Ella suchte wieder nach Annika, die jetzt zu ihr herüberschaute, genau zu ihr. Fast konnten sie sich in die Augen sehen, obwohl das unmöglich war im Dunkeln, über die große Entfernung, und doch spürte sie ihren Blick fest auf sich, voller Ahnungen, voller Besorgnis.
Auf der Leinwand hinter Raymond Lazare erschien die unruhige, nicht ganz scharfe Aufnahme eines im Halbdunkel liegenden Raums, der aussah wie das Kaminzimmer eines Jagdschlosses, nur notdürftig erhellt von einem flackernden Feuer und ein paar antiken Stehlampen auf kleinen Beistelltischchen. Die sechs Männer in dem Raum, jeder mit einem Glas in der Hand, saßen in Ledersesseln oder auf zwei ausladenden Sofas. Sie waren salopp gekleidet, Freizeitdress, wie zum Golfen oder nach dem Angeln. In der Mitte stand ein Dutzend Flaschen mit Wein, Cognac oder Whiskey.
Die Kamera, offenbar versteckt, bewegte sich von einem zum anderen und von oben nach unten. Jedes Mal sah der, der gerade gefilmt wurde, auf und lächelte und sagte Thanks oder Merci oder Grazie, und man sah sein Gesicht ganz deutlich, denn die versteckte Kamera schien sich auf Höhe der Krawattennadel von jemandem zu befinden, der den Männern etwas zu trinken nachschenkte und sich dabei zu ihnen hinabbeugte.
Die Kerzenverkäuferin zog ihre Hand unter dem Jackett hervor. Sie trug weiße Handschuhe und hielt eine Pistole, eine Walther PPK, ebenfalls mit Schalldämpfer. Mit wenigen, raschen Schritten drängte sie sich durch die Zuschauer, bis sie fast neben Ella stand und selbst der Schusswinkel keine Zweifel mehr zuließ.
»Sie sehen hier die sechs mächtigsten Männer im europäischen Finanzwesen«, erklärte Lazare.
Das war der Moment, in dem die Kerzenverkäuferin die Pistole hob und auf Lazare zielte, und das war der Moment, in dem Ella sich auf die Frau stürzte und den Pistolenarm packte, und das war der Moment, in dem die Frau schoss, und das war der Moment, in dem plötzlich ein Schrei ertönte, so laut, dass es jeder im Raum hören musste, und das war der Moment, in dem Ella wusste, dass Annika wieder einen Anfall hatte, während der Mann mit dem Hauttransplantat auf Ella feuerte, und in den Schrei hinein fiel ein zweiter Schuss, aber alle Augen richteten sich auf Annika, die mit verzerrtem Gesicht im Seitengang stand und nun von einem der Scheinwerfer erfasst wurde, und das geschah alles im selben Moment.
Gebadet in einen Kegel aus weißem Licht wand sich Annikas Körper in krampfhaften Zuckungen wie geschüttelt von einem Dämon, bevor ein weiterer unbeschreiblicher Schrei aus ihrer Brust drang, ein Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte. Der Stoß einer unsichtbaren Faust schien sie von den Füßen zu fegen. Sie brach zusammen, wo sie stand, krümmte sich einen Moment im Licht des Scheinwerfers auf dem blauen Teppichboden, dann lag sie still, während langsam etwas Schaum aus ihrem Mund quoll, und all das konnte man auf der zweiten, kleineren Leinwand neben dem Vorstandstisch sehen.
In den Sitzreihen sprangen die Aktionäre auf, einige schrien, andere hatten die Hände vor den Mund geschlagen.
Lazare schwankte leicht hinter dem Rednerpult. Ein roter Fleck breitete sich an seiner rechten Schulter aus. Fast beiläufig presste er die linke Hand dagegen, während er mit der rechten weiter auf die Leinwand deutete, als wäre überhaupt nichts geschehen; als wären die Männer, die in dem dunklen Raum nun zu reden begonnen hatten, viel wichtiger als alles andere.
