KAPITEL 4

Gentleman traf, so schätze ich, zwei Wochen nach mir ein. Es waren nur zwei Wochen, doch die Stunden in Briar vergingen so langsam, die Tage verliefen so einförmig und ruhig, dass es mir viel länger vorgekommen war. Die Zeit reichte jedenfalls, um all die eigentümlichen Gewohnheiten des Hauses kennenzulernen und um mich an die anderen Dienstboten zu gewöhnen. Ich wusste nicht, weshalb sie mich nicht mochten. Ich ging hinunter in die Küche und sagte »Guten Tag«, egal wen auch immer ich dort antraf. »Guten Tag, Margaret. Wie geht’s, Charles?« (Das war der Silberputzer.) »Wie geht es Ihnen, Mrs. Cakebread?« (Das war die Köchin: Sie hieß tatsächlich so, das war kein Scherz, und niemand lachte darüber.) Charles sah mich dann immer an, als habe er Angst, mir Antwort zu geben. Und Mrs. Cakebread erwiderte in gehässigem Ton: »Oh, mir geht es wirklich ausgezeichnet, vielen Dank.«

Ich nahm an, sie fühlten sich beschämt, wenn ich in der Nähe war, weil ich sie an all den Prunk Londons erinnerte, den sie an diesem ruhigen abgelegenen Ort niemals zu sehen bekommen würden. Dann nahm Mrs. Stiles mich eines Tages beiseite. Sie sagte: »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich ein paar Worte an Sie richte? Ich weiß ja nicht, wie der Haushalt in Ihrer vorigen Stellung geführt wurde –« Sie begann alles, was sie mir zu sagen hatte, mit diesen Worten. – »Ich weiß ja nicht, wie Sie das in London handhaben, aber hier in Briar legen wir großen Wert darauf, die Grundregeln dieses Haushaltes zu respektieren …«

Wie sich herausstellte, fasste Mrs. Cakebread es als Beleidigung auf, dass ich dem Küchenmädchen und dem Silberputzer einen guten Morgen wünschte, ehe ich ihr guten Morgen gesagt hatte. Und Charles dachte, ich wolle ihn aufziehen, indem ich ihm überhaupt einen guten Morgen wünschte. Es war alles belangloser Unsinn – darüber hätten selbst die Hühner gelacht –, aber für sie alle war es eine todernste Angelegenheit – ich nehme an, jeder würde es für eine todernste Angelegenheit halten, wenn das Einzige, was einen in den kommenden vierzig Jahren erwartete, Tabletts tragen und Kuchen backen war. Wie dem auch sei, ich begriff, dass ich sehr genau darauf achten musste, was ich tat, wenn ich mit ihnen zurechtkommen wollte. Ich gab Charles ein Stück Schokolade, das ich von zu Hause mitgebracht hatte. Margaret schenkte ich ein Stück parfümierter Seife und Mrs. Cakebread ein Paar jener schwarzen Strümpfe, die Gentleman von Phil im Hehlerladen hatte besorgen lassen.

Ich sagte, ich hoffte, sie seien mir nicht böse. Wenn ich Charles danach morgens auf der Treppe traf, schaute ich einfach fort. Von da an waren alle sehr viel freundlicher zu mir.

So sind Dienstboten. Ein Dienstbote sagt: »Ich tue alles für meinen Herrn«, aber eigentlich meint er: »Ich tue alles für mich«. Das ist diese Heuchelei, die ich nicht ertragen kann. In Briar hatten alle ihre Schliche, aber es waren alles niederträchtige kleine Kniffe, die einem echten Dieb die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten – wie das Fett von Mr. Lillys Soße abzuschöpfen und es heimlich an den Metzgerjungen zu verkaufen, wie Mrs. Cakebread es tat. Oder die Perlenknöpfe von Mauds Hemden abzureißen und sie zu behalten und vorzugeben, sie seien verlorengegangen, wie Margaret es machte. Nach drei Tagen hatte ich sie alle durchschaut. Ich hätte doch Mrs. Sucksbys leibliche Tochter sein können. Was Mr. Way anging: Er hatte so eine rotgefleckte Nase – daheim hätten wir ihn als Schnapsdrossel bezeichnet. Und wie kam er an einem solchen Ort wohl an Alkohol? Er hatte den Schlüssel zu Mr. Lillys Keller, den trug er an einer Kette. Einen so glänzend polierten Schlüssel hatte man noch nicht gesehen! Und wenn wir unsere Mahlzeiten in Mrs. Stiles’ Anrichte beendet hatten, machte er stets ein großes Aufhebens darum, alles auf das Tablett zu laden – und dann sah ich immer, wie er, wenn niemand hinschaute, das Bier, das noch in den Gläsern war, in einen großen Becher schüttete und in einem Zug austrank.

