen Hals hinunterführte und im Kragen verschwand.

Sie sind hier, dachte Ella; ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, aber sie sind hier. Sie ließ den Mann nicht aus den Augen. Zeig mir dein Gesicht. Bitte, dreh dich um und lass mich dein Gesicht sehen.

Er bewegte sich, als hätte er ihre Gedanken gehört, wandte den Kopf jedoch nicht.

Kennen Sie das Märchen vom Hasen und dem Igel? Geben Sie sich keine Mühe, zu rennen. Wir sind immer schon da. Und wenn wir nicht da sind, wissen wir, wo Sie sind.

Sie holte ihr Handy heraus und tippte die Mobilnummer ein, die der Bankier ihr vor zwei Stunden gegeben hatte. Das Freizeichen ertönte – einmal, zweimal, dreimal, viermal. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Das Klingeln ging weiter – fünfmal, sechsmal, siebenmal. Niemand meldete sich. In Gedanken hatte sie schon Lazares leise Stimme gehört: Hallo, ja, wir sind gerade gelandet. In einer Viertelstunde ist alles vorbei.

Annika beobachtete abwechselnd Ella und die Männer in der Halle. Es schienen immer mehr zu werden. Gleichzeitig kam es ihr vor, als ziehe sich der riesige Raum langsam um sie zusammen, die Pilger, das lustlose Flughafenpersonal, die Sicherheitskräfte. Der flirrende rosa Nebel kroch über den Hallenboden wie Gas. Ein Gewicht lag auf ihrem Magen, doch dort blieb es nicht, es stieg in ihrer Brust nach oben und drückte auf die Lunge, als bekäme sie zu wenig Luft. Sie spürte, wie ihr Herz sich gegen den Druck auf die Lungen wehrte; es begann zu rasen. Du darfst dich nicht aufregen. Beruhige dich.

Ella hörte nur das Freizeichen – achtmal, neunmal, zehnmal. Geh dran, mach schon, ihr seid doch gelandet, ihr müsst doch bald aussteigen. Aber die Leitung blieb frei. Da, endlich ein Knacken. »Monsieur Lazare!?«, rief sie, doch sie hörte nur eine Frauenstimme, die sagte: »The person you’ve been calling is temporarily not available«, und Ella unterbrach die Verbindung.

»Was ist los?«, fragte Annika. Sie fummelte ihre Tabletten aus der Jackentasche. Sie schüttelte zwei aus dem Döschen auf ihren Handteller, warf sie in den Mund.

»Lazare meldet sich nicht«, sagte Ella. Niemand meldet sich mehr. Ihre Hand schmerzte, so heftig hatte sie das Handy umklammert. »Siehst du den Mann da an der Passagierschleuse? Ich glaube, das ist einer von ihnen. Und der da hinten in der Halle auch.« Sie deutete auf die Scheibe, dorthin, wo sie die Reflexion des Mannes mit den Indianerhaaren zuletzt gesehen hatte.

Ella wirkte fremd und etwas verzerrt, sie schien sich vor- und zurückzuneigen, obwohl sie aufrecht stehen blieb. Sie schaute gleichzeitig auf die Rollbahn hinaus und in die Halle und auf ihr Handy, und wenn sie sich bewegte, konnte Annika die Schleifspuren der Bewegungen im Licht sehen, Millimeter für Millimeter. Ellas Stimme dröhnte in ihren Ohren, aber im nächsten Augenblick konnte sie ihre Worte kaum verstehen. Plötzlich wurde ihr schlecht, die Beklemmung in ihrer Brust war jetzt so heftig, als müsste sie sich gleich übergeben. »Ich sehe noch mehr«, sagte sie.

Der Mann mit den Indianerhaaren war zwischen den Pilgern verschwunden. Dafür entdeckte Annika jemand anderen, am Durchgang zu den Gepäckbändern: eine Gestalt, die zu ihr herüberstarrte, einen großen rosa Fleck im Gesicht. Sie stieß Ella an. Ella starrte weiter in die Scheibe, in der sie die Gestalt auch sah, und dachte, sie müssen unser Telefonat abgehört haben. Aber dann wissen sie auch, dass du da bist, um Lazare abzuholen. Sie wissen es, und trotzdem haben sie nichts unternommen.

