Nach einer Viertelstunde nahm Ella die Abfahrt Le Mans-Paris, und sobald sie von der Peripherique auf die E 50 gebogen war, fuhr sie so langsam, dass alle anderen Fahrzeuge sie überholen mussten. Die Lichter von Rennes blieben eine Zeit lang im Rückspiegel des Pick-up, aber es dauerte nicht lang, bis dort nur noch der Nachthimmel etwas heller schimmerte, als wäre jenseits des Horizonts ein Raumschiff von einem anderen Planeten gelandet.
Es war kurz vor 22.30 Uhr. Ella stellte das Autoradio an, und als die Musik kaum zwei Minuten später von einem aufgeregt klingenden Sprecher mit einer Sondermeldung unterbrochen wurde, vergaß sie die pochenden Schmerzen in ihrer Hüfte. »Bonsoir, mesdames, messieurs«, sagte der Sprecher, »ce soir sur l’aéroport St. Jacques à Rennes …« Das war alles, was sie verstand, dann nur noch einzelne Worte, Amok und Docteur allemande Ella Bach und Banquier disparut Raymond Lazare.«
»Was sagt er?«, fragte sie.
Sie saßen zu dritt vorne, Ella am Steuer, Annika in der Mitte und Raymond Lazare rechts an der Beifahrertür des Pick-up.
»Er sagt, dass es heute Abend auf dem Flugplatz von Rennes einen Amoklauf gegeben hat, bei dem ein Passagier aus Madrid schwer und mehrere andere leicht verletzt wurden«, übersetzte Lazare. »Die Täterin konnte trotz einer sofort eingeleiteten Großfahndung entkommen. Man vermutet, dass es sich um die deutsche Ärztin Ella Bach handelt, die bereits mehrerer Morde verdächtigt wird. Nach Ella Bach wird auch im Zusammenhang mit dem Tod von Mademoiselle Nicolette Marceau gefahndet, der Geliebten des verschwundenen Bankiers Raymond Lazare. Nach Informationen aus Ermittlungskreisen könnte Ella Bach den Schwerverletzten für Raymond Lazare gehalten haben. Der Passagierliste zufolge befand sich aber niemand dieses Namens an Bord des Flugzeugs. Die Polizei befürchtet, dass sich die Täterin inzwischen schon auf dem Weg nach Paris befindet. Morgen findet dort im Centre de Congrès die Hauptversammlung der Banque National d’Alsace statt, deren Vorstandsvorsitzender der vermisste Lazare ist.«
Eine Amokläuferin auf der Flucht.
Ella sah immer wieder den Moment vor sich, in dem die Frau in dem roten Overall auf den Mann mit der roten Baseballkappe zugegangen war und ihn erschossen hatte. Die Frau, die aussieht wie du. Sie warf einen Blick in den Außenspiegel, wollte sehen, ob über den Scheinwerfern, die ihnen folgten, plötzlich blaue Lichter aufflammten und mit heulenden Sirenen schnell näher kamen. Aber die wenigen anderen Fahrzeuge blieben im gleichen Abstand oder überholten zügig. »Wer war denn der Mann mit der roten Kappe?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte Lazare.
»Sie kannten den Mann überhaupt nicht?«
Lazare schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm vorher noch nie begegnet. Ich habe mir unter den Passagieren, die mit mir in Madrid am Gate auf den Flug nach Rennes warteten, jemanden herausgesucht, den man nicht übersehen konnte. Dass mir ausgerechnet dieser Passagier so aufgefallen ist, war Zufall. Ich musste ja befürchten, dass unser Telefonat abgehört wird, trotz all unserer Vorsichtsmaßnahmen.«
»Aber so haben Sie einen Unschuldigen zur Zielscheibe gemacht! «
Lazare rieb sich die Augen und seufzte. »Ich wusste ja nicht mal, ob sie unser Gespräch wirklich mithören. Und wenn, dann dachte ich doch nicht, dass sie ihn gleich auf dem Flugplatz umbringen würden. Ich nahm an, sie würden ihm vielleicht folgen, sodass ich unerkannt zur Erste Hilfe-Station gehen und mich dort mit Ihnen treffen konnte. Das hat ja auch alles geklappt, nur anders als ich erwartet hatte. Mit dem Attentat hatte ich nicht gerechnet, und Sie waren nicht am verabredeten Treffpunkt.«
»Dafür war ich da«, sagte Annika, immer noch ohne die Augen zu öffnen. Ihr Gesicht war von tiefen Falten der Anspannung und der Erschöpfung gezeichnet. Die Aufgekratztheit, die sie die ganze Zeit zur Schau gestellt hatte, war mit einem Schlag verpufft. Mit müder, leiser Stimme erzählte sie, wie die Sanitäter sie in die Flughafenambulanz gebracht und dort versorgt, dann aber plötzlich allein gelassen hatten, als draußen auf dem Rollfeld geschossen worden war. Sie hatte sich mühsam aufgerappelt und zur Tür geschleppt, voller Angst, die Schüsse könnten Ella gelten. Vom Fenster aus hatte sie den Rettungswagen gesehen, die Schlüssel hingen an einem Brett neben der Tür.