Ich bemerkte es – behielt es aber selbstverständlich für mich. Ich war nicht hergekommen, um Ärger zu machen. Mir wäre es gleich gewesen, wenn er sich totgesoffen hätte. Die meiste Zeit verbrachte ich ohnehin mit Maud. Auch an sie gewöhnte ich mich. Sie hatte zwar in der Tat einige eigenartige Angewohnheiten, doch die waren nicht weiter schlimm, und so konnte ich sie ihr leicht nachsehen. Und ich hatte ein Auge für Details und eine Engelsgeduld: Ich begann Gefallen daran zu finden, mich um ihre Kleider zu kümmern, ihre Haarnadeln und Kämme und Schachteln in Ordnung zu halten. Ich war es gewohnt, Kleinkinder anzukleiden. Nun gewöhnte ich mich daran, Maud anzukleiden.

»Heben Sie die Arme, Miss«, sagte ich. »Heben Sie den Fuß. Hierher bitte. Und nun hierher.«

»Danke, Sue«, murmelte sie dann immer. Mitunter schloss sie auch die Augen. »Wie gut du mich kennst«, sagte sie gelegentlich. »Ich glaube, du kennst mich in- und auswendig.«

Mit der Zeit war es tatsächlich so. Ich wusste ganz genau, was sie mochte und was sie verabscheute. Ich wusste, welche Speisen sie gern aß und welche sie verschmähte – und als die Köchin beispielsweise wieder einmal Eier heraufschickte, ging ich zu ihr und sagte ihr, sie solle stattdessen lieber Brühe servieren lassen.

»Klare Brühe«, sagte ich. »So klar wie es nur geht. Verstanden?«

Sie verzog das Gesicht. »Mrs. Stiles wird das nicht gefallen.«

»Mrs. Stiles muss sie ja auch nicht essen«, erwiderte ich. »Und Mrs. Stiles ist auch nicht Miss Mauds Zofe. Ich bin Miss Mauds Zofe.«

Und tatsächlich schickte sie Brühe herauf. Maud aß den ganzen Teller leer. »Warum lächelst du?«, fragte sie mich auf ihre ängstlich-besorgte Art, als sie fertig war. Ich sagte, das täte ich gar nicht. Sie legte den Löffel hin. Dann runzelte sie wie so oft die Stirn und betrachtete ihre Handschuhe. Sie hatten ein paar Flecken abbekommen.

»Das ist bloß Wasser«, sagte ich, als ich ihr Gesicht sah. »Das macht doch nichts.«

Sie biss sich auf die Lippe. Eine Weile saß sie so da, die Hände im Schoß, blickte verstohlen auf ihre Finger und wurde immer rastloser. Schließlich sagte sie: »Ich glaube, es war ein wenig Fett in diesem Wasser …«

Es war dann für mich einfacher, selbst in ihr Zimmer zu gehen und ein frisches Paar Handschuhe für sie zu holen, als dazusitzen und zuzusehen, wie sie immer zappeliger wurde.