Noch einmal dachte sie: Sie wissen, dass du da bist, und sie haben nichts unternommen.

Draußen dockte die Gangway an der Ausstiegsluke des Jets an. Der Rumpf der Maschine glänzte im Licht der Rollfeldbeleuchtung. Die Tür wurde zur Seite geschoben, und eine Flugbegleiterin streckte den Kopf heraus. An den abgerundeten Fenstern zeigten sich die Köpfe der Passagiere.

Annika war leicht schwindlig, und es schien, als wäre der Boden der Halle nicht ganz gerade. Sie rang um Luft. Der Druck hatte ihre Lunge erfasst und presste nun auch ihren Schädel zusammen, schien ihn zu verformen. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund, um den Druck loszuwerden. Die Tabletten wirkten nicht; warum wirkten sie ausgerechnet jetzt nicht?

Ella starrte auf die Luke, wartete auf den Mann mit dem roten Schal und der roten Baseballkappe. Die Wartungsfahrzeuge und der Gepäckwagen fuhren in einem großen Bogen um den geparkten Jet herum.

Erneut wählte Ella Lazares Nummer. Sie stellte sich vor, wie sein Handy an seiner Brust summte oder vibrierte, da brach das Freizeichen ab, und die Frauenstimme meldete sich: »The person you’ve been calling is temporarily – «

»Scheiße!« Ella stieß das Handy in die Jackentasche zurück. »Anni, wenn ich ihn nicht ans Handy kriege, muss ich raus aufs Rollfeld, um ihn zu warnen, bevor er das Gebäude betritt.«

»Ja«, sagte Annika, »natürlich«, obwohl sie nichts verstanden hatte. Sie hörte Ella reden, und in dem dichten rosaroten Nebel sah sie die Worte sogar aus ihrem Mund kommen, verschwommen, unverständlich: Sie flatterten in dem flirrenden Lichtschein, bis sie zu glühen schienen. Dann flogen sie zu all den gefährlichen Männern, die in der Halle standen und gingen, und dabei flackerten sie wie Dutzende kleiner roter Flämmchen, und im nächsten Moment flackerten auch die Männer, zusammengesetzt aus tausend funkelnden Punkten und Pixeln.

»Ist dir nicht gut?«, fragte Ella noch einmal.

»Nein, ich glaube, ich muss mich hinlegen«, antwortete Annika und ging davon, ohne sich umzusehen. Sie steuerte den Gang zur Toilette an, lief mitten in den nächsten Wallfahrerpulk hinein, wo Ella sie aus den Augen verlor.

Die Wallfahrer strömten dem Ausgang zu, während eine andere Reisegruppe gerade durch den Eingang tröpfelte. Ein Geistlicher und zwei Flugbegleiterinnen eskortierten die Gruppe zu einer links neben dem Ausgang gelegenen Ecke, an der ein Schild mit der Aufschrift Sacred Tours aufgestellt worden war. Einer der Männer stimmte ein Lied an: Yes, Jesus loves me, the Bible told me so. Müde fielen die anderen ein, schienen aber mit jeder Silbe wieder aufzuleben und mit fröhlichem Mut in die Zukunft zu schreiten.

Der Mann in dem grauen Gabardineanzug lenkte Ella ab. Er bewegte sich abrupt, wandte kurz den Kopf. Sie konnte ihn nur im Profil sehen, aber sie erkannte ihn sofort wieder. Er war auch auf Mont Saint-Michel gewesen, einer der Männer auf der Grande Rue. Sein Gesicht hatte sie im Dunkeln kaum richtig gesehen, doch das tote Auge ließ keinen Zweifel zu: Wie gestern Abend blickte es sie mit einem fahlen, perlmuttartigen Schimmer an wie das einer gekochten Forelle.