»Und während ich noch überlegte, wie ich uns am besten da rausbringe, bemerkte ich den Easy-Rider-Hippie, der abseits von dem ganzen Trubel auf die Erste Hilfe zugeschlendert kam. Ich hatte Monsieur Lazare zwar noch nie gesehen, aber dafür jede Menge Hippies, und das war auf alle Fälle mal keiner! « Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit wie eine müde Katze. »Wir hatten uns noch nie gesehen, und trotzdem haben wir uns sofort erkannt, und jetzt sind wir alle hier. Wie würdest du so was nennen, Bambi?«
»Zufall«, sagte Ella.
Ihre Gedanken kehrten ständig zu der jungen Frau in dem roten Overall zurück. Immer wieder spielte sie sich die Szene vor, ließ sie langsamer und langsamer laufen und hielt sie sogar kurz an, und plötzlich erkannte sie die Frau wieder: die Kerzenverkäuferin auf Mont Saint-Michel. Sie hatten ihr die Haare gefärbt und auf Ellas Länge gekürzt. Der Rest war Schminke, Chaos, Dunkelheit und der Overall, der die Figur verbarg.
Lazare hielt den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet. »Ich nehme an, Sie haben trotzdem einige Fragen«, sagte er. Er hatte Ella bisher nur einmal in die Augen gesehen, als er in dem Rettungswagen aus dem Halbdunkel hinter ihr aufgetaucht war. Danach hatten sie den Wagen gewechselt, und als sie etwas später auf einem Parkplatz gehalten hatten, um die Schusswunde in Augenschein zu nehmen und zu versorgen, war Lazare ausgestiegen, damit Ella sich unbeobachtet fühlen konnte.
Es war nur ein Streifschuss, aber er hatte stark geblutet. Mit Annikas Hilfe hatte Ella die Blutung gestoppt, die Wunde desinfiziert, und eigentlich hätte sie genäht werden müssen, aber das musste warten. Stattdessen hatte Ella einen Verband angelegt, den sie mit mehreren Streifen Leukoplast aus dem Notfallkoffer des Rettungswagens befestigt hatte. Als sie damit fertig war, hatte Lazare wieder seinen Platz an der Beifahrertür eingenommen. Ohne sie anzuschauen, hatte er sich erkundigt, ob sie fahren könne, und Ella hatte Ja gesagt.
Jetzt fragte sie: »Für wen bilden Rochefort, Gladstone & Wentworth den Schutzwall? Wer gehört zu diesem sogenannten Konsortium? Was ist auf dem Datenstick? Wofür sind mein Freund Max und all die anderen gestorben?«
Und Mado, vielleicht inzwischen auch Mado, dachte sie. Sie schaltete in einen höheren Gang. Ein Stechen schoss ihr von der Hüfte hoch bis unter die Achsel.
Lazare antwortete nicht sofort. Im Halbdunkel des Führerhauses wirkte er müde und seltsam desorientiert, als fände er sich in der Welt außerhalb seines Privatjets nicht mehr zurecht. Auf allen Fotos und im Fernsehen hatte er einen silbergrauen Bart und schulterlanges, fast weißes Haar gehabt, die einen eleganten Rahmen für seine scharf geschnittenen, aber immer noch jugendlich wirkenden Züge darstellten. Seine Augen waren wach und strahlend gewesen, dazu immer ein leicht ironisch lächelnder Mund. Nun war der Bart verschwunden, das Kinn wirkte schwächer, der Mund lächelte nicht mehr, die Augen hatten ihren Glanz verloren, und die Haare bildeten asymmetrische Büschel über den Ohren.