»Bitte, bleiben Sie!«, rief er in sein Mikrofon. »Bewahren Sie Ruhe, bitte, und hören Sie mir zu. Ihnen wird nichts geschehen. Die Leute, die gerade eben versucht haben, mich umzubringen, sind hier im Raum, und den Grund, aus dem sie mich umbringen wollen, sehen Sie auf dieser Leinwand. Sie werden es nicht noch einmal versuchen.«
Ella sah sich um, suchte den Mann, der auf sie geschossen hatte, aber er war verschwunden. Sie schaute in die andere Richtung, zu der Kerzenverkäuferin. Die junge Frau lag auf dem Boden, reglos. Sie hatte die dünnen weißen Handschuhe noch an, und aus ihrer Schläfe trat nur ganz wenig Blut, das im Dunkeln kaum auffiel. Ella entdeckte die Pistole, mit der sie geschossen hatte, dicht vor ihren eigenen Füßen. Ein einziger Schrei, dachte sie dankbar, nur ein Schrei und zwei Kugeln verfehlten ihr Ziel.
»Renato Contini«, rief Lazare, »Vorstandssprecher der Banca Nazionale di Roma und Großaktionär der Banque National d’Alsace, da unten«, er deutete auf einen Mann in der ersten Reihe, der wie gelähmt dasaß, »dort sitzt er! Und da, Carlos Mendoza, erster Vorstand der Grupo Barcelona, der größten Bank Spaniens!«
Zwei Sitze von Contini entfernt sprang ein Mann auf und drängelte sich zu dem Ausgang links von der Bühne durch. Sein Gesicht war riesengroß auf der Leinwand zu sehen, wo er mit hartem Akzent sagte: »Ich sehe überhaupt kein Problem – mein Land steht schon am Rand des Ruins, nur noch ein kleiner Schubs, dann haben wir den Staatsbankrott, und ich sorge dafür, dass die Regierung einfach weggefegt wird, niemand wird Spanien mehr einen Cent leihen – «
Lazare zeigte nach oben auf das nächste Gesicht und nach unten in den Saal. »Doktor Jürgen Volkmann, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Deutschen Banken, und Jerome Shoemaker von der Royal Commonwealth Bank und Urs Hürli von der Berner Bankgesellschaft, und – «
Unruhe erfasste den Saal. Weitere Männer aus der ersten Reihe strebten dem Ausgang zu, und jetzt standen auch die Chinesen in der dritten Reihe auf. Ihre Brillengläser blinkten, während Lazare die Arme ausbreitete, damit man seine blutende Schussverletzung besser sehen konnte. Immer mehr Zuschauer waren aufgestanden, blockierten die Sitzreihen, die Gänge und Türen und sahen zu ihm auf, staunend, aufgebracht, gebannt. Manche deuteten empört auf die Männer, deren Namen er genannt hatte, andere hielten noch immer die Hände vor den Mund.
Die Kameras fuhren näher an die Bühne heran. Fotografen drängelten sich an den Seitenaufgängen. Wie aus sich selbst heraus flackernd, stand Lazare im lautlosen Blitzlichtgewitter, das ihn umhüllte. Sicherheitsleute liefen an den Seiten der Sitzreihen auf und ab, redeten aufgeregt in ihre Mikroports.
