KAPITEL 3
Sie weckten mich um sechs Uhr morgens. Mir kam es vor wie mitten in der Nacht. Meine Kerze war vollkommen heruntergebrannt, und die Vorhänge am Fenster waren so schwer, dass sie kein Licht hereinließen. Als Margaret, das Dienstmädchen, an meine Tür klopfte, dachte ich, ich sei in meinem alten Zimmer in der Lant Street. Ich war ganz sicher, dass sie eine Diebin war, die aus dem Gefängnis ausgebrochen und hergekommen war, um sich von Mr. Ibbs mit einer Feile die Fußfesseln durchtrennen zu lassen. So etwas kam manchmal vor, und manchmal waren die Diebe nette Männer, die uns kannten, und manchmal waren es auch verzweifelte Schurken, die nichts mehr zu verlieren hatten. Einer hatte Mr. Ibbs einmal ein Messer an die Kehle gesetzt, weil Mr. Ibbs ihm nicht schnell genug feilte. Und so fuhr ich hoch, als ich Margarets Klopfen hörte, und rief: »Oh! Haltet ein!« – wobei ich nicht hätte sagen können, wer oder was einhalten sollte und wieso, und Margaret wusste es wohl ebenso wenig. Sie öffnete die Tür einen Spalt, spähte herein und fragte flüsternd: »Haben Sie gerufen, Miss?« Sie hatte einen Krug warmen Wassers für mich dabei und kam herein und entzündete das Feuer im Kamin. Dann griff sie unter das Bett und holte den Nachttopf hervor und entleerte ihn in einen Eimer für Schmutzwasser und wischte ihn mit einem feuchten Lappen sauber, der von ihrer Schürze baumelte.
Zu Hause war ich es immer gewesen, die die Nachttöpfe geputzt hatte. Als ich nun sah, wie Margaret meine Pfütze in ihren Eimer schüttete, war ich mir nicht sicher, ob mir das so recht war. Doch ich sagte höflich: »Danke, Margaret« – und dann wünschte ich, ich hätte es gelassen, denn als sie das hörte, warf sie den Kopf in den Nacken, als wolle sie sagen: Wer, glaubst du, bist du, dass du mir dankst?
Dienstboten. Sie sagte, ich solle mein Frühstück in Mrs. Stiles Anrichteraum einnehmen. Dann drehte sie sich um und ging, nicht ohne jedoch rasch noch einen Blick auf mein Kleid, meine Schuhe und meinen geöffneten Koffer zu werfen.
Ich wartete, bis das Feuer ordentlich brannte, dann stand ich auf und kleidete mich an. Es war zu kalt zum Waschen. Mein Kleid fühlte sich klamm an. Als ich den Vorhang vor dem Fenster zurückzog und das Tageslicht hereinließ, sah ich – was ich am Abend zuvor im Schein der Kerze nicht hatte erkennen kön-nen –, dass die Feuchtigkeit die Zimmerdecke mit braunen Streifen überzogen und das Holz an den Wänden mit weißen Flecken verunziert hatte.
Aus dem Zimmer nebenan vernahm ich ein Murmeln. Ich hörte, wie Margaret sagte: »Ja, Miss.« Dann wurde eine Tür geschlossen, und es war still. Ich ging hinunter, um zu frühstücken – zuerst verirrte ich mich in den dunklen Korridoren am Fuß des Treppenaufgangs für die Dienstboten und fand mich in dem Hof mit dem Klosett wieder. Um das Klosett wucherten, wie ich jetzt feststellte, Nesseln, und zwischen den Pflastersteinen im Hof wuchs das Unkraut aus allen Ritzen. Efeu klammerte sich an die Mauern des Hauses, und in manchen Fenstern fehlten die Scheiben. Gentleman hatte doch recht gehabt – das Anwesen war das Einbrechen nicht wert. Auch die Dienstboten hatte er richtig eingeschätzt. Als ich Mrs. Stiles’ Anrichteraum gefunden hatte, saß dort ein Mann in Kniebundhosen und Seidenstrümpfen und mit einer gepuderten Perücke auf dem Kopf. Das war Mr. Way. Er war seit fünfundvierzig Jahren Mr. Lillys Verwalter, wie er erklärte, und das sah man ihm auch an. Als das Mädchen das Frühstück hereinbrachte, wurde er als Erster bedient. Es gab Speckstreifen und ein Ei und einen Krug Bier dazu. Hier trank man zu allen Mahlzeiten Bier; es gab eigens einen Raum, in dem es gebraut wurde. Und da hieß es, die Londoner würden saufen!
Mr. Way sagte kaum ein Wort zu mir, sprach aber mit Mrs. Stiles über die Haushaltsführung. Er fragte nur nach der Familie, in deren Diensten ich vorgeblich gestanden hatte, und als ich ihm sagte, es seien die Dunravens aus der Whelk Street in Mayfair gewesen, da nickte er und machte ein wissendes Gesicht und gab zurück, er glaube, deren Butler zu kennen. Was nur beweist, was für ein Aufschneider er war.
Um sieben ging er. Mrs. Stiles verließ den Tisch nie, bevor er aufgestanden war. Als sie sich schließlich erhob, sagte sie: »Es wird Sie sicher freuen zu hören, Miss Smith, dass Miss Maud wohl geruht hat.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Sie fuhr dessen ungeachtet fort: »Miss Maud steht früh auf. Sie hat darum gebeten, dass man Sie zu ihr schickt. Möchten Sie sich die Hände waschen, bevor Sie hinaufgehen? Miss Maud ist da genau wie ihr Onkel etwas eigen.«
Mir kamen meine Hände recht sauber vor, doch ich wusch sie trotzdem in einem kleinen Spülstein, der sich in einer Ecke des Anrichteraums befand. Das Bier war mir zu Kopf gestiegen, und ich wünschte, ich hätte es nicht getrunken. Ich wünschte auch, ich hätte das Klosett benutzt, als ich im Hinterhof darauf gestoßen war. Ich war sicher, ich würde den Weg dorthin nie wieder finden. Ich war nervös.
Mrs. Stiles brachte mich hinauf. Wir nahmen, wie am Abend zuvor, den Treppenaufgang für die Dienstboten, doch dann bog sie in einen prachtvolleren Korridor ein, von dem ein paar Türen abgingen. An eine davon klopfte sie. Ich hörte die Antwort nicht, die darauf gegeben wurde, doch ich vermute, dass Mrs. Stiles sie gehört hatte. Sie straffte die Schultern, drehte den eisernen Knauf und führte mich hinein.
Es war dunkel in dem Zimmer, so wie in allen Zimmern hier. Die Wände waren mit alten schwarzen Holzpaneelen verkleidet, und der Boden war – bis auf einige stellenweise ganz fadenscheinige türkische Teppiche – ebenfalls schwarz. Einige große schwere Tische standen herum und ein, zwei harte Kanapees. Ein Gemälde mit einem braunen Hügel war zu sehen und eine Vase voller getrockneter Blätter und eine tote Ringelnatter in einem Glaskasten mit einem weißen Ei im Maul. Durch die Fenster konnte man den grauen Himmel und die kahlen nassen Äste der Bäume erblicken. Die Fensterscheiben waren klein und in Blei gefasst und rappelten in den Rahmen.
Ein kleines Feuer zischte in dem riesigen altmodischen Kamin, und davor stand sie, Miss Maud Lilly, die Herrin des Hauses, auf die sich all unsere Pläne gründeten. Sie blickte in die nur schwach züngelnden Flammen und den Rauch. Sie schrak zusammen, als sie meine Schritte näher kommen hörte, wandte den Kopf und blinzelte.
Nach allem, was Gentleman gesagt hatte, hatte ich gedacht, sie wäre außergewöhnlich hübsch. Doch das war sie nicht – wenigstens fand ich das, als ich sie in jenem ersten Augenblick musterte; ich fand, sie wirkte eher sehr gewöhnlich. Sie war größer als ich, vier, fünf Zentimeter, war also von durchschnittlicher Größe, denn ich bin eher klein. Ihr Haar war von einem helleren Braun als meines, genau wie ihre Augen. Nur ihre Lippen und Wangen waren eindeutig hübscher – da stach sie mich aus, das muss ich zugeben, denn ich biss oft auf meinen Lippen herum, und auf meinen Wangen prangten Sommersprossen, und überhaupt wurden meine Gesichtszüge in der Regel als kantig bezeichnet. Es hieß oft, ich wirke sehr jung – nun, wenn ich jung aussah, dann war Maud Lilly ein Kleinkind, ein Küken, ein Gimpel, vollkommen unbeleckt.
Sie schrak wie gesagt zusammen, als ich hereinkam; dann ging sie einige Schritte auf mich zu, und ihre blassen Wangen färbten sich tiefrot. Sie blieb stehen und faltete die Hände hübsch anständig vor dem Rock. Einen solchen Rock hatte ich noch nie an einem Mädchen ihres Alters gesehen – er war ausgestellt und kurz und endete über ihren Knöcheln. Und um die Taille, die erstaunlich schmal war, trug sie eine Schärpe. Ihr Haar steckte in einem samtenen Haarnetz. An den Füßen hatte sie Pantöffelchen aus rotem Prunell. Ihre Hände steckten in sauberen weißen Handschuhen, die fest zugeknöpft waren.
Sie sagte: »Miss Smith. Sie sind Miss Smith, nicht wahr? Und Sie sind aus London hergekommen, um meine Zofe zu werden! Und darf ich Sie Susan nennen? Ich hoffe, du wirst Briar mögen, Susan, und ich hoffe, du wirst mich mögen. In beiden Fällen gibt es nicht viel anderes zu mögen. Ich glaube, es wird dir sehr leichtfallen – ja, wirklich.« Sie sprach mit einer leisen, lieblichen, stockenden Stimme, legte dabei den Kopf schief und sah mich kaum an. Ihre Wangen waren noch immer hochrot.