Er ist genauso ein Opfer wie du, dachte sie; er ist auch auf der Flucht und wird mit dem Tod bedroht, genau wie du. Aber ihr Bild von ihm war nicht mehr dasselbe. Ein Makel war auf Raymond Lazare gefallen, gleich bei ihrer ersten Begegnung. Da saß ein Mann, der bereit war, einen Menschen in den Tod zu schicken, als reines Ablenkungsmanöver. Mit einem Telefonat hatte er dazu beigetragen, dass vielleicht noch jemand sein Leben verloren hatte. »Wofür sind all diese Leute gestorben?«, fragte sie noch einmal.
»Es geht um Macht«, antwortete Lazare. »Um Macht und Geld.« Er blickte aus dem Fenster. »Um Europa. Vielleicht um die ganze Welt.« Er schwieg einen Moment, als müsste er sich selbst erinnern, was sich hinter diesen Worten verbarg. »Alles begann 2009 nach der großen Finanzkrise – als die Regierungen der USA und Europas zahllose Banken, die durch zügellose Spekulationen und abenteuerliche Investitionen an den Rand des Abgrunds geraten waren, mit Milliarden und Abermilliarden an Steuergeldern stützen mussten, weil sie bei ihrem Sturz die gesamte Wirtschaft mit sich gerissen hätten. Jeder von uns im Finanzwesen merkte, wie uns der Wind auf einmal ins Gesicht blies. Einem einstmals hoch angesehenen, seriösen Beruf haftete plötzlich der Ruch des Schäbigen an, des Gangstertums. Und man kann nicht einmal sagen zu Unrecht, denn im Grunde wurde uns nur die Maske heruntergerissen, die längst durchsichtig geworden war.«
Seine Stimme war so leise, dass sie sich kaum gegen das Motorengeräusch durchzusetzen vermochte. »Überall auf der Welt schlug die Stimmung der Menschen um in blanke Wut und kehrte sich gegen uns, und die Politiker, die bisher bei jeder Kungelei, bei allen Mauscheleien mit uns unter einer Decke gesteckt hatten, fachten diesen Zorn noch zusätzlich an, um von ihrer Mitschuld abzulenken. Am liebsten hätte man uns – meine Bank, Barclays, die Société Générale, die Deutsche Bank, die Grupo Santander, UBS, die Banco Popular Espagnol, Unicredit und wie sie alle heißen – geteert und gefedert und aus der Stadt gejagt. Aus jeder Stadt, jedem Land, vom ganzen Erdball. Nicht wenige dachten insgeheim – und manche sagten es auch laut –, dass man uns alle untergehen lassen solle.«
Er streifte Annika und Ella mit einem Seitenblick, als wäre er nicht ganz sicher, ob sie ihm wirklich zuhörten. »Inzwischen denke ich genauso – ein paar Jahre hätte es ein Riesenchaos gegeben, aber vielleicht wären wir schon morgen in einer besseren Lage, statt vor dem nächsten Abgrund zu stehen. Denn einige gute Banken hätten überlebt und wären wahrscheinlich sogar gestärkt aus der Krise hervorgegangen, während die bad banks völlig zu Recht abgesoffen wären mit Mann und Maus, und um keinen von ihnen wäre es schade gewesen. Wer für die Deregulierung des Finanzwesens und der Märkte eintritt, soll nach seinen eigenen Regeln leben und sterben. Doch statt sie krepieren zu lassen, hat man die kranken Patienten wieder hochgepäppelt mit Medikamenten, deren Nebenwirkungen kein Arzt und kein Apotheker vorhersagen kann, weil sie noch nie angewandt wurden. Und halbwegs vom Krankenbett aufgestanden, stehlen sie sich schon wieder aus der Verantwortung und füllen lieber die eigenen Taschen als dafür zu sorgen, dass das System, das sie gerettet hat, sich nicht dafür schämen muss. Sie haben den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, nach dem die Starken sich um die Schwachen kümmern, und wer diesen Vertrag einseitig aufkündigt, kündigt das System auf.«
Seine Stimme wurde lauter, und Annika seufzte leise, als versuchte sie zu schlafen und fühlte sich durch ihn gestört.
