Der Fahrstuhl hielt im zweiten Stockwerk über der Garage. Die Türen glitten auf, und vor Ella erstreckte sich ein spärlich beleuchteter Gang mit kahlen Wänden, dessen Ende hinter einer Biegung verborgen lag. Von unten drang das gewürgte Jaulen des Dobermanns herauf. Sie sprang aus der Kabine und lief den Gang entlang. Hinter ihr setzte der Lift sich wieder in Bewegung. Der Gang führte zu einer Stahltür mit der stilisierten Darstellung eines Blitzes darauf.
Plötzlich hatte sie eine Idee: Ein Blitz – ein Kurzschluss im Gehirn – ein Stromausfall! Vielleicht konnte sie Teile des Centre de Congrès in Dunkelheit tauchen, vielleicht das ganze Zentrum – vielleicht, vielleicht –, aber irgendetwas musste sie tun. Neben der Tür hing in einem verglasten Metallkasten eine kleine, kurzstielige Axt. Ella schlug die Glasscheibe ein und riss die Axt aus ihrer Halterung.
Sie zog die Stahltür auf und sah sich dem Mann mit dem langen schwarzen Indianerhaar gegenüber, der ihr schon auf dem Flugplatz von Rennes aufgefallen war. Seine hellen Augen weiteten sich überrascht, dann zogen sie sich jäh zusammen, und er öffnete den Mund wie eine zischende Schlange. Er griff nach einem Revolver, der in einem Lederholster an seinem Gürtel hing. Aber die Tür war zu eng, er stieß mit dem Ellbogen an und blieb dann mit dem Lauf der Pistole am Rahmen hängen. Ella staunte, wie langsam er sich bewegte, wie in Zeitlupe, und sie selbst war genauso langsam, als sie abwehrend die Axt hob.
Die schwere Tür warf sie nach vorn, gegen den Mann mit dem Indianerhaar, dem ein leiser Laut der Überraschung entfuhr. Sie verloren das Gleichgewicht, und im Fallen rief er etwas, das sie nicht verstand, aber dann landete sie auf ihm, und er schrie. Der Schrei ging in ein Röcheln über. Sie blickte in seine vor Schreck weit aufgerissenen Augen und ließ die Axt los, versuchte hochzukommem, weg von ihm. Als sie sich halb aufgerichtet hatte, sah sie, dass die Schneide der Axt tief in seinem Bauch steckte.
Blut sickerte zu beiden Seiten des Axtblatts durch das schwarze Uniformhemd. Langsam tastete der Mann mit dem Indianerhaar nach dem Stiel und packte ihn mit beiden Händen, um die Schneide aus seinem Bauch zu ziehen. Ella dachte, mach das nicht, es kommt zu viel Blut, und sie dachte auch, das wollte ich nicht. Aber er hörte nicht auf, mit einem Ruck riss er das Axtblatt aus seinem Bauch, und das Blut spritzte in einem dünnen Strahl aus der offenen Wunde unterhalb der Rippen. Staunend hob er den Blick zu Ella. Dann streckte er einen Arm aus und hielt ihr die Axt entgegen wie ein Geschenk. Als sie sich nicht rührte, sank der Am wieder hinab; klirrend schlug die Axt auf den Boden.
Reglos stand sie da und starrte den Mann an. Es tut mir leid, dachte sie. Oder vielleicht sagte sie es auch, es tut mir leid, das wollte ich nicht. Ihre Sehnen und Muskeln brannten bis zur Schulter herauf, sogar die Knochen schmerzten. Sie hörte ihr Herz, dessen harte, schnelle Schläge ihren ganzen Körper zu erfüllen schienen; sie spürte sie bis unter die Fingernägel. Die Schusswunde an der Hüfte fühlte sich an, als würde eine glühende Kohle hineingedrückt. Trotzdem bückte Ella sich, um den Puls des Mannes zu fühlen; um zu sehen, ob er nicht doch noch lebte.
Plötzlich spürte sie einen kühlen Luftzug über ihre erhitzte Haut streichen, und bevor sie sich noch umdrehen konnte, hörte sie das schnelle, rhythmische Klicken, das sie schon vorhin im Treppenhaus gehört hatte. Hundepfoten! Etwas versetzte ihr einen heftigen Stoß in den Rücken. Sie taumelte vorwärts und fing sich im letzten Moment, ehe sie über die Beine des Toten stürzte. Von ihrem eigenen Schwung halb herumgerissen, sah sie den Dobermann. Seine Augen waren jetzt klein und hatten einen geröteten Rand, und ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle.