Ich sagte: »Ich werde Sie ganz sicher mögen, Miss.« Dann erinnerte ich mich an meine Ausbildung in der Lant Street, ergriff meine Röcke und machte einen Knicks. Und als ich mich wieder aufrichtete, lächelte sie, kam auf mich zu und nahm meine Hand. Dann sah sie Mrs. Stiles an, die hinter mir in der Tür stehengeblieben war.
»Sie brauchen nicht zu warten«, sagte Maud Lilly freundlich. »Aber Sie sind gewiss nett zu Miss Smith gewesen, da bin ich mir sicher.« Sie sah mir in die Augen. »Wie du vielleicht schon gehört hast, Susan, bin ich eine Waise, ebenso wie du. Ich bin nach Briar gekommen, als ich noch sehr klein war und niemanden hatte, der sich um mich kümmerte. Ich kann dir gar nicht sagen, wie Mrs. Stiles mir seither gezeigt hat, was wahre Mutterliebe bedeutet.«
Sie lächelte und legte den Kopf schief. Mrs. Stiles wich ihrem Blick aus, aber ihre Wangen färbten sich rosig, und ihre Lider flatterten. Ich hätte sie nicht für eine sonderlich mütterliche Frau gehalten, aber Dienstboten entwickeln oft sentimentale Gefühle für die Herrschaft, bei der sie angestellt sind, so wie Hunde an brutalen Kerlen hängen, die sie schikanieren. Ich weiß, wovon ich rede.
Mrs. Stiles blinzelte jedenfalls und machte ein bescheidenes Gesicht; dann ging sie hinaus. Maud lächelte wieder und führte mich zu einem der Kanapees mit den steifen Rückenlehnen, das gleich vor dem Feuer stand. Sie setzte sich neben mich. Sie erkundigte sich nach meiner Reise – »Wir dachten schon, du wärst abhanden gekommen!«, sagte sie – und nach meinem Zimmer. Ob mir mein Bett zusage? Ob mir das Frühstück recht gewesen sei?
»Und du kommst wirklich aus London?«, fragte sie. Das war das Einzige, was die Leute interessierte, seit ich die Lant Street verlassen hatte – als ob ich von anderswo gekommen sein könnte! Maud jedoch fragte auf eine andere Art und Weise als die anderen, nicht wie eine einfältige Landpomeranze, sondern sehr aufmerksam und wissensdurstig – als bedeute London ihr etwas und als sehne sie sich danach, mehr darüber zu erfahren.
Ich dachte natürlich, ich wüsste, warum dem so war.
Dann teilte sie mir mit, worin meine Aufgaben als ihre Zofe bestanden: Hauptsächlich sollte ich, wie ich bereits wusste, ihr Gesellschaft leisten, mit ihr im Park spazieren gehen und mich um ihre Kleider kümmern. Sie senkte den Blick.
»Du wirst die Mode hier in Briar wohl ziemlich altmodisch finden«, sagte sie. »Modische Belange spielen hier kaum eine Rolle – vermutlich weil wir so wenig Besuch empfangen. Mein Onkel möchte nur, dass ich sauber und ordentlich gekleidet bin. Du jedoch wirst an die feine Mode Londons gewöhnt sein.«
Ich dachte an Daintys Frisur und Johns Hundefellmantel. »Könnte man sagen«, erwiderte ich.
»Und deine vorherige Herrin«, fuhr sie fort, »sie war wohl eine äußerst vornehme Dame? Ich vermute, sie würde lachen, könnte sie mich sehen!«
Das Rot ihrer Wangen vertiefte sich, als sie das sagte, und wieder wandte sie den Blick ab, und wieder dachte ich: Du Gimpel!
Doch ich antwortete, Lady Alice – so hieß die Herrin, die Gentleman sich für mich ausgedacht hatte – sei so liebenswürdig, sie lache über niemanden, und sie wisse sehr genau, dass herrliche Roben nichts bedeuteten, da nur das Herz zähle, das darunter schlüge. Alles in allem fand ich es sehr klug, was ich da erwiderte, und Maud schien das auch zu denken, denn nun sah sie mich ganz anders an, und die Röte auf ihren Wangen verflog, und sie nahm meine Hand und sagte:
»Ich glaube, du bist ein gutes Mädchen, Susan.«
Ich sagte: »Das hat Lady Alice auch immer gesagt.«
Dann fiel mir das Zeugnis ein, das Gentleman für mich geschrieben hatte, und dies schien mir der passende Moment, es vorzuzeigen. Ich holte es aus der Tasche und reichte es Maud. Sie stand auf und brach das Siegel, dann ging sie zum Fenster und stellte sich so hin, dass Licht auf das Blatt fiel. Sie stand eine ganze Weile da und betrachtete die verschnörkelte Handschrift. Einmal warf sie mir einen kurzen Seitenblick zu, und da schlug mein Herz ein wenig schneller, weil ich dachte, ihr könne etwas merkwürdig vorgekommen sein. Doch das war es nicht, denn schließlich sah ich, dass die Hand, in der sie das Blatt hielt, zitterte, und mir kam der Gedanke, dass sie vermutlich ebenso wenig wusste wie ich, wie ein richtiges Zeugnis auszusehen hatte, und nun nicht so recht wusste, was sie sagen sollte. Als mir dieser Gedanke kam, da tat sie mir richtig leid, weil sie keine Mutter hatte.
»Nun«, sie faltete das Blatt klein zusammen und steckte es in ihre eigene Tasche, »Lady Alice hält in der Tat große Stücke auf dich. Ich nehme an, es hat dich sehr geschmerzt, diese Stellung aufgeben zu müssen.«
»Das kann man wohl sagen, Miss«, erwiderte ich. »Aber wissen Sie, Lady Alice geht nach Indien. Ich glaube, mir wäre die Sonne da zu heiß.«
Sie lächelte. »Du bevorzugst also den grauen Himmel über Briar? Hier scheint die Sonne nämlich nie, musst du wissen. Mein Onkel hat es verboten. Starkes Sonnenlicht lässt Gedrucktes verblassen.«
Sie lachte, wobei sie ihre Zähne zeigte, die sehr klein waren und sehr weiß. Ich lächelte, hielt aber die Lippen fest geschlossen, denn meine Zähne, die heute gelb sind, waren, so fürchte ich, auch damals schon recht gelblich.
Maud sagte: »Du weißt, dass mein Onkel ein Gelehrter ist, nicht wahr, Susan?«
»So wurde mir gesagt, Miss.«
»Er unterhält eine umfangreiche Bibliothek. Die größte ihrer Art in ganz England. Ich denke, du wirst sie bald zu sehen bekommen.«
»Das ist sicher ein beeindruckender Anblick, Miss.«
Sie lächelte wieder. »Du liest bestimmt gern?«
Ich schluckte. »Lesen, Miss?« Sie nickte abwartend. »Ziemlich«, erwiderte ich schließlich. »Das heißt, das würde ich bestimmt, wenn ich mich jemals mit Büchern und Zeitungen beschäftigt hätte. Was ich damit meine« – ich hüstelte – »wenn man es mir zeigen würde.«
Sie starrte mich an.
»Es mir beibringen würde, meine ich«, fügte ich hinzu.
Sie starrte mich noch durchdringender an. Und dann lachte sie ein kurzes ungläubiges Lachen. »Du meinst doch nicht etwa, du kannst nicht lesen? Nicht im Ernst? Nicht ein Wort, nicht einen Buchstaben?« Ihr Lächeln verwandelte sich in ein Stirnrunzeln. Neben ihr auf dem kleinen Tisch lag ein Buch. Sie nahm es und reichte es mir. »Na los«, sagte sie freundlich. »Ich glaube, du bist bloß bescheiden. Lies mir ein Stück vor – es macht nichts, wenn du ins Stocken gerätst.«
Ich hielt das Buch in der Hand, ohne ein Wort zu sagen, und begann zu schwitzen. Ich schlug es auf und starrte auf die Seite. Sie war voll eng gedruckter schwarzer Schrift. Ich schlug eine andere Seite auf. Die sah noch schlimmer aus. Ich spürte Mauds unverwandten Blick, der wie eine Flamme auf meinem glühenden Gesicht brannte. Ich spürte das Schweigen. Mein Gesicht glühte noch heißer. Versuch es einfach, dachte ich.
»Vater Unser«, setzte ich an, »der du bist im Himmel –«
Doch dann fiel mir der Rest nicht mehr ein. Beschämt schloss ich das Buch und blickte zu Boden. Ich dachte verbittert: Nun denn, das ist das Ende all unserer Ränke, die wir geschmiedet haben. Sie wird keine Zofe wollen, die ihr nicht einmal ein Buch vorlesen oder kunstvolle Briefe in verschnörkelter Handschrift schreiben kann!
Ich hob den Blick, sah sie an und sagte: »Man könnte es mir beibringen, Miss. Ich bin willens. Ich bin mir sicher, ich könnte es lernen, im Handumdrehen –«
Doch Maud schüttelte nur den Kopf, und ihr Gesichtsausdruck war nicht zu beschreiben. »Es dir beibringen?« Sie trat ganz dicht an mich heran und nahm mir sanft das Buch aus der Hand. »O nein! Nein, das werde ich nicht zulassen. Nicht lesen! Ach, Susan, würdest du in diesem Haus leben, als Nichte meines Onkels, dann verstündest du, was ich meine. Wahrlich, du verstündest es!«
Sie lächelte. Und während sie mir noch immer unverwandt in die Augen sah und mich anlächelte, da schlug die große Glocke des Herrenhauses acht Mal, langsam und schwermütig, und ihr Lächeln verschwand.