»Aber damit graben sie sich endgültig ihr eigenes Grab«, fuhr er fort, »denn bei der nächsten Katastrophe – und die wird es unweigerlich geben – werden die Regierungen angesichts dieses Verhaltens dem Druck der Straße nichts mehr entgegensetzen können. Sie werden keinen Cent mehr in unsere Rettung stecken, nicht einen. Sie werden Banken und Rating Agenturen verstaatlichen. Sie werden Hedgefonds schließen, das Vermögen dieser Fonds und ihrer Investoren beschlagnahmen oder wenigstens einfrieren und die Märkte so nachhaltig regulieren, dass das Finanzwesen, wie wir es kennen, am Ende wäre. Sie werden gar nicht anders können, als so zu handeln, denn sonst droht ihnen dasselbe wie den Politikern in Island. Regierungschefs vor Gericht wegen mangelnder Kontrolle der Banken! Sie werden uns kreuzigen, und die Welt wird ihnen applaudieren.«
Er sah aus dem Fenster, auf die Lichter einer kleinen Stadt, die hinter den Bäumen am Straßenrand vorbeiglitten. Über den Baumkronen schien der Mond durch ein zerfranstes Loch in den dichten Wolken, deren Ränder wie Fetzen von Silberpapier schimmerten. Ella achtete auf die Fahrzeuge, die hinter dem Pick-up im Rückspiegel auftauchten. Sie behielt die Scheinwerfer im Auge; wollte nicht von einem schnell näher kommenden Blaulicht überrascht werden.
Scheinbar zusammenhanglos nahm Lazare einen anderen Faden auf und sagte: »Der Euro ist keine sehr stabile Währung, und Europa ist ein äußerst fragiles Gebilde. Zu viele Staaten, die nicht zueinander passen; zu viele unterschiedliche Interessen, zu viele Menschen, die Angst haben. Eine geniale Fantasie, aber leider in den Händen von Politikern. Regierungen, die denken, sie seien an der Macht, dabei sind sie nur auf Zeit gewählt. Brüssel? Eine Kindertagesstätte. Und dann das Schoßhündchen«, er stieß ein kleines, böses Lachen aus, »die Europäische Zentralbank, ach ja …«
Nach einem kurzen Schweigen kehrte er zur Antwort auf Ellas Frage zurück. »Weil Banker aber Banker sind – Freibeuter, Hasardeure, Herrenmenschen – , denken sie nicht daran, sich zu ändern. Deshalb haben die Vorstandsvorsitzenden einiger der größten europäischen Banken beschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Ihr Ziel – unser Ziel muss ich sagen, denn ich war ja einer von ihnen – ist es, in Europa eine einzige wehrhafte Regierung hinter den Dutzenden gewählten Regierungen zu bilden, eine, die stark genug ist, diesem Druck der Straße nicht nachzugeben. Weg mit der Politik als Regulator der Finanzmärkte. Dazu haben sie sich die rüdesten Hedgefonds-Manager und mehrere große Rückversicherer ins Boot geholt. Der Plan sieht die Übernahme sorgfältig ausgewählter Kernländer vor, deren marode Volkswirtschaften dem geballten Angriff dieses Konsortiums hilflos ausgeliefert sind. Marktmanipulationen, Währungsspekulationen, Finanzwetten gegen alles, was nicht niet- und nagelfest ist – kein Instrument bleibt ungenutzt um die Länder auszubluten und die EU-Steuermilliarden, mit denen sie vielleicht gerettet werden könnten, in die Taschen des Konsortiums umzuleiten. Bis die ganze Union so destabilisiert ist, dass ihre Finanzminister zu uns kommen und um Hilfe betteln, statt umgekehrt.«
»Ich dachte, so was machen die sowieso schon die ganze Zeit«, sagte Ella. »Für mich klingt das wie Alltag im Bankerland, gleich hinter der Grenze zur wirklichen Welt.«
Lazare nickte. »Aber bisher existierten dafür keine Beweise, kein Bild- und Tondokument mit den klar erkennbaren Gesichtern und Stimmen von sieben Vorstandsvorsitzenden, die bei einem Geheimtreffen glauben, ohne Zeugen zu sein: Verschwörer, die nichts anderes diskutieren als ein Komplott, dessen Ziel die Abschaffung der Demokratie in Europa ist. Wenn dieses Dokument bekannt wird, wird allein ihre Identität schon ein politisches und wirtschaftliches Erdbeben auslösen.«
»Und diese Beweise sind auf dem Stick?«, fragte Ella.