Ella schob sich mühsam durch die dicht an dicht stehenden Aktionäre, um zu Annika zu gelangen. »Pardon! Je suis médecin! Laissez moi passer, s’il vous plaît! I’m a doctor!«
»Jeder dieser Männer«, fuhr Lazare anklagend fort, »besitzt riesige Aktienpakete der Banque National d’Alsace – unserer Bank! –, und sie alle sind heute hier persönlich erschienen, um mich endlich sterben zu sehen, weil ich mich gegen sie gestellt habe. Denn ich kann nicht zulassen, dass Europa in ihre Hände fällt, dass unsere Länder zu ihren Schatztruhen werden und unsere Bürger zu ihren Geiseln. Diese Männer – und ich war einer von ihnen – stehlen nicht nur unser Geld, sie stehlen nicht nur unser Leben. Sie stehlen uns auch die Freiheit, den Frieden und die Zukunft!«
Er hielt kurz inne, eine Pause, die wie inszeniert wirkte. »Aber das ist noch nicht alles: Hier unten in Reihe fünf sehen Sie einen Mann, der unsere Bank im Auftrag seiner Regierung dazu benutzen wollte, um mit ihrem Geld nach und nach anonym die Mehrheit an den wichtigsten anderen europäischen Banken zu erwerben und damit die EU selbst in die Hand zu bekommen, als Schatten hinter den Schatten!« Er drehte sich nun ganz zur Leinwand um und schaute fast ehrfürchtig zu ihr hinauf, »Li Deng Tsetung von der China Commercial Bank.« Sein Rücken bebte leicht, vor Schmerzen, dachte Ella, oder vielleicht vor tiefem inneren Abscheu angesichts der Aufnahme, die er mit derselben versteckten Kamera gemacht zu haben schien.
Ella betrachtete den bebenden Rücken, und in diesem Augenblick begriff sie, was die ganze Zeit da gewesen war, ohne dass sie es erkannt hatte: Lazare spielte eine Rolle. Er inszeniert seinen Auftritt wie das Jüngste Gericht!
Da saß der Chinese riesengroß in einer Hotelsuite – es sah aus wie eine Hotelsuite mit gedämpftem Licht –, seine Hände lagen ruhig auf den Armlehnen des Sessels, nur sein senfgelbes Gesicht tauchte gelegentlich aus dem Schatten auf, ins Licht einer unsichtbaren Lampe. Mit schmalen Lippen und schmalen Augen saß er da, und sein dunkles, rollendes Englisch dröhnte aus den Lautsprechern, »Yes, Mister Lazare, only the first fifty billions, das ist nur der erste Schritt, nur die erste Tranche, danach kommen noch viele weitere Milliarden, ja, Hunderte, vielleicht eine Billion«, und er lachte leise, aber ohne Fröhlichkeit, »it’s only the first step …«
Man hörte eine andere Stimme, die von Raymond Lazare, aber Li Deng fiel ihr herrisch ins Wort: »Sie wollen ein Versprechen? Hah.« Der Chinese lächelte; vermutlich war es ein Lächeln, es kam und ging zu schnell. »Es gibt kein Versprechen. China war lange geduldig. China war lange demütig. Es war schwer, sehr schwer, der ganzen Welt dieses Gesicht zu zeigen. Die Dummheit der westlichen Welt geduldig zu ertragen. China hat fast seine Würde verloren. Nun ist es stark, und die westliche Welt wird schwach. Es dauert nicht mehr lange – vier, fünf Jahre –, dann wird sie wieder am Rand des Abgrunds stehen. Die Finanzmärkte werden endgültig zusammenbrechen, hah, und dann kommt die Stunde unserer großen Nation. Überall – in Amerika, in Europa – werden die Menschen mit Gewehren in die Berge gehen, und sie werden um die letzten Dosensuppen kämpfen. Wir aber werden aus den Bergen kommen und aus der Wüste und aus den Städten, und nach Europa werden wir uns auch den Rest der Welt nehmen.«
Er lächelte nicht mehr. »Es wird die Stunde sein, in der unsere Würde zurückkehrt.«
Atemlose Stille herrschte im Saal. »This is a fake!«, rief plötzlich eine Stimme in diese Stille, »this is not real!«, und die Stimme klang genauso wie die des Chinesen auf der Leinwand. In der dritten Reihe entstand ein kleiner Tumult, als sich die gesamte chinesische Delegation mit zornigen Mienen zum Ausgang durchdrängelte, Li Deng an der Spitze. Alle hielten Diplomatenpässe hoch wie weiße Fahnen, in deren Schutz sie ungehindert abziehen durften. Rasch folgte ihnen der Anwalt von Rochefort, Gladstone & Wentworth.