»Nun muss ich zu Mr. Lilly«, sagte sie und wandte sich ab. »Und wenn die Uhr eins schlägt, dann werde ich wieder frei sein.«
Wie sie das sagte, da klang sie wie ein Mädchen in einem Märchen. Gibt es nicht solche Geschichten von Onkeln, die Magier sind – mit Zauberern, Ungeheuern und was weiß ich noch alles?
Sie sagte: »Hol mich um ein Uhr vor dem Zimmer meines Onkels ab.«
»Jawohl, Miss«, erwiderte ich.
Sie sah sich leicht zerstreut um. Über dem Kamin hing ein Spiegel, und zu diesem ging sie nun und strich sich mit den behandschuhten Händen über das Gesicht und dann über den Kragen. Ich schaute zu, wie sie sich vorbeugte. Ihr kurzes Kleid hob sich hinten und entblößte ihre Waden.
Ihre Augen trafen meine im Spiegel. Ich knickste abermals.
»Soll ich gehen, Miss?«
Sie trat einen Schritt zurück. »Bleib«, bat sie und winkte mich heran, »und räum meine Zimmer auf, ja?«
Sie ging zur Tür. Mit der Hand auf dem Knauf hielt sie inne. »Ich hoffe, du wirst hier glücklich sein, Susan.« Nun wurde sie wieder rot. Meine Wangen dagegen wurden wieder kühler, als ich das sah. »Ich hoffe, deine Tante in London wird dich nicht allzu sehr vermissen. Es war doch eine Tante, die Mr. Rivers erwähnte?« Sie schlug die Augen nieder. »Ich hoffe, Mr. Rivers war wohlauf, als du ihn zuletzt gesehen hast?«
Sie ließ diese Frage so beiläufig fallen, als läge ihr nichts daran. Aber ich wusste, dass Trickbetrüger es genauso machen; sie lassen einen echten Shilling in einen Haufen falscher Münzen fallen, damit alle Münzen wie echte aussehen. Ich und meine alte Tante scherten sie keinen Deut!
»Er war wohlauf, Miss. Und er lässt Ihnen die besten Grüße ausrichten.«
Sie hatte die Tür inzwischen geöffnet und sich halb dahinter versteckt. »Wirklich?«, fragte sie.
»Wirklich, Miss.«
Sie lehnte die Stirn gegen das Holz. »Er ist sehr liebenswürdig«, sagte sie verträumt.
Ich dachte daran, wie Gentleman neben dem Küchenstuhl auf dem Boden gehockt und mit seiner Hand tief unter die vielen Unterröcke gegriffen und dabei gespottet hatte: Meine süße kleine Schlampe.
»Er ist ganz sicher sehr liebenswürdig«, erwiderte ich.
Dann hörte man von irgendwo im Haus das schnelle grämliche Bimmeln einer kleinen Handglocke, und Maud rief: »Das ist mein Onkel!« Sie drehte sich um und lief davon; die Tür ließ sie halb offen. Ich hörte das Schlappen ihrer Pantöffelchen und das Knarzen der Treppenstufen, als sie nach unten eilte.
Ich wartete einen Moment, dann ging ich zur Tür und trat mit dem Fuß dagegen, damit sie zuschlug. Ich ging zum Feuer hinüber und wärmte mir die Hände. Ich glaube, mir war nicht mehr richtig warm, seit ich die Lant Street verlassen hatte. Ich hob den Kopf, und als ich den Spiegel erblickte, in den Maud gesehen hatte, ging ich hin und betrachtete mein Gesicht darin – meine Wangen mit den Sommersprossen und meine Zähne. Ich streckte mir die Zunge raus. Dann rieb ich mir die Hände und kicherte. Maud war genau so, wie Gentleman es versprochen hatte, und offensichtlich bereits Hals über Kopf in ihn verliebt. Es war fast, als wären die dreitausend Pfund bereits abgezählt, eingepackt und mit meinem Namen versehen, und der Arzt stünde schon mit einer Zwangsjacke am Tor des Irrenhauses bereit.
Das dachte ich damals, nachdem ich Maud Lilly zum ersten Mal gesehen hatte.
Doch ich war nicht ganz zufrieden bei dem Gedanken. Und mein Kichern, muss ich gestehen, war ein wenig gezwungen. Ich wusste jedoch nicht so recht warum. Vielleicht lag es an der Düsternis überall – denn das Haus kam mir dunkler und stiller vor denn je, nun nachdem Maud gegangen war. Man hörte nur, wie die Asche im Kamin in sich zusammenfiel und das Rappeln und Klappern der Fensterscheiben. Ich trat ans Fenster. Es zog ganz fürchterlich. Man hatte kleine rote Sandsäcke auf die Fenstersimse gelegt, die den Luftzug abhalten sollten. Doch sie erfüllten ihren Zweck nicht und waren alle nass und schimmelten. Ich berührte einen von ihnen, und als ich die Hand wieder wegzog, war sie ganz grün. Ich stand da und zitterte und betrachtete die Aussicht – wenn man es als Aussicht bezeichnen konnte, denn da war nichts weiter zu sehen als Gras und Bäume. Ein paar schwarze Vögel zogen Würmer aus dem Rasen. Ich fragte mich, in welcher Richtung London wohl lag.
Ich wünschte mir so sehr, einen der Säuglinge schreien zu hören, oder Mr. Ibbs’ Schwester. Ich hätte fünf Pfund gegeben für ein Päckchen Diebesgut oder ein paar unechte Münzen, die es zu schwärzen galt.
Dann fiel mir etwas anderes ein. Räum meine Zimmer auf, hatte Maud gesagt. Und hier gab es nur ein Zimmer, das wohl ihr Salon war. Also musste es irgendwo noch ein weiteres Zimmer geben, mit einem Bett, in dem sie schlief. Nun war es aber so, dass in diesem Haus alle Wände mit dunklen Eichenpaneelen verkleidet waren, die das Auge verwirrten, da die Türen so eingesetzt waren, dass man sie kaum erkennen konnte. Doch als ich ganz genau hinsah, konnte ich in der Wand gegenüber tatsächlich einen Spalt ausmachen, und plötzlich sprang mir die Tür förmlich ins Auge, klar und deutlich.
Es war die Tür zu ihrem Schlafzimmer, genau wie ich vermutet hatte. Und in dem Zimmer gab es noch eine weitere Tür – die Tür zu meinem Zimmer, an der ich in der Nacht zuvor gestanden und auf ihren Atem gelauscht hatte. Das kam mir sehr töricht vor, nun nachdem ich gesehen hatte, was sich auf der anderen Seite der Tür befand. Denn es war bloß das gewöhnliche Schlafzimmer einer Dame – nicht besonders beeindruckend, aber beeindruckend genug. Ein vager süßlicher Duft hing in der Luft, und ein hohes Bett mit Vorhängen und einem Himmel aus altem Moiré stand darin. Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht niesen müsste, würde ich in einem solchen Bett schlafen. Ich dachte an all den Staub und die toten Fliegen und Spinnen, die sich vermutlich in diesem Betthimmel angesammelt hatten, der aussah, als sei er seit neunzig Jahren nicht mehr heruntergenommen worden. Das Bett war gemacht, doch ein Nachthemd lag darauf – ich faltete es und legte es unter das Kopfkissen, und dort lagen auch ein paar Haare, die ich abzupfte und ins Feuer warf. Soweit zu meinen Aufgaben als Kammerzofe.
Auf dem Kaminsims stand ein gewaltiger betagter Spiegel, wie Marmor von silbernen und grauen Rissen durchzogen. Weiter hinten im Raum befand sich ein kleiner altmodischer Wäscheschrank, über und über mit geschnitzten Blumen und Trauben verziert, ganz schwarz poliert und hier und da abgesplittert. Ich nehme an, die Damen haben damals, als dieser Schrank gefertigt wurde, nichts als Feigenblätter getragen, denn nun lagen sechs oder sieben Kleider darin, achtlos hineingestopft, unter deren Gewicht die Bretter ächzten, und ein Gestell für Reifröcke, weswegen sich die Türen nicht mehr schließen ließen. Wieder dachte ich, wie bedauerlich es war, dass Maud keine Mutter hatte, denn die hätte dieses ganze alte Gerümpel sicher hinausschaffen lassen und ihr etwas Moderneres, Heitereres hingestellt.
Doch wenn unser Geschäft in der Lant Street mich eines gelehrt hatte, dann den richtigen Umgang mit hochwertiger Ware. Ich nahm die Kleider heraus – eines so merkwürdig kurz und mädchenhaft wie das andere –, schüttelte sie aus und legte sie ordentlich zurück in die Fächer. Dann klemmte ich einen Schuh gegen den Reifrock, wodurch der plattgedrückt wurde, und nun ließen sich die Türen wieder schließen. Der Schrank stand in einer Nische. In einer anderen befand sich eine Frisierkommode mit Bürsten, Fläschchen und Nadeln – auch hier schuf ich Ordnung. Und dann befasste ich mich mit den reichverzierten Schubladen. In ihnen befanden sich nichts als Handschuhe. Mehr Handschuhe als in einem Modegeschäft. Weiße in der obersten Schublade, schwarze Seidenhandschuhe in der mittleren und braune Lederfäustlinge in der unteren. Sie alle waren auf der Innenseite des Handgelenks mit einem leuchtendroten Faden bestickt, vermutlich war es Mauds Name, der da stand. Daran hätte ich mich gerne mal mit Schere und Nadel versucht.