»Ja.«
»Haben Sie die Aufnahmen gemacht?«
»Ja. Mit einer versteckten Minikamera.«
Ella ließ die Augen nicht von der Straße und dem Rückspiegel, schaute Lazare nur gelegentlich von der Seite an. Sie hatte ein Gefühl, als wäre sie schon stundenlang so in der eintönigen Dunkelheit unterwegs, als tauchten vor und hinter ihr immer wieder dieselben Rücklichter und Schweinwerfer auf, die Bewegung nur vortäuschten, genau wie die Schatten von Bäumen oder Sträuchern am Fahrbahnrand.
»Warum haben Sie das getan?«
Lazare wandte sich ihr zu, mit glänzenden Augen. »Die Wahrheit ist – ich weiß es nicht. Vielleicht ahnte ich schon, was kommen würde. Vielleicht wollte ich mich nur absichern. Ich weiß es wirklich nicht.«
Der Pick-Up passierte eine erleuchtete Tankstelle mit einer rot und gelb leuchtenden McDonald’s-Reklame. Ella warf einen raschen Blick auf die Dieselanzeige, noch halb voll, und Hunger hatte sie auch nicht. Nur die Schussverletzung – sie spürte, wie das Blut jetzt wieder aus der Wunde zu sickern begann, wie es von der Hüfte den Schenkel hinunterlief. Später, dachte sie; darum kümmern wir uns später, sobald wir in Paris sind. Sobald wir wissen, was aus Mado geworden ist.
»Aber wieso haben Sie sich damit nicht erst mal an die Regierungen gewandt?«, fragte sie.
»Das habe ich.« Er breitete die Hände aus, eine Geste der Vergeblichkeit. »Sie haben mir nicht geglaubt, weder der Elysée noch das Kanzleramt in Berlin. Erst hieß es, man werde mich natürlich sofort empfangen, dann wurde der Termin verschoben und schließlich gestrichen. Wissen Sie, was passiert war? Irgendjemand im Elysée hatte einen der Sieben gefragt, ob an dem Gerücht was dran sei. Der hat freundlich dementiert, und die haben ihm geglaubt – weil sei ihm glauben wollten. Die hätten gar nicht gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Und natürlich hatten sie auch keine Ahnung, in welche Situation sie mich damit gebracht haben.«
»Und die Medien?«
»Dasselbe.« Die Hände wurden zu Fäusten, die er gegen das Armaturenbrett stemmte. »Fernsehen, Presse, alle haben sich geweigert – die einen, weil sie mir genauso wenig geglaubt haben wie die Regierungen, die anderen, weil sie von denselben Regierungen unter Druck gesetzt wurden oder jemand gehörten, den man unter Druck setzen konnte.« Je länger er sprach, desto mehr schien er wieder zu dem zu werden, der Ella von seinem eigenen Bild aus den Medien bekannt war. »Was blieb mir noch? Das Internet? Ich habe es versucht, aber das Web ist kein seriöses Medium, und mir fehlte das technische Knowhow. Wann immer ich versucht habe, etwas von meiner Aufnahme da zu platzieren, wurde es sofort aufgespürt, gestört, manipuliert oder wieder gelöscht.«
»Bloß wenn das so ist«, sagte Ella, »wenn Ihnen niemand glaubt und niemand Ihren Beweis sehen oder der Öffentlichkeit präsentieren will, was haben die Mitglieder dieses beschissenen Konsortiums dann noch zu fürchten? Warum lassen sie so viele Menschen töten, um an die Aufnahme zu kommen?«
»Weil sie existiert«, antwortete der Bankier, »und solange sie existiert, stellt sie eine Gefahr für sie dar. Fast alle dieser Banken, Versicherungen und Fonds sind nämlich am New Yorker Stock Exchange gelistet; ihre Aktien werden an der Wall Street gehandelt. Damit fallen sie unter amerikanisches Recht, und die Bösenaufsicht da drüben kennt kein Pardon, wenn es um Finanzmarktmanipulationen und Korruption geht. Einem Gutachten von Rochefort, Gladstone & Wentworth zufolge würden wir in so einem Fall wahrscheinlich nach dem Rico Act unter Anklage gestellt, das heißt, wegen Verschwörung zum Begehen einer Straftat. Nach diesem Straftatbestand wird normalerweise das organisierte Verbrechen abgeurteilt, die Mafia, und darauf steht mindestens lebenslange Haft.«
»Warum sind Sie dann nicht längst zu den Amerikanern gegangen? «
Plötzlich war es da, das blau blitzende Licht im Rückspiegel. Anfangs war es so weit weg, dass Ella nur kurz hinsah und glaubte, sie hätte sich getäuscht – ein Aufflackern, das sich nicht wiederholte, vielleicht ein Wetterleuchten. Doch nach der Kurve fand es sich wieder ein, das helle Zucken hinter ihr zwischen Fahrbahn und Himmel, und jetzt kam es schnell näher, nur das Licht, keine Sirene, lautlos und schnell.