Tschok! Klirrend zersprang einer der Scheinwerfer über dem Bühnenrand in einem glitzernden Scherbenregen. Das Licht der anderen Scheinwerfer flackerte und zuckte, ging aber nicht aus. Hastig räumten die letzten Direktoren der Bank den langen Tisch vor der Leinwand. Plötzlich stürzten alle Versammlungsteilnehmer zu den Ausgängen.
Wieder vernahm Ella in dem neu aufbrandenden Lärm das Tschok! Tschok! von Pistolen mit Schalldämpfern, aber sie begriff nicht, wer auf wen schoss, bis dicht neben ihr jemand aufschrie. Sie duckte sich und verschränkte die Arme im Nacken, als säße sie in einem abstürzenden Flugzeug. Sie räumen auf, dachte Ella; sie sind gescheitert, und jetzt räumen sie die letzten Mitwisser aus dem Weg.
Um sie herum erklang das Scharren von Füßen, vereinzelte Rufe. Nur ein paar Schritte entfernt stürzte eine Frau, der Mann hinter der Frau stolperte und fiel auf sie. Ein paar Zuschauer versuchten, über die Rückenlehnen der Sitze zu klettern. An den Ausgängen bildeten sich Menschentrauben.
Ella hob den Kopf. Sie konnte Annika im Seitengang liegen sehen, als schliefe sie, und jäh kam ihr der Gedanke: Anni ist auch ein Mitwisser! Sie wollte aufstehen, um zu ihr zu laufen, aber sie hatte keine Kraft mehr, nicht das geringste Bisschen. Sie kauerte auf den Knien, nur ein paar Dutzend Meter von Annika entfernt, und sie dachte, ich muss zu ihr, und alles an ihr zitterte in dem verzweifelten Willen, auf die Beine zu kommen, und es ging trotzdem nicht.
Drei Männer mit gezogenen Waffen in den Händen näherten sich langsam zwischen den leeren Sitzreihen. Ella sah sie nur undeutlich. Ihre Konturen verschwammen, und sie schienen leicht zu schwanken. Sie näherten sich wie in einem alten, flackernden Film, der leicht hin und her ruckte und voller schwarzer Fussel war, und Ella dachte, was ist das? Was ist das bloß? … Ich war doch in Berlin … ist doch noch gar nicht so lange her … da war ich in Berlin und bin mit Max Rettungseinsätze gefahren … Was tue ich hier? Was habe ich hier zu suchen?
»Da ist sie«, sagte Hauptkommissar Aziz nur wenige Schritte von ihr enfernt.
Sie krümmte sich zusammen und dachte, ich will hier nicht sterben, und dann sah sie, wie auf einmal jemand zu Annika trat, ihren Kopf berührte, als wollte er sie streicheln, und sich wieder abwandte. Ella erkannte ihn sofort, obwohl er genauso verschwommen war wie die anderen Männer.
Dany.
Die Männer zwischen den Sitzen schossen. Ella presste ihr Gesicht auf den Teppichboden. Aber dann war Dany da, bei ihr, warf sich vor sie und stieß sie mit den Schultern unter die nächste Sitzreihe. Auf dem Rücken liegend, gab er zwei Schüsse über seine Füße hinweg ab. Die Patronenhülsen flogen rauchend aus der Kammer und fielen heiß auf Ellas Hand.
Die Männer zwischen den Sitzreihen erwiderten das Feuer. Sie schossen gleichzeitig, und Dany rollte sich zur Seite und richtete sich halb auf und schoss wieder. Ella wollte noch weiter unter die Sitze kriechen; ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Rote Polsterfetzen und Holzsplitter regneten durch die Luft, und Dany schoss noch immer, und seine Kugel schlug vor Ellas Augen in einen Fuß ein, zerfetzte Fleisch, Knochen und das Leder der handgenähten Schuhe, die sie an Aziz immer beeindruckt hatten.