»Lassen Sie mich das machen«, sagte ich und öffnete die Knöpfe an ihren Handgelenken. Zunächst ließ sie es nicht zu, dass ich ihre bloßen Hände berührte, mit der Zeit jedoch duldete sie es, nachdem ich ihr versprochen hatte, vorsichtig zu sein. Als ihre Fingernägel zu lang wurden, schnitt ich sie mit einer silbernen Schere, welche die Form eines fliegenden Vogels hatte. Mauds Nägel waren weich und vollkommen sauber und wuchsen so rasch wie bei einem Kind. Als ich sie schnitt, zuckte sie zusammen. Die Haut an den Händen war glatt – aber, wie alles andere an ihr, zu glatt, als dass es gut sein könnte. Nie konnte ich Maud ansehen, ohne an all die rauen, scharfen Dinge zu denken, die sie verletzen könnten. Ich war immer froh, wenn sie die Handschuhe wieder anzog. Die abgeschnittenen Nägel sammelte ich in meinem Schoß und warf sie dann ins Feuer. Maud stand dann da und sah zu, wie sie sich schwarz färbten. Das Gleiche tat sie auch bei den Haaren, die ich aus ihren Bürsten und Kämmen zog – sie runzelte die Stirn, während sich die Haare wie Würmer auf den Kohlen wandten, dann aufflammten und zu Asche wurden. Manchmal stand ich neben ihr und sah ebenfalls zu.

Denn anders als zu Hause gab es in Briar nicht viel Interessantes, dem man zusehen konnte. Hier schaute man sich höchstens aufsteigenden Rauch an oder Wolken, die am Himmel vorbeizogen. Jeden Tag gingen wir zum Fluss hinunter und schauten nach, ob der Wasserstand gefallen oder gestiegen war.

»Im Herbst gibt es Überschwemmungen«, sagte Maud, »und dann versinken die Binsen im Wasser. Das mag ich nicht. Und in manchen Nächten kriecht weißer Dunst aus dem Wasser, fast bis an die Mauern des Hauses meines Onkels …« Sie erschauderte. Sie sagte immer das Haus meines Onkels, nie sagte sie mein Haus. Der Boden knirschte, und als er unter unseren Stiefeln nachgab, fuhr sie fort: »Wie spröde das Gras ist. Ich glaube fast, der Fluss wird zufrieren. Ich glaube, er ist schon dabei. Siehst du, wie er sich abkämpft? Er will fließen, aber die Kälte wird ihn zum Stillstand zwingen. Siehst du es, Sue? Da, zwischen den Binsen?«

Maud spähte angestrengt dorthin und verzog das Gesicht. Ich beobachtete, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Und ich sagte, was ich bereits über die Suppe gesagt hatte: »Das ist bloß Wasser, Miss.«

»Bloß Wasser?«

»Braunes Wasser.«

Sie blinzelte.

»Ihnen ist kalt, Miss«, sagte ich da. »Kommen Sie, wir gehen zurück ins Haus. Wir sind schon viel zu lange draußen.« Ich nahm ihren Arm und legte ihn in den meinen, ohne weiter darüber nachzudenken, und spürte, wie ihr Arm steif blieb. Doch am nächsten Tag – oder vielleicht auch am übernächsten – hakte sie sich bei mir unter und war nicht mehr so steif. Und irgendwann gingen wir ganz selbstverständlich Arm in Arm … Erst viel später habe ich darüber nachgedacht und versucht mich zurückzuerinnern. Doch ich wusste nur noch, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der jede für sich gegangen war, und dann eine Zeit, in der wir nur noch untergehakt spazieren gingen.

Maud war ja doch bloß ein Mädchen, auch wenn alle sie eine Dame nannten. Sie war ein kleines Mädchen, das nicht einmal wusste, wie man sich amüsierte. Eines Tages, als ich ihre Schubladen aufräumte, fand ich in einer davon Spielkarten. Maud sagte, die müssten wohl ihrer Mutter gehört haben. Sie kannte lediglich die Farben, und die Buben nannte sie Kavaliere. Also brachte ich ihr zwei der harmloseren Spiele von zu Hause bei – Put und Quartett. Anfangs spielten wir um Streichhölzer und Holzstöckchen. Dann fanden wir in einer der anderen Schubladen eine kleine Schachtel mit Spielmarken aus Perlmutt in Form von Fischen und Diamanten und Halbmonden. Das Perlmutt lag angenehm kühl in der Hand. In meiner Hand, natürlich, denn Maud trug selbstverständlich immer ihre Handschuhe. Und wenn sie eine Karte ablegte, dann immer hübsch ordentlich, so dass die Ecken und Kanten der Karten alle genau aufeinanderlagen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich mir das ebenfalls angewöhnt.