Doch das tat ich natürlich nicht, sondern ich ließ die Handschuhe hübsch sortiert und ordentlich aufgeräumt und wanderte im Zimmer umher, bis ich alles einmal angefasst und genau angesehen hatte. Viel mehr gab es nicht zu sehen, allerdings war da noch eine seltsame Sache: eine kleine Holzschatulle mit Elfenbeinintarsien, die auf einem Tischchen neben dem Bett stand. Die Schatulle war verschlossen, und als ich sie in die Hand nahm, rappelte es darin dumpf. Ich konnte keinen Schlüssel entdecken: Ich nahm an, Maud trug ihn bei sich. Das Schloss war jedoch sehr einfach. Solchen Schlössern braucht man eigentlich nur einen Draht zu zeigen, dann öffnen sie sich von selbst wie eine Auster, die man in Salzlake legt. Ich benutzte eine von Mauds Haarnadeln.
Das Holzkästchen war mit Plüsch ausgelegt. Die Scharniere waren aus Silber und gut geölt und quietschten nicht. Ich weiß gar nicht so recht, was ich zu finden erwartet hatte – ein Andenken von Gentleman vielleicht, einen Brief, ein kleines Liebespfand. Doch darin lag das winzige Porträt einer hübschen, blonden Dame in einem alten Goldrahmen, der an einem verblassten Band hing. Sie hatte gütige Augen und war in der Mode von vor zwanzig Jahren gekleidet. Die Frau sah Maud nicht besonders ähnlich, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass es ihre Mutter war. In dem Fall war es aber doch recht eigenartig, dass Maud deren Bild in einer Schatulle wegschloss, statt es bei sich zu tragen.
Ich grübelte darüber nach, drehte das Bild in den Händen, suchte nach Spuren, bis der Rahmen, der kalt gewesen war, als ich ihn in die Hand nahm, sich ganz warm anfühlte. Dann hörte ich plötzlich ein Geräusch irgendwo im Haus und dachte daran, wie es wäre, wenn Maud – oder Margaret oder Mrs. Stiles – ins Zimmer käme und mich dort vor der offenen Schatulle stehen sähe, das Porträt in der Hand. Ich legte es schnell zurück an seinen Platz und verschloss die Schatulle wieder.
Die Haarnadel, die ich zurechtgebogen hatte, um das Schloss zu knacken, behielt ich. Schließlich wollte ich nicht, dass Maud sie fand und mich für eine Diebin hielt.
Weiter gab es nichts mehr für mich zu tun. Ich stand eine Weile am Fenster. Um elf Uhr brachte eines der Mädchen ein Tablett herauf. »Miss Maud ist nicht hier«, sagte ich, als ich die silberne Teekanne sah. Doch der Tee war für mich bestimmt. Ich trank ihn in winzigen elfengleichen Schlucken, damit ich länger etwas davon hatte. Dann brachte ich das Tablett wieder hinunter, weil ich dem Mädchen das Hin- und Herlaufen ersparen wollte. Als sie jedoch sahen, wie ich damit in die Küche kam, starrten die Mädchen mich an, und die Köchin sagte: »Also, das ist doch …! Wenn Sie der Meinung sind, dass Margaret nicht schnell genug ist, dann sollten Sie mit Mrs. Stiles sprechen. Aber ich weiß, dass Miss Fee nie jemand des Müßiggangs bezichtigt hat.«
Miss Fee war die irische Zofe, die an Scharlach erkrankt war. Ich fand es gemein, dass man mich für stolzer hielt als sie, obgleich ich doch nur versucht hatte, nett zu sein.
Doch ich sagte nichts. Ich dachte nur: Miss Maud mag mich jedenfalls!
Denn sie war die Einzige dort, die ein freundliches Wort für mich übrig gehabt hatte. Und plötzlich wünschte ich, die Zeit möge schneller vergehen, nur damit ich rasch wieder bei ihr wäre.
Wenigstens wusste man in Briar immer, was die Stunde geschlagen hatte. Es schlug zwölf und dann halb eins, und ich machte mich auf den Weg zurück zu der Hintertreppe und drückte mich dort herum, bis eines der Zimmermädchen vorbeikam und mir den Weg zur Bibliothek wies. Diese befand sich im ersten Stock; man gelangte über eine Galerie dorthin, die eine imposante Holztreppe und eine Halle überblickte. Doch auch hier war alles düster und heruntergekommen. Man hätte, wenn man sich umsah, nie gedacht, dass man sich im Heim eines kolossalen Gelehrten befand. Neben der Tür zur Bibliothek hing, auf einer Holzplakette befestigt, der Kopf irgendeines Geschöpfes mit einem Glasauge: Ich stand da und berührte seine kleinen weißen Zähne mit den Fingern, während ich darauf wartete, dass die Uhr eins schlug. Durch die Tür vernahm man Mauds Stimme – kaum hörbar, doch langsam und gleichmäßig, als lese sie ihrem Onkel aus einem Buch vor.
Dann schlug es zur vollen Stunde, und ich hob die Hand und klopfte. Ein Mann rief mit dünner Stimme, ich solle eintreten.
Zuerst sah ich Maud: Sie saß an einem Schreibtisch, ein Buch vor sich, auf dem ihre Hände ruhten. Diese waren nackt, die kleinen weißen Handschuhe lagen ordentlich daneben. Sie saß neben einer abgedunkelten Lampe, deren Licht auf ihre Finger fiel, die darunter so blass wie Asche auf den bedruckten Seiten erschienen. Über ihr befand sich ein Fenster. Auf dessen Scheibe war gelbe Farbe gestrichen. Überall ringsum, an sämtlichen Wänden des Raumes, standen Regale, und in den Regalen standen Bücher – so viele, wie ich noch nie gesehen hatte. Eine überwältigende Anzahl. Wie viele Geschichten braucht ein Mensch? Ich betrachtete die Bücher, und es lief mir kalt den Rücken hinunter. Maud stand auf und schloss das Buch, das vor ihr lag. Sie nahm die weißen Handschuhe und zog sie wieder an.
Dann schaute sie nach rechts, zum anderen Ende des Raumes, das die geöffnete Tür vor mir verbarg. Eine verärgerte Stimme sagte: »Was ist denn?«
Ich drückte die Tür weiter auf und erblickte ein weiteres angemaltes Fenster, noch mehr Regale, noch mehr Bücher und einen zweiten gewaltigen Schreibtisch. Auf diesem stapelten sich Papierberge, und dort stand eine weitere abgedunkelte Lampe. Hinter dem Schreibtisch saß Mr. Lilly, Mauds alter Onkel, und ihn so zu beschreiben, wie ich ihn damals sah, heißt bereits, alles zu sagen.
Er trug einen Hausmantel aus Samt und eine Samtmütze, aus der ein Stummel roter Wolle ragte, an dem vielleicht einmal eine Quaste gebaumelt hatte. In der Hand hatte er einen Federhalter, den er in einigem Abstand vom Papier hielt. Die Hand selbst war so dunkel wie Mauds hell war, denn sie war über und über voller Tintenflecken, so wie die Hände gewöhnlicher Männer oft vom Tabak verfärbt sind. Sein Haar jedoch war schlohweiß. Er hatte ein glattrasiertes Kinn, und sein Mund war schmal und farblos, doch seine Zunge – hart und spitz – war beinahe schwarz, wahrscheinlich leckte er immer Finger und Daumen an, wenn er die Seiten umblätterte.
Die Augen waren feucht und kurzsichtig. Davor trug er eine Brille, grün abgetönt. Er sah mich.
»Wer zum Teufel sind Sie?«
Maud mühte sich mit den Knöpfen am Handgelenk ab. »Sie ist meine neue Kammerzofe, Onkel«, sagte sie leise. »Miss Smith.«
Ich sah, wie sich Mr. Lillys Augen hinter den grünen Brillengläsern verengten. »Miss Smith«, murmelte er, wobei er zwar mich ansah, aber mit seiner Nichte sprach. »Ist sie auch Katholin, wie die Letzte?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Maud. »Ich habe sie noch nicht danach gefragt. Bist du Katholin, Susan?«
Ich wusste nicht, was das bedeutete, sagte aber: »Nein, Miss, nicht dass ich wüsste.«
Mr. Lilly legte sich prompt die Hände auf die Ohren. »Ich mag ihre Stimme nicht«, zeterte er. »Kann sie nicht still sein? Kann sie denn nicht leise sein?«
Maud lächelte. »Das kann sie, Onkel«, erwiderte sie.
»Und weshalb ist sie hier und stört mich?«
»Sie ist hier, um mich abzuholen.«
»Dich abzuholen?«, fragte er. »Hat die Uhr denn schon geschlagen?«
Er betastete die Uhrentasche seiner Weste und zog eine uralte große goldene Repetieruhr heraus, legte den Kopf schief, während er dem Glockenspiel lauschte, und öffnete den Mund. Ich sah Maud an, die dastand und noch immer an den Verschlüssen ihrer Handschuhe herumfingerte, und machte einen Schritt auf sie zu, in der Absicht, ihr zu helfen. Doch als er meine Bewegung bemerkte, fuhr er auf wie der Hanswurst im Kasperletheater, und seine schwarze Zunge schnellte hervor.
»Der Finger, Mädchen!«, zischte er »Der Finger!« Er streckte mir seinen eigenen dunklen Finger entgegen und schüttelte seinen Federhalter, dass die Tusche nur so spritzte. Später sah ich, dass der Teppich unter seinem Schreibtisch fast völlig schwarz war, weil er anscheinend häufiger so mit seinem Federhalter herumfuchtelte. Aber in jenem Augenblick sah er so absonderlich aus und keifte mit so schriller Stimme, dass mir das Herz stockte. Ich dachte, er müsse wohl zu Anfällen neigen. Ich machte einen weiteren Schritt auf Maud zu, und da kreischte er umso lauter. Schließlich kam Maud zu mir herüber und nahm mich beim Arm.