Dany drehte sich um die eigene Achse, bis er auf dem Bauch lag, Gesicht und Pistolenlauf den anderen Männern zugewandt. Er drückte wieder ab und schoss so lange, bis die leere Waffe nur noch metallisch klackte. Die Schatten der Männer auf dem Boden neben Ella schienen zu tanzen. Dann erstarrten sie eine Sekunde oder zwei und sanken in Zeitlupe zusammen. Zuerst landeten ihre Waffen auf dem Boden und schließlich sie selbst, und an der Art, wie sie fielen, als aus den Schatten wieder Menschen wurden, konnte Ella erkennen, dass sie schon tot waren, bevor sie den Boden berührten.
Dany ließ die Pistole sinken. Auch sein Kopf sank herab, auf die Pistole, auf seine Hände. An seinem Hals pochte eine Ader zu schnell für jemanden, der einfach nur dalag. Er drehte den Kopf, bis er Ella sahen konnte. Sie rutschte unter der Sitzreihe hervor und dachte, er würde ihr Platz machen, aber das tat er nicht.
»Ich muss mit dir reden«, sagte er. »Ich habe nur noch nie etwas erklärt«, sagte er, »und ich habe nie gelernt, wie man sich entschuldigt.«
»Du hast mir gerade zum zweiten Mal das Leben gerettet«, sagte sie. »Das ist eine Art Entschuldigung, oder?« Sie sah, dass die Ader an seinem Hals immer schneller pochte; etwas Schweiß rann ihm vom Nacken den Hals hinunter.
»Ich dachte, es ginge anders«, sagte er, »aber dann war alles so durcheinander, und sie haben mich auf die Abschussliste gesetzt. Ich habe versucht, Mado zu finden, deswegen konnte ich nicht schneller …«
Er schwieg und hustete unterdrückt, bevor er weiterredete, schneller jetzt. »Erst als ich … Ich habe gehört, dass du hier bist … sie haben dafür gesorgt, dass die Polizei nicht reinkommt …«
Er sprach immer noch schnell, aber jetzt leise, mit kurzen Pausen an den falschen Stellen. Er hob den Kopf, versuchte aufzustehen, schaffte es aber nur bis auf die Knie. Da verharrte er und sah auf sie herab. Er ließ die Pistole los. Auf einmal lächelte er, etwas verlegen, wie jemand, der für kurze Zeit beinahe glücklich gewesen wäre und der aus eigener Schuld genauso schnell alles wieder verloren hatte, das Glück, die Hoffnung darauf und auch auf alles andere. »Ich wollte immer besser sein, als … als ich konnte.«
»Ja«, sagte Ella. »Ich auch.«
Langsam sank er nach vorn wie ein Moslem beim Gebet, doch er legte nur eine Hand auf den Boden. Mit der anderen tastete er nach Ella, als wollte er sich noch einmal vergewissern, dass sie wirklich gewesen war. So verharrte er bewegungslos, und nach einiger Zeit hörte die hervorgetretene Ader an seinem Hals auf zu pochen.
»Dany?«, sagte Ella. »Dany?«
»Ist er tot?«, fragte eine Frauenstimme.
Ella schaute hoch, und da stand Mado, blass und abgemagert. Ihr Gesicht war noch immer gezeichnet von den Verletzungen, mit denen Ella sie aufgefunden hatte. »Er hat mich befreit«, sagte sie. »Er hat sich um mich gekümmert, und gerade eben hat er die Polizei gerufen. Als wir hier ankamen, haben wir gesehen, dass schon Flics da waren, aber sie sind nicht reingegangen, obwohl Leute rausgerannt kamen und nach ihnen gerufen haben.« Sie hielt kurz inne, dann fügte sie hinzu: »Ich kann gar nicht fassen, dass er tot ist. Haben Sie ihn gut gekannt? «
»Nein. Nicht sehr gut.« Ella versuchte noch einmal aufzustehen, aber ihre Kraft reichte noch immer nicht aus, und sie ließ sich wieder zurücksinken.
»Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte Mado. Sie war kräftiger, als es den Anschein hatte, und zog Ella hoch, bis sie stand. »Sie sind voller Blut.«
»Ist nicht alles meins.« Ella hielt Mados Hand noch einen Moment fest. Sie versuchte zu lächeln, aber das war zu viel verlangt. Stattdessen sagte sie: »Ich kann es Ihnen jetzt nicht so zeigen, aber ich freue mich wirklich, Sie wiederzusehen.«
»Sie zittern.«
»Weil ich so wütend bin!«
Anni hat mich angesteckt mit ihrer Wut, dachte sie; wir sind zwei wütende Frauen geworden. Schwankend und mit weichen Knien ging sie langsam zu Annika. Annis Lippen standen ein wenig offen, aber sie atmete gleichmäßig, als wäre sie nach dem Anfall von der Ohnmacht einfach in den Schlaf hinübergeglitten. Die Augen unter den Lidern wanderten sanft hin und her. »Danke«, flüsterte Ella.
In der Ferne hörte sie Sirenen. Das an- und abschwellende Heulen war das einzige Geräusch bis auf den Klang der Schritte, als Raymond Lazare auf der Bühne zum Vorstandstisch ging. Der Bankier zog den schwach pulsierenden Datenstick, auf dem Li Deng Tsetung und die Mitglieder des Konsortiums gespeichert waren, aus einem Laptop und steckte ihn in die Tasche. Die Leinwand war jetzt leer, aber Ella hatte das Gefühl, noch immer die Stimme des Chinesen zu hören.
»Haben Sie das gesehen?«, rief Lazare ihr vom Bühnenrand aus zu. »Die ganze Welt hat es gesehen. Die ganze Welt weiß es jetzt. Morgen wird keiner vom Konsortium mehr auf seinem Stuhl sitzen, und Li Deng Tsetung wird in der Verbannung sterben.«
»Aber ihre Stühle bleiben, und andere werden darauf Platz nehmen«, sagte Ella, »so wie auf Ihrem.«
»Auf meinem?«
Ella hielt sich mit einer Hand an der Rückenlehne des Sitzes gleich neben ihr fest. »Sie haben allen etwas vorgespielt – Madeleine Schneider, Ihrem Neffen, Ihren Freunden Forell und Barrault, mir, Ihren Aktionären, der ganzen Welt! Jedem etwas anderes. Sie haben den Geläuterten gespielt, den die Begegnung mit der Vergangenheit seiner Familie auf den Weg des Anstands zurückgeführt hat und der die Schuld seines Urgroßvaters sühnen will.«
Sie sah, wie Mado sich näherte, um besser hören zu können, und sie redete weiter. »Sie haben den Erzengel gespielt, der den Kampf mit dem Drachen aufnimmt, um die Welt vor dem Bösen zu bewahren. Aber es hätte gar keiner Schlacht bedurft, das alles hier wäre gar nicht nötig gewesen. Ich kenne jetzt den wirklichen Grund, aus dem Sie diese Aufnahmen nicht früher verbreitet haben, warum Sie den Stick nicht längst eingesetzt haben, bevor seinetwegen all diese Menschen sterben mussten.«
Sie ließ die Lehne los, weil sie ihre Hände zum Reden brauchte, wenn sie sehr wütend war. »Nicht, weil niemand die Aufnahmen veröffentlich hätte. Auch nicht, weil sie nur glaubwürdig gewesen wären, wenn Sie leibhaftig dafür bürgen. Sondern aus reiner Eitelkeit. Sie wollten den großen Auftritt, um sich bei dieser Hauptversammlung von ihren Aktionären und den Medien feiern zu lassen. Sie wollten nicht die Demokratie, nicht die Menschen Europas schützen, sondern Ihre Konkurrenten auf der europäischen Bühne ausschalten und sich dazu auch noch als Retter vor der chinesischen Bedrohung feiern lassen.«
»Stimmt das, Monsieur Lazare?«, fragte Mado.