Während des Spiels unterhielten wir uns. Maud ermunterte mich, von London zu erzählen. »Ist es wirklich so groß?«, fragte sie mich. »Und es gibt dort Theater? Und sogenannte Modehäuser?«

»Und Speiselokale. Und jede nur erdenkliche Art von Läden. Und Parks, Miss.«

»Parks, wie der meines Onkels?«

»So ähnlich«, erwiderte ich. »Aber natürlich voller Menschen. Spielen Sie mit niedrigem Einsatz, Miss, oder mit hohem?«

»Mit hohem.« Maud legte eine Karte ab. »Also, voller Menschen, sagst du?«

»Ich spiele höher. Da. Drei Fische gegen Ihre zwei.«

»Wie gut du spielst! Recht voller Menschen, sagst du?«

»Voller Menschen. Aber dunkel. Heben Sie ab?«

»Dunkel? Tatsächlich? Ich dachte, London sei immer so hell erleuchtet. Mit großen Lampen, die mit Gas brennen.«

»Große Lampen, wie Diamanten!«, erwiderte ich. »In den Theatern und Tanzsälen. Dort kann man tanzen, die ganze Nacht hindurch –«

»Tanzen, Sue?«

»Tanzen, Miss.« Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Ich legte die Karten nieder. »Ich nehme an, Sie tanzen gerne?«

»Ich –« Sie errötete und schlug die Augen nieder. »Ich habe es nie gelernt. Glaubst du«, sie hob den Blick, »ich könnte als Dame in London leben – sollte ich jemals dorthin kommen«, fügte sie hastig hinzu, »ohne tanzen zu können?« Sie fuhr sich beunruhigt mit der Hand über die Lippen.

Ich sagte: »Das könnten Sie vermutlich. Aber würden Sie es nicht gerne lernen? Sie könnten einen Tanzlehrer anstellen.«

»Wirklich?« Sie schaute mich zweifelnd an und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht …«

Ich erriet ihre Gedanken. Sie dachte an Gentleman und daran, was er wohl sagen würde, wenn er herausfände, dass sie nicht tanzen konnte. Sie dachte an all die Mädchen, denen er in London begegnete und die es konnten.

Ich schaute ein oder zwei Minuten zu, wie die Sorge ihr die Stirn zerfurchte. Dann sagte ich: »Schauen Sie« und stand auf. »Es ist ganz leicht, schauen Sie –«

Ich zeigte ihr einige Tanzschritte. Dann hieß ich sie aufstehen und sie mit mir ausprobieren. Stocksteif lag sie in meinen Armen und starrte verängstigt auf ihre Füße. Ihre Pantöffelchen verfingen sich im türkischen Teppich. Also schlug ich den Teppich zurück. Von da an bewegte sie sich mit größerer Leichtigkeit. Ich zeigte ihr einen Gigue und eine Polka. »Na also. Jetzt fliegen wir schon fast, nicht wahr?« Sie klammerte sich an mein Kleid, dass ich schon glaubte, sie werde es zerreißen. »Hierher«, sagte ich. »Und jetzt hierher. Ich bin der Herr, denken Sie daran. Natürlich ginge es viel besser mit einem echten Herrn –«

Dann stolperte sie wieder, und wir wirbelten auseinander und landeten in verschiedenen Sesseln. Maud hielt sich die Seiten und atmete stoßweise. Ihr Gesicht war hochrot, ihre Wangen waren feucht. Ihr Rock stand ab wie der eines kleinen holländischen Mädchens auf einem Porzellanteller.

Sie fing meinen Blick auf und lächelte, obgleich sie noch immer eingeschüchtert wirkte.