Sie wandte rasch den Kopf, schaute wieder nach draußen aufs Rollfeld und gleichzeitig auf die in der Scheibe gespiegelte Halle. Die Wallfahrer bildeten einen Pulk, in dessen Mitte Annika verschwunden war. Auf dem Tower waren zwei weitere Männer in Position gegangen. Sie standen an der Fensterfront, kleine schwarze Silhouetten, und beobachteten die Luken des geparkten Jets. Einer von ihnen sprach offenbar in ein Walkie-Talkie, der andere führte ein Fernglas an die Augen.

Was ist da los?, dachte Ella. Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, wurde plötzlich übermächtig. Es ist alles umsonst, dachte sie, du wirst hier nicht mit heiler Haut herauskommen, du nicht und Anni auch nicht.

Aber dann wusste sie plötzlich, dass es gar nicht mehr um sie ging; es ging auch nicht mehr nur um Anni oder Mado, nicht einmal um Lazare. Es ging schon immer um einen höheren Einsatz. Sie hatte geglaubt, sie könnte entscheiden, aber die Entscheidungen waren ihr längst aus der Hand genommen worden.

Und trotzdem musste sie es versuchen. Sie bewegte sich zu der Passagierschleuse, dorthin, wo der Mann mit dem wie blind wirkenden Forellenauge gestanden hatte, und glitt langsam an der Glasfront entlang zu der hydraulischen Tür. »Pardon, Madame, excusez-moi!«, rief ein Mann in der Uniform der Flughafensicherheit. »Madame, où vous allez?! Madame – Madame – C’est interdit!«

Ella ging weiter, als hätte sie nicht verstanden, den Kopf leicht gesenkt. Nicht stehenbleiben, sagte sie sich; nichts Böses hören, nichts Böses sehen, nichts Böses sprechen. Sie erreichte die Schleuse. Noch immer verließen die Passagiere das Flugzeug nicht, obwohl die Gangway bereits angedockt hatte.

»Madame? Pardon, Madame! Can you understand me, madam? Stop!«, rief der Sicherheitsmann. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei Ella und ergriff ihren Arm, um sie festzuhalten. »Madame?!«

Plötzlich entstand Unruhe in der Halle hinter ihnen. Die Pilger wichen auseinander und gaben den Blick auf Annika frei. Ihre Schultern schienen sich zu heben und zu senken, und ein Schütteln durchlief ihren ganzen Körper. Ihr Kopf ruckte nach hinten, das Haar flog ihr um ihren Hals, und als der Kopf wieder nach vorn zuckte, war ihr Gesicht so fremd wie das einer Wildkatze. Ihre Sehnen waren angespannt und hart. Dünner Schaum trat ihr auf die Lippen, während sie vor sich ins Leere starrte, ganz auf eine ungeheure Kraftanstrengung konzentriert – die Anstrengung, den Boden festzuhalten, auf dem sie stand.

Ella riss sich los. »Anni!«

Annika hörte ihren Namen, aber sie war zu glücklich, um zu schauen, wer nach ihr rief. Sie stand inmitten der um sie wirbelnden Pilger, und auf einmal wurde sie in einen grellen Blitz getaucht, der von nirgendwoher kam. Er war so hell, dass er sie blendete. Der Druck auf ihren Kopf und ihre Brust löste sich jäh in nichts auf, und ihrer Kehle entrang sich ein Schrei herrlicher Erleichterung, als würde ihre Lunge in Fetzen gerissen. Ihr Körper bäumte sich in einem Krampf auf, der sie von den Füßen zu reißen schien. Sie wurde gegen den Boden geschleudert und schlug mit dem Kopf auf den Marmor, und das Licht erlosch.