Erst jetzt schien der Bankier zu erkennen, um wen es sich bei der jungen Frau handelte, die hinter Ella stand. Er trat noch näher an den Bühnenrand, um besser sehen zu können. »Mademoiselle Schneider? Madeleine?«
»Stimmt es, Monsieur Lazare? Haben Sie mir und allen anderen etwas vorgespielt?«
»Nein.« Mit vorsichtigen Schritten verließ Lazare die Bühne, die linke Hand gegen die Schusswunde an seiner Schulter gepresst. »Nein, so ist es nicht, Madeleine.« Er freute sich, tatsächlich, er freute sich. »Wie schön, Sie wiederzusehen. Es tut mir so leid, dass ich Sie in Gefahr gebracht habe, und ich möchte mich – «
»Stimmt es?«, beharrte Mado, und in ihrem Gesicht stand die Hoffnung, es möge nicht so sein.
Lazare verharrte einen Moment wie ein Waldtier, das im Wind das leise Rascheln der Gefahr gehört hat. »Nein.« Er war bleich, aber seine Stimme zitterte nicht; nur die Wiedersehensfreude war verflogen. Er schüttelte den Kopf. »Der Einzige, dem ich etwas vorgespielt habe, war ich selbst. Die anderen, der Rest, das hat sich danach von selbst ergeben.« Langsam trat er auf sie zu. »Ich habe es geglaubt. Ich habe es wirklich geglaubt – dass ich anders wäre. Ich wollte es wiedergutmachen, alles, was mein Urgroßvater getan hatte. Ich habe es doch versucht, wegen meines Neffen, Ihretwegen, Madeleine. Wegen all der Menschen.«
Er ließ die Hand sinken, wie um das Blut daran zu zeigen. »Und ich habe so lange durchgehalten, weil ich mir selbst eine Belohnung versprochen hatte. Ist das Eitelkeit? Ich habe doch trotzdem das Richtige getan – ich habe viele Menschen gerettet, die zugrunde gegangen wären, wenn das Konsortium Erfolg gehabt hätte. Hier, sehen Sie, man hat auf mich geschossen …« Er berührte die Wunde kurz mit der Fingerspitze, als wollte er prüfen, ob das Blut echt war.
Er sah nicht Ella an, sondern Mado, als müsste sie das doch verstehen. Aber Mado wandte das Gesicht ab, um seinem Blick nicht zu begegnen. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich; in der einen Sekunde schien er noch etwas in ihr zu sehen, etwas, das eine Erinnerung auslöste, und in der nächsten wirkte es, als sähe er gar nichts mehr, nicht einmal sie.
Er wandte sich ab, blickte zur Bühne hinüber, dann zu einer der Türen, hinter denen mehr und mehr uniformierte Flics die Gänge bevölkerten. Noch einmal kehrten seine Augen zu Mado zurück, bevor er mit unsicheren Schritten zur nächsten Tür ging, wo ihn ein Sanitäter in Empfang nahm. Einige der Polizeibeamten in Uniform und auch ein paar in Zivil sahen ihm entgegen, als hätten sie sehr lange auf diesen Augenblick gewartet.
Mado sagte: »Auf Wiedersehen, Doktor Bach. Und danke, dass Sie mir zweimal das Leben gerettet haben. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das – «
»Das ist mein Beruf«, unterbrach Ella sie.
»Ich gehe wieder nach Hause«, die junge Studentin zuckte mit den Schultern und strich sich verlegen eine Haarsträhne hinter das linke Ohr, »wenn Sie also mal ins Elsass kommen…«
»Ja«, sagte Ella, »gern.«
Annika stöhnte leise. Sie drehte den Kopf und seufzte, und jetzt dachte Ella, scheiß drauf, ob du wieder hochkommst und setzte sich zu ihr auf den Boden. Sie sollte eigentlich in den Taschen von Annis funkelnagelneuer Vivian-Westwood-Jacke nach den Tropfen suchen, aber für einen Moment reichte es ihr, so bei ihr zu sitzen und ihr beim Aufwachen zu helfen. Das mit den Medikamenten machen wir später, dachte sie; wir finden einen Weg, mit dieser Krankheit umzugehen. Annika schlug die Augen auf und blickte sie müde und etwas verloren an. »Wo bin ich?«, fragte sie.
»Bei mir«, antwortete Ella.