Ella zog nach rechts, auf die äußerste Spur, um notfalls die Straße verlassen zu können. Es war ein Zivilfahrzeug, das Blaulicht und die gelben Scheinwerfer wuchsen in der Dunkelheit, immer größer, immer näher, waren da, neben dem Pick-up, zwei Polizisten in blauer Uniform, keiner schaute hoch, und im nächsten Moment waren sie vorbei, ohne anzuhalten.
Ella nahm die Hände vom Lenkrad und wischte sich die Feuchtigkeit an den Oberschenkeln ab. Einen Augenblick lang hatte sie sogar das Brennen in ihrer Hüfte vergessen, das Blut, das nicht aufhörte, den Verband zu durchnässen. Sie hatte es sich nie so vorgestellt – dass man es am Anfang ignorierte, und erst, wenn es nicht aufhörte, fing man an, daran zu denken und dann hörte man gar nicht mehr auf. Man dachte, da fließt dein Leben aus dir heraus.
Ein großes grünes Schild schwebte rechts aus der Nacht heran, weiße Buchstaben, A 11, Le Mans, dann Chartres und ganz unten Paris. Autobahn bedeutete Mautstation, zu gefährlich. Sie sah, dass auch Lazare dem Polizeiwagen hinterherstarrte, reglos, aber nicht so erschrocken wie sie. »Warum sind Sie nicht gleich zu den Amerikanern gegangen?«, wiederholte sie ihre Frage. »Warum haben Sie denen die Aufnahme nicht überlassen und – «
» – die Echtheit durch meinen Tod beglaubigt?«, unterbrach Lazare sie unwirsch. »Das wäre die letzte Möglichkeit gewesen«, er fuhr sich mit einer Hand über das Kinn, als suchte er nach seinem abrasierten Bart, »die Amerikaner sind in so einer Angelegenheit die letzte Möglichkeit. Bei denen dauert so was lange – man muss ihnen als Zeuge zur Verfügung stehen – endlose Gespräche mit Dutzenden von Strafverfolgungsbehörden – «
»Verstehe, da nimmt man doch lieber den Tod von noch ein paar Menschen in Kauf«, sagte Ella, »ein paar gefolterte Frauen – den einen oder anderen aufgeschlitzten Mann – eine Ärztin, die um ihr Leben rennen muss … Selbst gute Freunde wie Professor Forell oder Professor Barrault lässt man lieber umkommen, als dass man sich endlosen Gesprächen oder womöglich noch einem Lügendetektortest aussetzt und dem sinnlosen Morden ein Ende setzt – «
»Sie wissen nicht, wovon Sie reden«, sagte Lazare, unversehens kalt und abweisend.
»Ich rede von Madeleine Schneider«, sagte Ella. »Ich rede von Nicolette Marceau und Eduard Forell und Serge Barrault, um nur die zu nennen, die Sie kennen.«
»Ich weiß, wovon Sie reden!« Lazare schlug mit der Faust so heftig gegen das Seitenfenster, dass der Schlag Annika im Schlaf zusammenzucken ließ. »Sie wissen es nicht. Glauben Sie denn, ich denke nicht jeden Tag an Mademoiselle Schneider? An Nicolette?« Seine Stimme war auf einmal belegt, fast heiser. »Der Tag, an dem Madeleine von meiner Sekretärin in mein Büro geführt wurde … Es war, als würde mein anderes Leben hereingeführt, das, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich es mir immer gewünscht hatte … Serge hatte mich gebeten, sie zu empfangen – ich hatte nicht einmal gefragt, worum es genau ging. Er sprach von einer Dissertation, an der sie arbeitete …«
Sein Gesicht wurde weich, glättete sich unter den Falten. »Es gibt Begegnungen, die für einen Menschen alles ändern. Vorher hätte ich das nicht geglaubt, aber jetzt weiß ich es, und das ist selbst dann so, wenn es nur bei dieser einen Begegnung bleibt, wenn sich die Wege derer, denen sie geschenkt wurde, danach wieder trennen. Die Stunden mit dieser jungen Studentin aus demselben Ort im Elsass, aus dem auch meine Familie stammte, war so eine. Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht hierbei weder um Liebe noch um Erotik, auch nicht darum, dass ich ein Mann bin und sie eine Frau ist.