»Ich werde tanzen«, sagte sie, »in London. Nicht wahr, Sue?«

»Das werden Sie«, antwortete ich. Und in diesem Moment glaubte ich es sogar. Ich hieß sie aufstehen und weitertanzen. Erst später, als wir aufgehört hatten und Maud wieder kühl geworden war und sie vor dem Feuer stand, um sich die kalten Hände zu wärmen – erst da dachte ich daran, dass sie das natürlich niemals tun würde.

Denn obgleich ich ihr Schicksal kannte – es so wohl kannte, dass ich mithalf, es zu formen! –, so kannte ich es vielleicht eher, wie man das Schicksal einer Figur in einem Märchen oder in einem Theaterstück kennt. Ihre Welt war so sonderbar, so still und abgeschottet, dass die wirkliche Welt – die gewöhnliche, betrügerische Welt, in der ich beim Abendessen mit Schweinskopf und Eierflip saß, während Mrs. Sucksby und John Vroom sich lachend ausmalten, was ich mit meinem Anteil von Gentlemans ergaunertem Vermögen anstellen würde – dass diese Welt mir kälter erschien denn je, und doch so weit weg, dass ihre Kälte mich nicht erreichen konnte. Zu Anfang sagte ich mir immer: »Wenn Gentleman kommt, mache ich dieses«, oder »Wenn er sie erst einmal ins Irrenhaus gesteckt hat, tue ich jenes«. Doch wenn ich mir das sagte und dann Maud ansah, dann erschien sie mir so einfältig und gutherzig, dass dieser Wunsch sich in Luft auflöste und es stets damit endete, dass ich ihr das Haar kämmte oder ihr die Schärpe oder das Kleid ordnete. Nicht dass sie mir leid getan hätte – jedenfalls nicht allzu sehr, damals noch nicht. Vermutlich lag es nur daran, dass wir so viel Zeit miteinander verbrachten, und es war sehr viel angenehmer, nett zu ihr zu sein und nicht allzu viel darüber nachzudenken, was ihr bevorstand, als darüber nachzugrübeln und sich gemein vorzukommen.

Für sie war es natürlich etwas anderes. Sie schaute nach vorn. Sie redete gerne, aber noch lieber schwieg sie und dachte nach. Ich sah dann immer, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Ich lag nachts an ihrer Seite und spürte, wie ihre Gedanken kreisten, immer wieder kreisten – ich spürte, wie sie warm wurde, vielleicht sogar im Dunkeln errötete, und dann wusste ich, dass sie an Gentleman dachte und sich ausrechnete, wann er zurückkäme, und sich fragte, ob er wohl an sie dachte. – Ich hätte ihr sagen können, dass er das tat. Doch sie sprach nie über ihn, erwähnte ihn mit keiner Silbe. Sie erkundigte sich nur ein, zwei Mal nach meiner alten Tante, die angeblich sein Kindermädchen gewesen war. Und ich wünschte, sie täte das nicht, denn wenn ich von ihr erzählte, dann dachte ich in Wahrheit an Mrs. Sucksby, und dann bekam ich Heimweh.

Schließlich kam der Morgen, an dem wir erfuhren, dass Gentleman zurückkommen würde. Es war ein ganz gewöhnlicher Morgen, bis auf die Tatsache, dass Maud erwacht war, sich das Gesicht gerieben hatte und zusammengezuckt war. Vielleicht war das eine Vorahnung. Der Gedanke kam mir allerdings erst viel später. In dem Moment sah ich, wie sie sich die Wange rieb und fragte: »Was ist denn?«

Sie fuhr mit der Zunge im Mund herum. »Ich glaube, ich habe einen spitzen Zahn«, sagte sie, »so spitz, dass ich mich daran schneide.«

»Lassen Sie mich mal sehen«, sagte ich.

Ich führte sie zum Fenster, und sie stand da, das Gesicht in meinen Händen, und ließ sich von mir den Gaumen abtasten. Ich fand den spitzen Zahn beinahe auf Anhieb.

»Also, der ist ja spitzer –«, setzte ich an.