»Keine Angst«, sagte sie sanft. »Er meint nur das hier – siehst du.« Sie wies auf eine flache Messinghand mit mahnend erhobenem Finger, die in die dunklen Bodendielen zwischen Türschwelle und Teppich eingelassen war. »Mein Onkel mag es nicht, wenn die Augen der Dienstboten auf seine Bücher gerichtet sind«, erklärte sie mir, »aus Angst, diese könnten dadurch verdorben werden. Mein Onkel besteht darauf, dass die Dienstboten keinen Schritt weiter in den Raum machen als bis zu diesem Zeichen.«
Sie berührte den Messingfinger mit der Spitze ihres Pantoffels. Ihr Gesicht war so ebenmäßig wie Wachs, ihre Stimme klar wie Wasser.
»Sieht sie es?«, fragte ihr Onkel.
»Gewiss«, antwortete Maud und zog den Zeh zurück. »Sie sieht es sehr wohl. Jetzt weiß sie es für das nächste Mal – nicht wahr, Susan?«
»Ja, Miss«, gab ich zurück – wobei ich kaum wusste, was ich sagen oder wohin ich schauen oder wen ich ansehen sollte. Denn es war mir gänzlich neu, dass man gedruckte Zeilen durch bloßes Ansehen verderben konnte. Doch was wusste ich schon darüber? Der alte Mann war so absonderlich und hatte mir einen solchen Schrecken eingejagt, dass ich alles geglaubt hätte. »Ja, Miss«, stammelte ich abermals und dann: »Ja, Sir.«
Dann knickste ich. Mr. Lilly schnaubte und musterte mich durch seine grünen Brillengläser. Maud knöpfte ihren Handschuh zu, und wir drehten uns um und gingen.
»Sag ihr, sie soll leise sein, Maud«, sagte er, als sie die Tür hinter uns zuzog.
»Das mache ich, Onkel«, murmelte sie.
Der Korridor erschien mir nun noch finsterer als zuvor. Maud führte mich um die Galerie herum und eine Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo ihre Zimmer lagen. Dort war ein leichtes Mittagessen angerichtet worden, und in einer weiteren silbernen Kanne stand Kaffee bereit. Als Maud allerdings sah, was die Köchin heraufgeschickt hatte, verzog sie das Gesicht.
»Eier«, klagte sie. »Weichgekocht, wie immer. Wie findest du meinen Onkel, Susan?«
Ich erwiderte: »Er ist sicher sehr klug, Miss.«
»Das ist er.«
»Und er schreibt, soweit ich weiß, eine umfangreiche Enzyklopädie.«
Sie blinzelte, dann nickte sie. »Eine Enzyklopädie, ja. Die Frucht unendlich vieler arbeitsamer Jahre. Augenblicklich sind wir beim Buchstaben F.« Sie hielt meinem Blick stand, als wollte sie herausfinden, was ich darüber dachte.
»Erstaunlich«, sagte ich.
Sie blinzelte abermals, dann nahm sie einen Löffel und köpfte das Ei. Sie betrachtete das wabbelige Weiß-Gelb darin, verzog angewidert das Gesicht und schob das Ei fort. »Du musst das für mich essen«, bat sie. »Du musst sie alle essen. Und ich nehme die Butterbrote.«
Drei Eier waren es. Ich weiß nicht, was sie an ihnen auszusetzen hatte. Sie schob sie zu mir herüber und sah mir beim Essen zu, derweil sie ihr Brot aß und den Kaffee trank und dann wohl eine ganze Minute lang an einem Fleck auf ihrem Handschuh herumrieb. »Da ist etwas Eigelb, sieh nur, hier auf meinem Finger. Oh, wie scheußlich das Gelb auf dem Weiß aussieht!« Wegen dieses Flecks blieb ihre Stirn gerunzelt, bis wir mit dem Essen fertig waren. Als Margaret kam und das Tablett abholte, erhob Maud sich und ging in ihr Schlafzimmer, und als sie zurückkam, da waren ihre Handschuhe wieder weiß – anscheinend hatte sie ein frisches Paar aus ihrer Schublade angezogen. Die anderen fand ich später, als ich Kohlen auf das Feuer in ihrem Schlafzimmer legte. Sie hatte sie ganz hinten in die Feuerstelle geworfen, und die Hitze der Flammen hatte das zarte Leder schrumpfen lassen, so dass sie aussahen wie Puppenhandschuhe.
Maud Lilly war also ganz offensichtlich das, was man gemeinhin als exzentrisch bezeichnete. Aber war sie auch verrückt oder ein Gimpel, wie Gentleman behauptet hatte? Das dachte ich damals nicht. Ich hielt sie nur für ziemlich einsam und ziemlich belesen und gelangweilt – und wer wäre das nicht, in einem solchen Haus?
Nachdem wir unser Mittagessen beendet hatten, trat sie ans Fenster: Der Himmel war grau, es sah bedrohlich nach Regen aus, doch Maud sagte, sie hätte große Lust auf einen Spaziergang. Sie sagte: »Also, was soll ich anziehen?« Wir standen vor der Tür ihres kleinen schwarzen Schranks, sahen ihre Mäntel durch, ihre Hüte und Stiefel. Dabei verging fast eine ganze Stunde. Ich glaube, das war auch der Sinn der Sache. Als ich mich mit den Schnürriemen ihrer Schuhe ungeschickt anstellte, legte sie ihre Hände auf meine und sagte: »Nur langsam. Warum sollten wir uns beeilen? Es gibt doch niemanden, um dessentwillen wir uns beeilen müssten, oder?« Sie lächelte, doch ihre Augen wirkten sehr traurig.
Ich erwiderte: »Nein, Miss.«
Schließlich legte sie einen blassgrauen Umhang an, und über ihre Handschuhe zog sie Fäustlinge. Einen kleinen Lederbeutel hatte sie bereitstehen, darin war ein Taschentuch, eine Flasche mit Wasser und eine Schere. Diese hieß sie mich tragen, ohne zu erklären, wozu die Schere diente. Ich nahm an, sie beabsichtigte Blumen abzuschneiden. Maud führte mich die große Treppe zur Haustür hinunter, und Mr. Way hörte uns und kam herbeigelaufen, um die Riegel zurückzuschieben.
»Wie geht es Ihnen, Miss Maud?«, fragte er mit einer leichten Verbeugung. Und dann: »Und Ihnen, Miss Smith?«
In der Eingangshalle war es dunkel. Als wir hinaustraten, blinzelten wir und schirmten mit den Händen die Augen schützend gegen den Himmel und die bleiche Sonne ab.
Das Haus hatte grimmig auf mich gewirkt, als ich es zum ersten Mal bei Nacht gesehen hatte. Ich hätte gerne behauptet, es wirke bei Tageslicht freundlicher, doch es kam mir nur noch schlimmer vor. Es musste einmal recht imposant gewesen sein, doch nun ragten die Schornsteine windschief wie Trunkenbolde in den Himmel, und das Dach war grün vor Moos und Vogelnestern. Die Mauern waren rundherum mit toten Kletterpflanzen überwuchert oder von Verfärbungen überzogen, welche die Triebe der Pflanzen vor langer Zeit dort hinterlassen hatten. Und am Fuß der Mauern ragten ringsherum abgehackte Efeustümpfe aus der Erde. Das Haus hatte eine große, in der Mitte geteilte Vordertür. Durch den Regen jedoch war das Holz aufgequollen, und die eine Hälfte ließ sich nicht mehr öffnen. Maud musste ihren Reifrock zurückschieben und seitlich hindurchgehen, um das Haus überhaupt verlassen zu können.
Es war seltsam, sie aus diesem finsteren Ort heraustreten zu sehen, wie eine Perle, die aus einer Auster hervorkommt. Noch seltsamer war es zu beobachten, wie sie wieder ins Haus hineinging: zu sehen, wie die Austernschale sich öffnete und sich dann wieder hinter ihr schloss.
Im Park gab es nicht viel, das zum Verweilen eingeladen hätte. Eine von Bäumen gesäumte Allee führte zum Haus, das auf einem nackten Schotterstreifen stand. In dem sogenannten Kräutergarten wuchsen hauptsächlich Nesseln, und in dem nahen Wald waren die Pfade überwuchert. Am Waldrand stand ein kleines steinernes Gebäude ohne Fenster. Maud erklärte, es handele sich um das Eishaus.
»Lass uns über die Schwelle treten und hineinsehen«, pflegte sie auf unseren Spaziergängen zu sagen, und dann stand sie da und betrachtete die wolkig-trüben Eisblöcke, bis sie anfing zu zittern.
Hinter dem Eishaus begann ein matschiger Weg, der zu einer alten verriegelten, von Eiben umstandenen roten Kapelle führte. Diese Kapelle war der sonderbarste, stillste Ort, den ich je gesehen habe. Nie habe ich dort einen Vogel singen hören. Ich ging nicht gerne dorthin, doch Maud schlug diesen Weg oft ein, denn neben der Kapelle lagen die Gräber aller Lillys, die vor ihr gelebt hatten. Und auf einem dieser Gräber stand ein schlichtes steinernes Grabmal: Es war das Grab ihrer Mutter.