Die Leine schurrte über den Beton. Der Dobermann sprang, die Augen auf Ellas Kehle gerichtet. Seine spitzen Zähne glänzten gelblich. Ohren und Nase waren weiß von Löschpulver. Unwillkürlich riss Ella dem Toten die Axt aus der Hand und hieb dem Hund die flache Seite des Eisenblatts gegen die weit aufgerissene Schnauze. Der Dobermann jaulte, drehte sich mitten im Sprung und landete auf der Seite, wo er benommen liegen blieb. Etwas Blut rann ihm aus den Nüstern. Das hast du davon, Hund, dachte Ella; wie bist du überhaupt hier heraufgekommen?
Auf den großen Bildschirmen im Foyer des Centre de Congrès und auf den kleineren Monitoren in den Gängen und Konferenzräumen und ebenso auf den zahllosen Computern der Internetuser überall auf der Welt und nicht zuletzt bei der Liveübertragung im Programm von Bloomberg-TV kam der Mann in dem silbergrauen Anzug hinter dem Rednerpult zum Ende seiner Eröffnungsansprache. »Wenn Sie in Ihr Programm schauen«, sagte er, noch immer auf Englisch, »können Sie dort lesen, dass jetzt die Rede des Stellvertretenden Vorstandssprechers der Banque National d’Alsace folgt. Dieser Tagesordnungspunkt wurde gestrichen. Stattdessen spricht zu Ihnen der Vorstandsvorsitzende selbst, Monsieur Raymond Lazare!«
Nach einer Sekunde überraschten Schweigens brachen die Aktionäre in frenetischen Jubel aus. Einige sprangen von ihren Sitzen auf, als Lazare vom Hintergrund der Bühne ins Scheinwerferlicht trat. Er trug einen schlichten, aber erkennbar sehr teuren schwarzen Einreiher, ein schneeweißes Hemd mit Button-down-Kragen und eine golddurchwirkte Krawatte. Nichts an ihm deutete auf die Strapazen der vergangenen Tage hin, außer vielleicht einer zornig pochenden Ader auf seiner Stirn. Er sprach mit klarer, lauter, fast heftiger Stimme.
»I’m certain you all have heard the rumours these days«, begann er, »ich sei tot oder verschollen oder Opfer einer Entführung geworden. Aber das stimmt nicht – ich bin nur gerannt. Ich war auf der Flucht vor den Löwen. Sie kennen die Fabel: Jeden Morgen in Afrika erwacht die Gazelle, und ihr erster Gedanke ist, du musst schneller laufen als der schnellste Löwe, sonst wirst du gefressen. Zur gleichen Zeit erwacht der Löwe und denkt, du musst schneller laufen als die langsamste Gazelle, sonst verhungerst du. Das heißt: Es ist egal, ob du Gazelle oder Löwe bist – wenn die Sonne aufgeht, ist es das Beste, du rennst, so schnell du kannst.
Ich bin gerannt. Zuerst war ich die Gazelle, aber die, die mich gejagt haben, waren keine Löwen. Es waren Schakale. Jetzt allerdings bin ich der Löwe und jage die Schakale. Ich weiß, wo ich sie finde, denn bevor ich Gazelle und Löwe wurde, war ich selbst einer von ihnen. Ich war beteiligt an der Verschwörung der Schakale zur Zerstörung der Demokratie in Europa. Ich gehörte zu einem Konsortium von Bankern, die ihre Macht dazu benutzen wollten, eine Regierung des Geldes und des Profits über den Regierungen der Europäischen Union zu etablieren. Dies sind ihre Namen, und das ist der Beweis!«
Sie müssen es jetzt tun! Ella stand vor dem Monitor im Gang gleich gegenüber vom Fahrstuhl auf der zweiten Etage und dachte, wenn sie es jetzt nicht tun, ist es zu spät, dann kennt die Welt ihre Namen. Die Fahrstuhltüren hatten sich wieder hinter ihr geschlossen. Sie lauschte, versuchte zu hören, ob jemand die Treppe hochkam, ob ein Lift nach oben oder unten fuhr, aber die Übertragung des Geschehens im Amphitheater war zu laut, der Applaus, die mikrofonverstärkten Stimmen.
Du hast einen Menschen getötet. Er wollte dich zuerst töten, aber das ändert nichts. Du hast ein Leben zerstört, statt es zu retten.
Sie lief weiter. Ihr war schwindlig von dem Adrenalin, das durch ihre Adern schoss. Die verletzte Hüfte schmerzte bis zum Hals hinauf. Sie versuchte, sich den Plan des Gebäudes in Erinnerung zu rufen, den sie an der Wand neben dem Notausgang gesehen hatte. Sie war zu weit oben, musste wieder nach unten, aber mit einem anderen Fahrstuhl. Oder über die Treppe, am besten über eine der Treppen.