Sie setzte sich mir gegenüber und begann zu reden, aufrichtig, mit großem Ernst, mit Herz, Leidenschaft und Rückgrat. Dabei erzählte sie mir nichts wirklich Neues. Mein Neffe Rémy hatte mir schon die Augen geöffnet für das ungesühnte Verbrechen meines Urgroßvaters, aber es war dennoch immer gesichtslos geblieben. Jetzt hatte es plötzlich ein Gesicht erhalten, eines, das um nichts bat außer darum, ›ja‹ zur Wahrheit zu sagen. Ebenso plötzlich aber öffnete es mir jetzt die Augen für mich selbst – ich konnte mich selbst erkennen, in meine Seele sehen. Vielleicht war es ein Wunder, ich weiß es nicht, ich glaube nicht an Gott. Vielleicht war es auch nur ein Zufall: der richtige Tag, die passende Stimmung, die eine Sekunde, in der etwas passieren kann, was schon in der nächsten wieder unmöglich wäre.
Nachdem sie gegangen war, wollte ich sie unbedingt wiedersehen, und ich wusste, ich habe nur dann das Recht dazu, wenn ich das Unrecht meiner Familie wiedergutmache. Wenn ich mich ihrer würdig erweise, indem ich diesen Schritt vom Saulus zum Paulus tue und das Verbrechen, an dem ich mich gerade beteiligte, verhindere. Dass ich ihr den Stick für meinen Freund Eduard Forell mitgab, dem ich mehr als jedem anderen vertraute, sollte nur ein erster Schritt sein, verstehen Sie. Ich wähnte sie in Sicherheit. Mich auch, anfangs. Aber dann gab es einen Mordanschlag auf mich, dem ich gerade noch entkommen konnte – ein Auto, das mich beinahe vor meinem Haus in Neuilly überfahren hätte. Da wusste ich, dass ich untertauchen musste, ahnte allerdings immer noch nicht, dass man sich nach meinem Verschwinden an die anderen halten würde, an Nicolette und sogar Mademoiselle Schneider. Wie ernst es dem Konsortium war, habe ich doch erst gemerkt, als es … als sie Nicolette schon hatten. Ich habe alle sofort angerufen, erst Madeleine, dann Barrault und Forell. Es war zu spät. Die Bluthunde hatten schon ihre Witterung aufgenommen.«
»Mado lebt noch«, sagte Ella heftig, »und Sie können dafür sorgen, dass sie am Leben bleibt. Dass wir alle am Leben bleiben. Gehen Sie in Paris mit dem Stick und Ihrem Wissen zu den Amerikanern, sofort. Gehen Sie, bevor Ihnen etwas zustößt.«
Lazare schwieg und sah aus dem Fenster. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden.«
Ich kenne den Weg schon, dachte Ella; sie wusste nicht, woher, aber auf einmal kannte sie ihn. »Auf der Hauptversammlung Ihrer Bank morgen Vormittag«, sagte sie. »Sie wollen die Anwesenheit der Berichterstatter aus aller Welt dazu benutzen, die Aufnahme vorzuführen.«
Lazare blickte weiter aus dem Fenster, obwohl es da nichts zu sehen gab. »Einige Mitglieder des Konsortiums gehören zu meinen Großaktionären«, sagte er. »So wie ich in Ihren Geldhäusern engagiert war, bis vor Kurzem. Sie werden auch da sein. Die Versammlung wird live im Internet und auf einigen Nachrichtensendern im Fernsehen übertragen – «
»Die werden um jeden Preis zu verhindern versuchen, dass Sie reden«, unterbrach Ella ihn. »Ist es das, was Sie wollen – ein Märtyrer werden vor den Augen der ganzen Welt?«
Mit äußerster Sorgfalt studierte Lazare die draußen vorbeifliegenden Bäume.
»Glauben Sie, damit retten Sie Mados Leben?«, fragte Ella. »Dass die danach keinen Grund mehr hätten, sie umzubringen? «
Er sagte nichts.
»Und was ist mit mir?«, fragte Ella. »Wer auch immer Sie tötet, man wird es mir in die Schuhe schieben, einer verwirrten Einzeltäterin. Wenn sie mich nicht gleich an Ort und Stelle ausschalten. «
Die Bäume verloren ihren Reiz für Lazare, und er wandte sich von dem Fenster ab und Ella zu. »Sie werden gar nicht da sein«, sagte er irritiert.