Stundenlang konnte Maud dort sitzen und es betrachten, ohne groß zu blinzeln. Die Schere benutzte sie nicht zum Schneiden von Blumen, sondern um das Gras zu stutzen, das rings um das Grab wuchs. Und den Namen ihrer Mutter, der in bleiernen Lettern auf dem Grabstein stand, wischte sie mit ihrem feuchten Taschentuch ab und entfernte den Schmutz darauf. Sie wischte so lange daran herum, bis ihre Hand zitterte und sie nach Luft schnappte. Nie durfte ich ihr dabei helfen. An jenem ersten Tag, als ich es versuchte, sagte sie mir:
»Es ist die Pflicht einer Tochter, das Grab ihrer Mutter zu pflegen. Geh ein wenig spazieren und sieh mir nicht dabei zu.«
Also ließ ich sie gewähren und schlenderte ziellos durch die Reihen der Grabmäler. Der Boden war hart wie Eisen, und meine Schritte dröhnten laut. Ich ging umher und dachte an meine eigene Mutter. Sie hatte kein Grab, denn Mörderinnen gewährte man keines. Man warf die Leichen in ungelöschten Kalk.
Haben Sie schon mal Salz auf den Rücken einer Nacktschnecke gestreut? John Vroom hat das immer gemacht und gelacht, wenn die Schnecke schäumte und zischte. Einmal hat er zu mir gesagt: »Deine Mutter hat genauso gezischt, und zehn Männer sind gestorben, als sie es gerochen haben!« Da habe ich mir eine Küchenschere geschnappt und sie ihm an die Kehle gesetzt und gesagt: »Böses Blut vererbt sich. Böses Blut schlägt durch.« Da hat er aber geguckt! Und fortan den Mund gehalten.
Ich fragte mich, wie Maud wohl gucken würde, wenn sie wüsste, welch böses Blut in meinen Adern floss. Doch sie kam nie auf den Gedanken, mich danach zu fragen. Sie saß bloß da und starrte den Namen ihrer Mutter an, während ich umherschlenderte und mit den Füßen stampfte. Irgendwann seufzte sie schließlich und sah sich um, rieb sich mit der Hand über die Augen und zog die Kapuze über.
»Das ist ein melancholischer Ort«, sagte sie. »Lass uns noch ein wenig weitergehen.«
Maud führte mich fort aus dem Kreis der Eiben, den Weg hinunter zwischen den Hecken hindurch, dann fort vom Wald und dem Eishaus zum Rande des Parks. Hier kam man, wenn man einem Pfad folgte, der an einer Mauer entlangführte, an ein Tor, für das sie einen Schlüssel hatte. Durch das Tor gelangte man zum Flussufer. Vom Haus aus konnte man den Fluss nicht sehen. Es gab dort einen uralten halb verrotteten Steg und einen kleinen umgedrehten Kahn, der einen guten Sitzplatz abgab. Der Fluss war schmal, das Wasser sehr ruhig und trüb und voller pfeilschnell dahinschießender Fische. Entlang des Ufers wuchsen graue Binsen; sie wucherten dicht und hoch. Maud ging langsam an ihnen entlang und schaute nervös auf die dunklen Schatten, die sie auf das Wasser warfen. Ich nahm an, sie fürchtete sich vor Schlangen. Dann zupfte sie einen Binsenhalm ab, brach ihn entzwei und hockte sich auf den Kahn, die Spitze des Halms gegen die vollen Lippen gepresst.
Ich setzte mich neben sie. Es war windstill an diesem Tag, aber kalt und so still, dass die Stille in den Ohren schmerzte. Die Luft roch dünn.
»Hübscher kleiner Wasserlauf«, sagte ich, der Höflichkeit halber.
Ein Kutter glitt an uns vorbei. Die Männer sahen uns und tippten sich an die Hüte. Ich winkte.
»Auf dem Weg nach London«, sagte Maud, während sie ihnen hinterherschaute.
»Nach London?«
Sie nickte. Ich wusste damals noch nicht – denn wer hätte das gedacht? –, dass es sich bei diesem unbedeutenden Rinnsal um die Themse handelte. Ich dachte, sie meinte damit, der Kutter würde weiter flussabwärts auf einen größeren Fluss stoßen. Und doch ließ die Vorstellung, dass er bald in die Stadt kommen, vielleicht unter der London Bridge hindurchfahren würde, mich aufseufzen. Ich drehte mich um und sah zu, wie der Kutter um eine Biegung des Wasserlaufs glitt, wo er dann verschwand. Das Geräusch der Maschinen verhallte, der Qualm aus dem Schornstein vermischte sich mit dem Grau des Himmels und ward nicht mehr zu sehen. Die Luft war wieder sehr dünn. Maud saß noch immer da, die Spitze des abgebrochenen Binsenhalms an die Lippen gepresst, den Blick in die Ferne gerichtet. Ich hob ein paar Steine auf und begann sie ins Wasser zu werfen. Maud sah mir dabei zu und zwinkerte bei jedem Platschen. Dann führte sie mich wieder hinauf zum Haus.
Wir gingen zurück auf ihr Zimmer. Maud nahm eine Näharbeit heraus – ein farbloses, formloses Tuch, ich weiß nicht recht, ob es eine Tischdecke sein sollte oder was. Ich sah sie nie an irgendetwas anderem arbeiten. Sie nähte mit Handschuhen an den Fingern, und sie nähte sehr schlecht – sie machte schiefe Stiche, und die Hälfte trennte sie wieder auf. Das machte mich ganz zappelig. Wir saßen zusammen vor dem zischenden Feuer und unterhielten uns ziemlich lustlos – ich weiß nicht mehr worüber –, und dann wurde es dunkel, und ein Mädchen brachte Lampen herein. Wenig später wurde der Wind heftiger, und die Fenster begannen schlimm zu rappeln. Ich dachte insgeheim: Lieber Gott, bitte mach, dass Gentleman bald kommt! Ich glaube, eine ganze Woche überlebe ich das hier nicht. Und dann gähnte ich. Maud fing meinen Blick auf. Dann gähnte auch sie. Da musste ich noch herzhafter gähnen. Schließlich legte sie ihre Handarbeit beiseite, zog die Beine an und legte den Kopf auf die Armlehne des Sofas, und es sah aus, als schliefe sie.
Mehr gab es dort nicht zu tun, bis die Uhr sieben schlug. Als Maud das hörte, gähnte sie noch ausgiebiger als zuvor, rieb sich die Augen und erhob sich. Um sieben Uhr musste sie sich abermals umkleiden – und andere Handschuhe anziehen, seidene diesmal –, um mit ihrem Onkel zu Abend zu essen.
Zwei Stunden lang war sie bei ihm. Davon bekam ich natürlich nichts weiter mit, denn ich nahm mein Essen mit den anderen Bediensteten in der Küche ein. Sie erzählten mir, Mr. Lilly lasse seine Nichte nach dem Abendessen gerne bei sich im kleinen Salon sitzen und ihm vorlesen. Das verstand er wohl unter Amüsement, denke ich, denn sie empfingen selten Gäste, und wenn, dann waren es immer irgendwelche anderen Büchernarren aus Oxford oder London und Maud musste ihnen allen aus seinen Büchern vorlesen.
»Die Ärmste, tut sie denn nichts anderes als immer bloß lesen?«, fragte ich.
»Ihr Onkel erlaubt das nicht«, erwiderte das Zimmermädchen. »Er schätzt sie so sehr, dass er sie kaum hinauslässt. Er hat Angst, sie könnte Schaden nehmen. Als wäre sie aus Zucker. Wissen Sie, er ist es, der sie unablässig Handschuhe tragen lässt.«
»Genug jetzt!«, ging Mrs. Stiles dazwischen. »Was würde Miss Maud dazu sagen?«
Daraufhin verstummte das Zimmermädchen. Ich saß da und dachte über Mr. Lilly nach mit seiner roten Mütze und der goldenen Repetieruhr, der grünen Brille, dem schwarzen Finger und der schwarzen Zunge. Und dann über Maud, wie sie die Stirn runzelte wegen der Eier und heftig am Grabstein ihrer Mutter herumrieb. Es schien eine eigenartige Form der Wertschätzung, die ein Mädchen wie sie hervorbrachte.
Ich dachte, ich hätte Maud durchschaut. Doch im Grunde hatte ich rein gar nichts durchschaut. Ich aß zu Abend und hörte den anderen Bediensteten zu, ohne selbst viel zu sagen. Und dann fragte Mrs. Stiles mich, ob ich mit ihr kommen und meine Nachspeise zusammen mit ihr und Mr. Way in ihrer Anrichte zu mir nehmen wolle. Ich dachte, das sei wohl angebracht. Während ich mit ihnen dasaß, betrachtete ich das Bild, das ganz aus Haar gemacht war. Mr. Way las uns Auszüge aus der Zeitung von Maidenhead vor, und bei jeder Geschichte – es ging um Stiere, die Zäune durchbrachen, oder Priester, die eindringliche Predigten hielten – schüttelte Mrs. Stiles den Kopf und sagte: »Na, hat man so was schon gehört?«, und Mr. Way gluckste dann und sagte: »Wie Sie sehen, Miss Smith, können wir es durchaus mit London aufnehmen, was die Neuigkeiten angeht!«
Im Hintergrund hörte man undeutliches Gelächter und Stühlescharren. Das waren die Köchin und die Küchenmädchen und William Inker und der Silberputzer, die sich in der Küche amüsierten.
Irgendwann schlug die große Uhr, und unmittelbar darauf läutete die Glocke für die Dienstboten, was bedeutete, dass Mr. Lilly nun bereit war, von Mr. Way zu Bett geleitet zu werden, und dass Maud darauf wartete, von mir zu ihrem gebracht zu werden.
Fast hätte ich mich noch einmal auf dem Weg nach oben verirrt, dennoch sagte Maud, als sie mich erblickte: »Da bist du ja schon, Susan. Du bist flinker als Agnes.« Sie lächelte. »Ich glaube, du bist auch hübscher. Ich finde, ein rothaariges Mädchen kann gar nicht hübsch sein – was meinst du? Aber ein blondes Mädchen auch nicht. Ich hätte gerne dunkles Haar, Susan!«
Maud hatte Wein zum Abendessen getrunken und ich Bier. Ich wage zu behaupten, wir waren beide ein klein wenig beschwipst. Ich musste mich neben sie vor den großen Spiegel über ihrem Kamin stellen, und sie zog meinen Kopf zu ihrem heran, um unsere Haarfarben miteinander zu vergleichen. »Deines ist dunkler«, stellte sie fest.