Ella rannte. Sie rannte quer durch die Halle, und als sie Annika erreichte, durchsuchte sie hastig die Taschen der schwarzen Lederjacke nach ihren Medikamenten. Ein trockener, heißer Geruch stieg von Annika auf wie von Feuerstein in der Sonne. In der linken Jackentasche entdeckte Ella ein Plastikdöschen mit einem Antiepileptikum in Tablettenform und ein kleines Fläschchen mit einem Antikonvulsivum. Sie kauerte sich neben Annika, bettete ihren Kopf auf ihre Schenkel und schob zwei Finger in Annis Mund, um die Zunge aus dem Rachen zu ziehen. Sie schraubte das Fläschchen auf, hielt den Mund mit der einen Hand geöffnet und träufelte mit der anderen einige Tropfen in Annis rechte Wangentasche. Dann wischte sie ihr das Kinn ab.

Die Pilger standen schweigend um sie herum. »Sanitäter!«, rief Ella. » Call a doctor, please! Un médecin!«

Sie hörte, wie die Triebwerke des geparkten Jets ausgeschaltet wurden und versuchte, zwischen den Pilgern hindurch einen Blick aufs Rollfeld zu erhaschen. Sie sah wie die ersten Passagiere das Flugzeug verließen und die Gangway herunterkamen, wo der Shuttlebus auf sie wartete. Zwei Männer in dunklen Anzügen mit Aktenkoffern machten den Anfang, der erste trug einen Trenchcoat über dem Arm und presste bereits sein Handy gegen das Ohr.

Annikas Lider flatterten, ihr Kopf bewegte sich auf Ellas Schenkeln. Sie öffnete die Augen. Ihr Gesicht hatte einen erschöpften, müden Ausdruck, als wäre sie sehr weit weg gewesen, ohne zu wissen, wie sie dorthin und wieder zurückgekommen war. »Wo bin ich?«, fragte sie.

Zwei Sanitäter mit einer Trage standen plötzlich neben Ella. Sie stellten die Trage ab und fragten etwas auf Französisch, das sie nicht verstand. »Épilepsie«, sagte sie aufs Geratewohl. »Elle est malade – «

»Ah, je comprends«, sagte der Sanitäter.

Annikas Blick wanderte von Ella zu dem jungen Mann. »Je suis fatigué«, murmelte sie.

»Kann ich dich allein lassen?«, fragte Ella.

»Natürlich«, flüsterte Annika, »hau schon ab.«

Ella sprang auf und hastete zu der Personenschleuse zurück, an der sie von dem Sicherheitsmann aufgehalten worden war. Gerade betrat ein Flughafenangestellter die Schleuse. Der Sicherheitsmann achtete jetzt nicht mehr auf Ella, sondern blickte neugierig zu Annika und den Sanitätern hinüber. Ella wartete, bis der Flughafenangestellte die Schleuse verlassen hatte, dann schlüpfte sie nach draußen aufs Rollfeld, bevor die Tür sich wieder schloss. Der Nachtwind war kühl und scharf.

In kleinen Trauben tröpfelten die letzten Passagiere des Iberia-Flugs die Gangway hinunter. Als Ella schon dachte, sie hätte Lazare verpasst, sah sie ihn: Ein bärtiger Mann in einem hellen Anzug verließ das Flugzeug, auf dem Kopf eine rote Baseballkappe. Er blieb ein paar Sekunden oben auf der Treppe stehen, bevor er sich daranmachte, die Stufen herunterzusteigen.

Ella warf einen Blick hinauf zum Tower. Einer der Männer auf der erleuchteten Plattform beobachtete die Gangway mit dem Feldstecher, der andere war nicht mehr zu sehen. Mit schnellen Schritten ging sie hinaus auf die Betonpiste, um Lazare abzufangen, bevor er in den Shuttlebus stieg.

Im selben Moment tauchte eine Frau im roten Overall des Wartungspersonals aus dem Schatten unter dem Heck der Boeing im grellen Scheinwerferlicht auf und näherte sich ebenfalls der Gangway. Die Frau war schlank und trug das kastanienfarbene Haar, genau wie Ella, kurz, aus der Stirn und über die Ohren zurückgekämmt. Sie schien auch nicht viel älter zu sein, entsprach ihr sogar in der Größe.