»Das hat bisher noch niemanden gestört«, erwiderte sie. »Ich war nie da, wo einer der Morde geschah, die man mir in die Schuhe schiebt.«
»Was ist noch auf dem Stick?«, fragte Annika jetzt. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber sie hatte sich vorgebeugt und den Kopf leicht schräg geneigt, als versuche sie, ein kaum hörbares Geräusch zu orten. »Was außer der Aufnahme von dem Geheimtreffen des Konsortiums ist noch auf dem Stick?«
Lazare starrte sie entgeistert an, antwortete aber nicht.
»Es geht nämlich gar nicht mehr allein um die europäische Bankenmafia«, sagte Annika. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe sie weitersprach. »Es geht um die Chinesen.«
Lazare zuckte zusammen, als hätte er einen Stromschlag erhalten. »Was wissen Sie von den Chinesen?«
Annika lächelte, auf eine Art, wie Ella sie noch nie hatte lächeln sehen; sanft und unheimlich. »Die haben ebenfalls was mit dieser Kanzlei – Rochefort und so weiter – zu tun, oder? Und die Killer von Birnam Forrest Security brauchen sich deshalb auch nicht die geringste Zurückhaltung aufzuerlegen, weil in China das Leben eines Dissidenten bekanntlich keinen allzu großen Wert hat.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte der Bankier.
Annika öffnete die Augen. »Ach«, sagte sie, erleuchtet von chinesischer Weisheit. »Das Wissen hat viel mit dem Geld gemeinsam, vor allem eins – es schläft auch nicht. Es arbeitet die ganze Zeit. Und manchmal hat es sich schon wieder vermehrt, wenn man aufwacht.«
Lazare beugte sich vor, um Ella anzusehen. »Sie irren sich, Madame Bach – ich lege es nicht darauf an, als Märtyrer in die Börsengeschichte einzugehen, und ich will auch nicht erschossen werden. Deshalb werde ich mit diesen Aufnahmen – « Er griff in die linke Brusttasche seines Parkas und erstarrte. Seine Hand verharrte einen Moment in der Tasche, dann zog er sie heraus. Nachdem er auch die zweite vordere Tasche durchsucht hatte, begann er, seine Brust abzuklopfen, danach alle anderen Taschen des Parkas, bevor er mit beiden Händen die Hosentaschen durchsuchte. Selbst im Dunkel des Führerhauses konnte Ella sehen, dass er wachsbleich geworden war. »Mon Dieu … merde … où est … ce n’est pas possible …?!«
»Was haben Sie denn?«, fragte Ella.
»Der Datenstick! Ich hatte ihn doch … als ich in Madrid ins Flugzeug gestiegen bin … er ist nicht mehr da!« Fassungslos starrte Lazare auf seine leeren Hände. »Ohne die Aufnahmen ist alles, was ich sage, nur eine Behauptung! Ohne Beweise sind es nur Behauptungen …«
Ella nahm die rechte Hand vom Steuer und legte sie auf die Tasche, in der sie den Stick aufbewahrte. Sie spürte die Ausbuchtung unter dem Jeansstoff, den Druck auf ihren Schenkel. Einen Moment lang dachte sie daran, nichts zu sagen, den Stick zu behalten, vielleicht sogar wegzuwerfen, als könnte damit alles rückgängig gemacht werden, was seinetwegen geschehen war. Vielleicht kann ich ihn gegen Mado tauschen, dachte sie, gegen ihr Leben.
Aber dann waren alle anderen umsonst gestorben, alle, die seinetwegen den Tod gefunden hatten, angefangen mit Max. Kein Tauschhandel mit Verbrechern, dachte sie, und außerdem war sie des ganzen Versteckspielens, der dauernden Täuschungen und Lügen und Betrügereien überdrüssig. Sie schob die Hand in die Tasche, holte den Stick heraus und hielt ihn Lazare hin.
»Das ist der Stick, den Sie Mado mitgegeben haben«, sagte sie. »Das Duplikat Ihres eigenen.« Sie hielt ihn noch eine Sekunde fest, als der Bankier schon danach gegriffen hatte. »Und gnade Ihnen Gott, wenn Madeleine Schneider Ihretwegen doch noch sterben muss.«