Dann trat sie einen Schritt vom Feuer zurück, damit ich sie zur Nacht umkleiden konnte.
Am Ende war es kaum anders, als den Stuhl in unserer alten Küche zu entkleiden. Sie stand zitternd da und rief: »Rasch! Ich erfriere noch! O gütiger Himmel!« In ihrem Schlafzimmer zog es nämlich ebenso schlimm wie überall sonst im Haus, und meine Hände waren kalt und ließen sie zusammenzucken. Sie wurden jedoch nach kurzer Zeit wieder wärmer. Eine Dame zu entkleiden ist Schwerstarbeit. Ihr Korsett war lang und mit stählernen Stäbchen verstärkt. Sie hatte, wie gesagt, eine sehr schmale Taille: eine Taille, gegen die alle Ärzte wettern, weil sie Mädchen krank macht. Ihr Reifrock war aus Uhrenfedern gefertigt. Das Haar war in einem Netz mit einem halben Pfund Haarnadeln und einem silbernen Kamm festgesteckt. Ihre Unterröcke und Hemdchen waren aus Kattun. Sie selbst jedoch war unter all diesen Sachen weich und zart wie Butter. Zu zart, wie ich fand. Ich stellte mir vor, wie sie sich verletzte. Sie war schutzlos wie ein Hummer ohne Schale. Sie stand da in ihren Strümpfen, wahrend ich ihr Nachthemd holte, die Arme noch über dem Kopf, die Augen fest geschlossen, und für einen Augenblick drehte ich mich um und sah sie an. Mein Blick war ihr gleichgültig. Ich sah ihre Brüste, ihren Po, ihren Flaum und alles, und mit Ausnahme des Flaums, der dunkel war wie der einer Ente, war sie so blass wie eine Statue, die in einem Park auf einer Säule stand. Sie war so blass, dass sie von innen her zu leuchten schien.
Aber es war auch eine beunruhigende Blässe, und ich war froh, sie wieder zu bedecken. Ordentlich räumte ich ihr Kleid in den Wäscheschrank zurück und klemmte die Tür fest. Währenddessen saß Maud da und wartete gähnend darauf, dass ich zu ihr kam und ihr das Haar bürstete.
Ihr Haar war schön und sehr lang. Ich bürstete es und hielt es in der Hand und dachte darüber nach, wie viel man wohl dafür bekäme.
»Woran denkst du?«, erkundigte Maud sich, die Augen im Spiegel auf mich gerichtet. »An deine alte Herrin? Hatte sie schöneres Haar?«
»Sie hatte recht dünnes Haar«, erwiderte ich. Dann hatte ich plötzlich Mitleid mit Lady Alice und ergänzte: »Aber sie hatte eine sehr vornehme Haltung.«
»Habe ich eine vornehme Haltung?«
»Die haben Sie, Miss.«
Die hatte sie wirklich. Ihre Füße waren schmal und ihre Knöchel schlank wie ihre Taille. Maud lächelte und hieß mich meinen Fuß neben ihren stellen, um sie zu vergleichen.
»Deiner ist fast ebenso zierlich«, stellte sie freundlich fest.
Sie stieg in ihr Bett. Dann sagte sie, sie möge es nicht, im Dunkeln dazuliegen. Sie hatte ein Binsenlicht in einem Blechschirm, das neben ihrem Kissen stand, eines, wie alte Geizkragen sie benutzen, und ich musste es am Docht meiner Kerze entzünden. Sie ließ auch nicht zu, dass ich die Vorhänge an ihrem Bett ganz schloss – nur so weit, dass sie das Zimmer noch sehen konnte.
»Und deine Tür schließ bitte nicht ganz, ja?«, bat sie. »Agnes hat das auch nie getan. Bevor du kamst, saß Margaret auf dem Stuhl vor meiner Tür. Das mochte ich nicht. Ich befürchtete stets, schlecht zu träumen und sie rufen zu müssen. Margaret kneift mich jedes Mal, wenn sie mich anfasst. Deine Hände, Susan, sind ebenso hart wie Margarets, und doch sind deine Berührungen ganz sanft.«
Maud streckte die Hand aus, als sie das sagte, und legte ihre Finger rasch auf meine. Es ließ mich erschauern, als ich das weiche Leder spürte. Maud hatte zwar ihre Seidenhandschuhe ausgezogen, dafür jedoch wieder ein Paar weißer Lederhandschuhe übergestreift. Dann zog sie die Hand fort und steckte die Arme unter die Bettdecke.
Ich strich die Decke glatt.
»Wäre das alles, Miss?«
»Ja, Susan«, antwortete sie und schmiegte die Wange in das Kissen. Sie mochte es nicht, wenn ihr Haar sie im Nacken kitzelte; sie hatte es zurückgestrichen, und es schlängelte sich fort in die Dunkelheit, glatt und dunkel und fein wie ein Seil.
Als ich meine Kerze mitnahm, flossen die Schatten über sie wie eine Welle. Das Zimmer wurde dürftig von der Lampe beleuchtet, doch ihr Bett lag im Dunkeln. Ich schloss meine Tür nur halb und hörte, wie Maud den Kopf hob. »Ein wenig weiter auf«, bat sie leise. Also öffnete ich die Tür noch etwas mehr. Dann stand ich da und rieb mir das Gesicht. Ich war erst seit einem Tag in Briar, doch es war der längste Tag meines Lebens gewesen. Meine Finger waren wund vom Zerren an den Schnürbändern. Sobald ich die Augen schloss, sah ich Ösen. Mich selbst auszuziehen bereitete mir kein Vergnügen, nun, da ich sie entkleidet hatte.
Schließlich setzte ich mich und blies die Kerze aus, und ich hörte, wie Maud sich bewegte. Es war totenstill im ganzen Haus: Ich hörte deutlich, wie Maud sich aus den Kissen erhob und im Bett herumdrehte. Ich hörte, wie sie die Hand ausstreckte und den Schlüssel herausnahm und ihn in die kleine Holzschatulle steckte. Als ich das Klicken des Schlosses vernahm, stand ich auf. Ich dachte: Nun, ich kann leise sein, auch wenn du es nicht kannst. Ich kann leiser sein, als du oder dein Onkel es vermuten. Und ich schlich mich zur halb geöffneten Tür und spähte hindurch. Maud hatte sich aus dem Himmelbett gebeugt und hielt das Bild der hübschen Dame – ihrer Mutter – in der Hand. Während ich sie so beobachtete, führte sie das Bild an die Lippen, küsste es und murmelte ihm ein paar traurige Worte zu. Dann legte sie es mit einem Seufzen wieder fort. Sie verschloss die Schatulle wieder, stellte sie ordentlich auf den Tisch zurück und ließ sich dann wieder hinter die Vorhänge in die Kissen sinken und war still. Den Schlüssel bewahrte sie in einem Buch neben dem Bett auf. Auf den Gedanken, dort nachzusehen, war ich nicht gekommen.
Ich war inzwischen zu müde, um sie noch länger zu bespitzeln. Ich kehrte zu meinem Bett zurück. In meinem Zimmer war es stockdunkel. Vorsichtig tastete ich mit den Händen nach meinen Decken und Laken und schlug sie zurück. Ich stieg hinein und lag kalt wie ein Frosch in meinem schmalen Kammerzofenbett.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich danach geschlafen habe und welch schreckliches Geräusch mich geweckt hat. Ich wusste ein paar Minuten lang nicht einmal, ob meine Augen offen oder geschlossen waren, denn die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass ich keinen Unterschied feststellen konnte. Erst als ich zu der halb geöffneten Tür von Mauds Zimmer hinüberblickte und das schwache Licht dort sah, wusste ich, dass ich wach war und nicht träumte. Ich glaubte ein lautes Krachen oder einen lauten Schlag gehört zu haben, vielleicht auch einen Schrei. Nun, in dem Augenblick, da ich meine Augen aufschlug, war alles still. Doch als ich den Kopf hob und mein Herz wie wild pochen spürte, vernahm ich abermals einen Schrei. Es war Maud, die mit hoher, verängstigter Stimme nach ihrer alten Zofe rief: »Agnes! Oh! Oh! Agnes!«
Ich wusste nicht, welcher Anblick sich mir bieten würde, wenn ich zu ihr hineinging – ein eingeschlagenes Fenster vielleicht und ein Räuber, der sie am Kopf gepackt hatte und ihr gerade das Haar abschnitt. Doch das Fenster, obgleich es noch immer rappelte, war unversehrt, und niemand war bei Maud. Sie kauerte in der Lücke zwischen den Vorhängen ihres Bettes, die Decken bis zum Kinn hochgezogen, und das Haar hing wirr herab und verdeckte halb ihr Gesicht, das blass war und ganz fremd wirkte. Ihre Augen, von denen ich wusste, dass sie eigentlich braun waren, schienen tiefschwarz. Schwarz wie die von Polly Perkins, wie die Kerne im Gehäuse einer Birne.
Abermals rief sie: »Agnes!«
Ich sagte: »Ich bin’s – Sue, Miss.«
Woraufhin sie wisperte: »Agnes, hast du dieses Geräusch gehört? Ist die Tür auch zu?«
»Die Tür?« Die Tür war zu. »Ist da jemand?«
»Ein Mann?«, fragte sie.