Ella dachte noch, komisch, irgendwie kommt sie dir bekannt vor, da griff die Frau in die Seitentasche ihres roten Overalls und zog etwas heraus, das wie ein Trommelrevolver aussah. Ehe einer der Umstehenden reagieren konnte, feuerte sie schnell hintereinander drei Kugeln auf Brust und Bauch des Bankiers ab.

Eine Sekunde lang begriff Ella nicht, was geschehen war, denn der Wind verwehte das Geräusch der Schüsse. Sie sah nur wie Lazare zu stolpern schien, bevor er zusammenbrach und die letzten Stufen der Gangway hinunterstürzte, wo er reglos liegen blieb. Die halb verrutschte Sonnenbrille spiegelte das Licht der Scheinwerfer, sodass es aussah, als schlüge Feuer aus seinen Augen.

Die Frau in dem roten Overall schoss noch viermal zwischen die übrigen Passagiere und das Bodenpersonal, bevor sie wieder unter dem Heck der Düsenmaschine verschwand, und endlich begriff Ella, begriff auf einmal, warum ihr die Frau bekannt vorgekommen war, sie sieht aus wie ich, wie eine Doppelgängerin von mir. Gleich darauf schlingerte ein Geländewagen mit dem Firmenemblem der Air France hinter dem Jet hervor und über das Rollfeld davon, und niemand hielt ihn auf.

Die Passagiere stürzten in Panik auseinander; einige warfen sich zu Boden und begruben ihre Köpfe unter den Armen. Am anderen Ende der Landebahn raste der Geländewagen auf den Drahtzaun zu, der das Airportgelände vom Parkplatz trennte.

Lazare lag in einer Blutlache am Fuß der Gangway. Sein linkes Bein zitterte. Er drehte den Kopf hin und her, und die Gläser der Sonnenbrille blinkten und erloschen, blinkten und erloschen, und dann blinkten sie nicht mehr. Das Bein hörte auf zu zucken.

Als keine Schüsse mehr fielen, richteten sich die ersten der Liegenden wieder auf und sammelten sich um den reglosen Bankier. Ein weiterer Mann trat aus dem Flugzeug auf die Gangway und stieg schnell die Stufen hinunter. Er trug weiße Turnschuhe, eine löchrige Jeans und einen schäbigen, vorne offenen Parka mit einem kleinen aufgenähten Union Jack. Ein kastanienroter Lederhut mit breiter Krempe überschattete sein Gesicht, das mit einem dunklen Hippie-Schnurrbart prunkte. Er zwängte sich an dem Pulk aus Fluggästen und Bodenpersonal vorbei und ging über das Rollfeld davon, eine British-Airways-Tasche über die Schulter geworfen.

Einer der Passagiere war neben Lazare niedergekniet und presste eine Hand gegen den Hals das Bankiers, um seinen Puls zu fühlen. Da erst wurde Ella klar, was gerade geschehen war: Jemand hatte ihn getötet, vor ihren Augen. Es war Lazare, der erschossen am Fuß der Gangway lag, aber sein Tod bedeutete auch ihren eigenen, weil es nun niemanden mehr gab, der die Mörder aufhalten konnte; jetzt mussten sie nur noch aufräumen, die letzten Mitwisser beseitigen. Sie stand in dem kalten Wind, der von Norden aus der Ebene wehte, während ihr immer mehr Pilger den Blick auf den Toten nahmen.

Am Ende des Rollfelds hatte der Geländewagen den Drahtzaun fast erreicht. Plötzlich schien er zum Sprung anzusetzen, schoss durch die Luft und durchbrach den Zaun, zerfetzte den Draht wie ein Spinnwebnetz. Die rot flackernden Bremslichter waren noch ein paar Sekunden zwischen den anderen Autos zu sehen, verschwanden dann aber in der Dunkelheit hinter dem Parkplatz.