Sie lief auf die erste Tür zu und öffnete sie vorsichtig: ein weiterer Gang und an dessen Ende noch eine Tür, die nur angelehnt zu sein schien. Schnell und leise lief sie den hell erleuchteten, mit Teppichboden ausgelegten Korridor entlang und spähte durch den Türspalt. Richtig, ein weiterer Gang, der zur Feuertreppe führte. Die Treppe war leer. Ella achtete nicht auf ihre Schmerzen, rannte die Stufen hinunter, erreichte die nächste Etage. Öffnete die Tür. Auch dahinter ein Flur, verwaist wie die anderen.
Sie entdeckte einen Bildschirm gegnüber der Garderobe rechts vom Fahrstuhl. Die Kameras zeigten gerade die Bühne mit dem Vorstand und der Geschäftsführung der Banque National d’Alsace. Sie zeigten die große Leinwand, die hinter dem Tisch aufgebaut war und auf der jetzt noch Raymond Lazare zu sehen war, zehnmal so groß wie hinter dem durchsichtigen Rednerpult am Rand der Bühne. Sie zeigten die Gänge neben den Sitzreihen, in denen mehrere Teilnehmer standen, die keinen Sitzplatz gefunden hatten. Sie zeigten die vorderen Reihen der Zuschauer, besonders die, in denen die Großaktionäre saßen. Eine der Kameras verweilte auf fünf Chinesen – schwarze Anzüge, schwarze Brillen, eisige Mienen – in der dritten Reihe.
Im Foyer erschienen die ersten Leute vom Catering, die Speisen und Getränke auf Rollwagen zu weiß gedeckten Tischen fuhren. Keiner von ihnen schenkte Ella auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Etwas weiter vorn, wo der Gang zum rechten Saalausgang führte, trat ein Sanitäter aus einer Tür und ging in dieselbe Richtung wie sie. Der Sanitäter machte hastige, kurze Schritte, und erst kurz bevor er die Flügeltür zum Amphitheater erreichte, erkannte Ella, dass es gar kein Mann war. In der weißen Hose und der in mattem Rot-Weiß-Blau schimmernden Weste steckte eine Frau.
Die Frau öffnete die Tür zum Amphitheater. Ohne Ella zu sehen, verschwand sie hinter der Tür, die wieder zufiel. Ella war noch ein gutes Stück entfernt, und jetzt begann sie zu laufen. Das war sie. Das war die Attentäterin vom Flugplatz in Rennes. Sie erreichte die Tür, zog sie auf, schob sich ebenfalls in den nur vom Bühnenlicht erhellten Raum. Sie befand sich dicht an der Bühne.
Ihr Blick flog über die Köpfe der sitzenden Aktionäre, Tausende von Köpfen, die Gesichter alle auf das Rednerpult gerichtet, wo sich Lazare der noch dunklen Leinwand zuwandte. Ella suchte weiter, suchte die Frau in der Sanitäterweste. Rechts und links von ihr standen Besucher, die keinen Platz mehr gefunden hatten; ein paar saßen auf den flachen Absätzen des Seitengangs. Die Frau war nirgendwo zu sehen, keine weiße Hose, keine bunte Weste außer der, die Ella selbst anhatte.
Gegenüber, auf der anderen Seite, wurde eine Tür geöffnet, und eine weitere Frau betrat den Saal. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Wie Ella musterte sie die Reihen der Sitzenden und die Seitengänge. Das erlöschende Bühnenlicht warf einen letzten Schimmer auf ihr Gesicht, den leuchtend roten Mund. Anni! Auf der Suche nach einem Platz ging sie den Gang hinunter. Wie in Trance. Wie jemand, der über ein Hochseil balancierte; der den Erdboden nicht mehr spürte.
Ella bemerkte eine Bewegung links von sich, und als sie hinsah, war da der Mann mit dem Hauttransplantat. Er bewegte sich langsam den Gang hinunter auf sie zu, den Oberkörper merkwürdig verdreht. Seine Hände hielten etwas neben dem rechten Oberschenkel – einen Revolver mit nach unten gerichtetem Lauf und Schalldämpfer. Aber er sah sie nicht an, er sah an ihr vorbei auf einen Punkt rechts von ihr. Sie folgte seinem Blick.
Zwei Absätze unter ihr stand die Frau in der Sanitäterweste zwischen mehreren Männern. Jetzt erkannte Ella die Kerzenverkäuferin ohne jeden Zweifel. Ihr Gesicht schimmerte silbrig im Widerschein der zum Leben erwachenden Leinwand. Ihre Hand steckte unter der vorne offenen Weste, und aus der Nähe sah sie Ella noch ähnlicher.
Ich bin genau zwischen ihnen. Ich bin da, wo sie mich haben wollen. Ich bin dem Igel nachgerannt.