»Ein Mann? Ein Räuber?«
»An der Tür? Geh nicht hin, Agnes! Nicht dass er dir etwas antut!« Maud hatte wirklich Angst. Sie war so verängstigt, dass sie anfing, auch mir Angst zu machen.
Tapfer sagte ich: »Ich glaube nicht, dass da ein Mann ist, Miss. Ich werde versuchen, eine Kerze anzuzünden.«
Aber haben Sie schon einmal versucht, eine Kerze an einem Binsenlicht mit Blechschirm anzuzünden? Es gelang mir einfach nicht, und Maud wimmerte immerzu und nannte mich Agnes, bis meine Hand so heftig zitterte, dass ich die Kerze nicht mehr ruhig halten konnte.
Ich sagte: »Sie müssen jetzt still sein, Miss. Hier ist kein Mann, und wenn einer da sein sollte, dann rufe ich nach Mr. Way, und der kommt und schnappt ihn sich.«
Ich nahm das Binsenlicht. »Nicht das Licht fortnehmen!«, rief Maud sogleich. »Ich flehe dich an!«
Ich sagte ihr, ich würde das Licht nur mit zur Tür nehmen, um ihr zu zeigen, dass dort niemand war. Und während sie noch wimmerte und das Bettzeug fest umklammerte, ging ich mit dem Licht zu der Tür zu ihrem Salon und riss sie – ein wenig widerstrebend zwar – auf.
Das Zimmer dahinter lag in völliger Dunkelheit. Die wenigen großen Möbelstücke standen gedrungen herum wie die Körbe, in denen sich bei Ali Baba die Räuber verstecken. Ich dachte daran, wie grässlich es wäre, wenn ich den ganzen Weg aus der Lant Street nach Briar gekommen wäre, nur um dann von Räubern ermordet zu werden. Und was, wenn sich herausstellte, dass der Räuber jemand war, den ich kannte – etwa einer von Mr. Ibbs’ Neffen? Solche merkwürdigen Zufälle gibt es tatsächlich.
Also stand ich da und starrte angstvoll ins Dunkel, während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen. Ich wollte beinahe schon rufen – für den Fall, dass tatsächlich Räuber da waren –, sie sollten mir nichts tun, denn ich sei eine von ihnen. Doch natürlich war niemand dort; es war so still wie in einer Kirche. Als ich mich dessen vergewissert hatte, tappte ich rasch zur Tür des Salons und spähte in den Korridor. Auch dort war alles dunkel und still – man hörte nur das ferne Ticken einer Uhr und noch mehr rappelnde Fenster. Und doch war es nicht besonders angenehm, dort zu stehen, im Nachthemd und mit einem Binsenlicht in der Hand – in einem großen dunklen stillen Haus, in dem es, wenn schon nicht Räuber, dann zumindest Geister geben könnte. Rasch schloss ich die Tür und kehrte in Mauds Zimmer zurück, trat an ihr Bett und stellte das Binsenlicht ab.
Ängstlich fragte sie: »Hast du ihn gesehen? O Agnes, ist er hier?«
Ich wollte schon antworten, doch dann hielt ich inne. Denn aus den Augenwinkeln hatte ich etwas Merkwürdiges in jener Zimmerecke entdeckt, in der der dunkle Wäscheschrank stand. Etwas Weißes, Leuchtendes schien sich vor dem Schrank zu bewegen … Nun, ich habe doch schon erwähnt, dass ich eine lebhafte Phantasie habe, oder? Ich war mir ganz sicher, es müsse sich um Mauds tote Mutter handeln, die als Geist zurückgekommen war, um mich zu erschrecken. Das Herz schlug mir bis zum Hals, ich schien es fast zu schmecken. Ich schrie, und Maud schrie, und dann klammerte sie sich an mich und wimmerte noch heftiger. »Sieh mich nicht an!«, wimmerte sie. Und dann: »Lass mich nicht allein! Lass mich nicht allein!«
Und dann sah ich, was dieses weiße Etwas wirklich war, und ich hüpfte von einem Fuß auf den anderen und hätte beinahe laut losgelacht.
Denn es war nur ihr Reifrock, der herausgesprungen war, obgleich ich ihn mit ihrem Schuh auf dem Regalbrett festgeklemmt hatte. Die Tür des Wäscheschranks war aufgesprungen und gegen die Wand geschlagen. Und dieses Geräusch hatte uns geweckt. Der Reifrock hing an einem Haken und zitterte. Meine Schritte hatten die Reifen springen lassen.
Als ich das sah, hätte ich, wie gesagt, beinahe losgelacht, doch als ich Maud ansah, waren ihre Augen noch immer schwarz und wild und ihr Gesicht bleich, und sie klammerte sich so fest an mich, dass ich es gemein gefunden hätte, sie sehen zu lassen, dass ich lachte. Ich schlug die Hände vor den Mund, und mein Atem strömte durch meine zitternden Finger. Ich begann mit den Zähnen zu klappern. Mir war so kalt wie noch nie im Leben.
Beruhigend sagte ich: »Es ist nichts, Miss. Es ist wirklich nichts. Sie haben nur geträumt.«
»Geträumt, Agnes?« Sie lehnte den Kopf gegen meine Brust und bebte. Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht und hielt sie im Arm, bis sie sich beruhigt hatte.
»Na bitte«, murmelte ich dann. »Schlafen Sie denn jetzt wieder ein? Ich decke Sie wieder zu.«
Doch als ich sie dazu bringen wollte, sich wieder hinzulegen, da packte sie mich noch fester. »Lass mich nicht allein, Agnes!«, rief sie abermals.
Sanft erklärte ich: »Ich bin Sue, Miss. Agnes hat Scharlach und ist nach Cork zurückgegangen. Wissen Sie noch? Sie müssen sich jetzt hinlegen, sonst erkälten Sie sich womöglich.«
Da sah sie mich an, und ihre Augen, die noch immer ganz dunkel waren, schienen sich ein wenig aufzuhellen.
»Lass mich nicht allein, Sue!«, flüsterte sie. »Ich fürchte mich vor meinen Träumen!«
Ihr Atem roch süß. Ihre Hände und Arme waren warm. Ihr Gesicht war so glatt wie Elfenbein oder Alabaster. In ein paar Wochen, dachte ich – sollte unser Plan aufgehen –, würde sie in einem Irrenhaus im Bett liegen. Wer würde dann freundlich zu ihr sein?
Ich schob sie fort, doch nur für einen Augenblick, dann kletterte ich über sie hinweg und kroch neben ihr unter die Decken. Ich legte den Arm um sie, und prompt schmiegte sie sich an mich. Es schien das Wenigste, was ich tun konnte. Ich zog sie näher an mich. Sie war unglaublich schlank. Nicht wie Mrs. Sucksby. Ganz und gar nicht wie Mrs. Sucksby. Sie war eher wie ein Kind. Sie zitterte noch immer ein wenig, und als sie blinzelte, spürte ich, wie ihre Wimpern meinen Hals streiften, wie Federn. Doch mit der Zeit hörte ihr Zittern auf, und ihre Wimpern streiften mich noch einmal, und dann lag sie ganz still und wurde schwer und warm.
»Braves Mädchen«, flüsterte ich, zu leise, um sie zu wecken.
Am nächsten Morgen erwachte ich eine Minute vor ihr. Maud schlug die Augen auf, sah mich an und versuchte ihre Verwirrung zu verbergen.
»Bin ich in der letzten Nacht aus meinen Träumen aufgeschreckt?«, fragte sie und wich meinem Blick aus. »Habe ich törichte Dinge gesagt? Es heißt, ich rede Unsinn im Schlaf, so wie andere Mädchen schnarchen.« Sie errötete und lachte. »Aber wie nett von dir, herzukommen und mir Gesellschaft zu leisten!«
Ich verlor kein Wort über den Reifrock. Um acht Uhr ging Maud zu ihrem Onkel, und um ein Uhr holte ich sie ab – wobei ich auf den mahnenden Finger auf dem Boden achtgab. Dann gingen wir im Park spazieren, zu den Gräbern und hinunter zum Fluss. Maud nähte und döste und wurde von der Glocke zum Abendessen gerufen. Und ich saß bis um halb zehn bei Mrs. Stiles; dann war es Zeit, wieder hinaufzugehen und Maud zu Bett zu bringen. Es war alles genau wie am ersten Tag. Maud sagte: »Gute Nacht« und legte den Kopf auf ihr Kissen. Dann stand ich in meinem Zimmer und hörte, wie sie ihre kleine Schatulle aufschloss; ich lugte durch die Tür, sah, wie sie das Bild küsste und es dann wieder fortlegte.
Und es vergingen keine zwei Minuten, nachdem ich meine Kerze gelöscht hatte, da rief sie schon mit leiser Stimme nach mir: »Sue –!« Sie sagte, sie könne nicht schlafen. Sie sagte, ihr sei kalt. Sie sagte, sie wolle mich ganz in ihrer Nähe haben, für den Fall, dass sie verängstigt aufwachen sollte.
Das gleiche sagte sie am nächsten Abend und am Abend darauf.
»Es macht dir doch nichts aus?«, fragte sie mich. Agnes habe es nichts ausgemacht. »Hast du denn in Mayfair nie bei Lady Alice im Bett geschlafen?«
Was sollte ich ihr sagen? Ich hatte ja keine Ahnung; vielleicht war es ja ganz und gar nichts Ungewöhnliches, dass Herrin und Zofe wie kleine Mädchen gemeinsam in einem Bett schliefen.
Am Anfang war es bei Maud und mir auch ganz und gar nichts Ungewöhnliches. Sie wurde nicht mehr von Albträumen geplagt. Wir schliefen zusammen wie Schwestern in einem Bett. Ja, in der Tat wie Schwestern. Ich hatte mir immer eine Schwester gewünscht.
Dann kam Gentleman.