Die Kugel traf Ella, bevor sie den Schuss hörte. Es klang wie ein Knallfrosch, den jemand auf den Beton geworfen hatte, gefolgt von einer ganzen Reihe knallender Kracher, und erst, als sie einen Stoß an der rechten Hüfte verspürte, begriff sie, dass es sich um Schüsse handelte. Es war nur ein Stoß, kein Schmerz, nicht heftiger, als hätte jemand sie versehentlich mit dem Ellbogen angerempelt. Sie sah an sich hinunter und entdeckte einen kleinen Riss in der Jacke. Noch immer verspürte sie keinen Schmerz, nur ein sengendes, taubes Gefühl da, wo sie getroffen worden war.

Hinter ihr erklang eine Sirene. Blaue Blitze huschten über den Beton. Aus Richtung der Flughafenambulanz näherte sich ein weißer Citroën ID 19 Break mit dem blauen Kreuz des Krankenwagens über der Windschutzscheibe. Der Wagen fuhr langsam, als wäre der Fahrer unsicher. Die Scheibenwischer schlugen hin und her, obwohl es nicht regnete. Die Scheinwerfer wechselten von Fernlicht zu Abblendlicht und wieder zurück, bevor sie ganz erloschen. Dann gingen sie doch wieder an, begleitet von lautem Hupen, als der Fahrer krachend den Gang wechselte.

Metall kreischte, der Fahrer schaltete runter und wieder rauf, und diesmal gehorchte das Getriebe. Der Citroën machte einen Satz, beschleunigte und wurde immer schneller. Annika streckte den Kopf aus dem Fenster und winkte mit einer Hand, während sie mit der anderen weiter das Lenkrad hielt. »Spring rein, Bambi!«, rief Annika.

Geduckt rannte Ella dem Krankenwagen entgegen. Jetzt spürte sie den Schmerz, ein Reißen und etwas Warmes, das ihre Hüfte hinunterrann. Als sie auf gleicher Höhe waren, bremste Annika so heftig, dass die Reifen rauchten. Ella sprang auf den Beifahrersitz, und sofort trat Annika das Gaspedal wieder voll durch. Ella wurde zurückgeschleudert. Annika riss das Lenkrad herum und steuerte den Citroën über die Piste, ohne vom Gas zu gehen. Ihre Augen funkelten. »Seit Jahren bin ich nicht mehr gefahren!«, rief sie. »Ich habe ganz vergessen, wie das ist! Mich kriegt keiner mehr vom Steuer weg, und wenn ich halb Frankreich ausrotte!«

Mit leicht vorgeneigtem Kopf und halb offenem Mund raste sie auf das Loch im Zaun zu. Dabei drückte sie ununterbrochen auf die Hupe, als verursachte die Sirene unter der Motorhaube nicht Lärm genug. »Achtung! Festhalten!« An das Lenkrad geklammert, jagte sie den Rettungswagen auf das Loch zu, das der Geländewagen gerissen hatte. Das Maschengeflecht flog ihm im Licht der Scheinwerferkegel entgegen. Hell schimmernde Drahtflügel schlugen gegen die Karosserie und die Fenster, aber der aufheulende Motor und die Sirene übertönten jedes andere Geräusch. Dann öffnete sich die Ebene vor den Scheinwerfern, deren Licht sich im Nichts zu verlieren schien. Einen Herzschlag lang und noch einen und auch den nächsten starrte Ella in dieses Nichts, während ein brennender Schmerz ihre Hüfte durchzuckte.

Abrupt trat Annika auf die Bremse und würgte den Motor ab. Mit einem Ruck blieb der Citroën stehen, nur ein paar Meter von dem Renault Pick-up entfernt. »Na, wie war ich?«, fragte sie mit erhitztem Gesicht. »Auf der Autobahn darfst du wieder. Außerdem muss ich dir noch unseren Patienten vorstellen.«

Ella hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Erst jetzt bemerkte sie die Gestalt auf der Trage im rückwärtigen Teil des Ambulanzwagens. Die Gestalt richtete sich auf, und als Annika kurz die Innenbeleuchtung einschaltete, erkannte Ella den Mann mit dem Lederhut, dem Hippie-Schnurrbart und dem Union Jack auf dem Parka. Der Mann nahm den Hut ab und sagte: »Ich bin Raymond Lazare. Sie bluten ja!«