»Als der Giftzahn einer Schlange, Sue?«

»Als eine Nadel, wollte ich sagen, Miss.« Ich ging zu ihrem Nähkästchen und nahm einen Fingerhut heraus. Einen silbernen Fingerhut, passend zu der fliegenden Schere.

Maud strich sich über den Kiefer. »Kennst du jemanden, der schon mal von einer Schlange gebissen wurde, Sue?«

Was sollte ich dazu sagen? Sie hatte oft solche Gedankensprünge. Vielleicht lag das am Landleben. Sie sah mich an, dann öffnete sie wieder den Mund, und ich steckte den Fingerhut auf und raspelte an dem spitzen Zahn herum, bis ich die Spitze geglättet hatte. Ich hatte oft zugesehen, wie Mrs. Sucksby das bei Kleinkindern machte. Die jedoch zappeln dabei natürlich unentwegt. Maud hingegen stand ganz still, die rosa Lippen halb offen, den Kopf im Nacken, die Augen zunächst geschlossen und dann auf mich gerichtet, die Wangen gerötet. Sie schluckte mehrmals. Ihr Hals hob und senkte sich, als sie schluckte. Meine Hand wurde nass von ihrem feuchten Atem. Ich rieb und fuhr dann mit dem Daumen über den Zahn. Ihre Lider flatterten, dann sah sie mir in die Augen.

Genau in diesem Moment klopfte es an der Tür, und wir zuckten beide zusammen. Ich trat einen Schritt zurück. Es war eines der Hausmädchen. Sie trug auf einem Tablett einen Brief herein. »Für Miss Maud«, sagte sie und knickste. Ich warf einen Blick auf die Schrift und wusste augenblicklich, dass der Brief von Gentleman war. Mir stockte das Herz. Maud schien es ähnlich zu gehen.

»Bring ihn mir bitte«, sagte sie. Und dann zu mir: »Würdest du mir mein Umhängetuch reichen?« Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, obgleich ihre Wange noch immer einen roten Fleck aufwies, dort, wo meine Hand gegen ihren Kiefer gedrückt hatte. Als ich ihr das Tuch um die Schultern legte, spürte ich, wie sie zitterte.

Ich beobachtete Maud insgeheim, während ich durch das Zimmer ging, Bücher und Kissen aufhob, den Fingerhut forträumte und das Nähkästchen schloss. Ich sah, wie sie den Brief drehte und wendete – mit den Handschuhen konnte sie ihn nicht öffnen. Also warf sie mir einen verstohlenen Blick zu und ließ dann die Hände sinken und – noch immer zitternd, aber mit zur Schau gestellter Gleichgültigkeit, die zeigen sollte, dass der Brief ihr rein gar nichts bedeutete und doch bewies, wie viel er ihr bedeutete. Sie knöpfte einen Handschuh auf, brach das Siegel mit den Fingern, zog dann den Brief aus dem Kuvert, hielt ihn in der bloßen Hand und las ihn.

Dann atmete sie mit einem langen Seufzen aus. Ich nahm ein Kissen und klopfte den Staub heraus.

»Gute Neuigkeiten, Miss?«, erkundigte ich mich. Ich dachte, das sei angebracht.

Sie zögerte. Dann erwiderte sie: »Sehr gute – für meinen Onkel, meine ich. Der Brief ist von Mr. Rivers in London.« Sie lächelte. »Er kommt zurück nach Briar – schon morgen!«

Das Lächeln blieb den ganzen Tag wie aufgemalt auf Mauds Lippen. Und nachmittags, als sie von ihrem Onkel zurückkam, wollte sie nicht dasitzen und nähen oder spazieren gehen, ja nicht einmal Karten spielen, sondern lief rastlos im Zimmer auf und ab. Manchmal blieb sie vor dem Spiegel stehen, strich sich über die Brauen und berührte ihre vollen Lippen. Mit mir sprach sie nicht und nahm mich kaum zur Kenntnis.

Ich nahm die Karten trotzdem zur Hand und spielte allein. Ich dachte an Gentleman, wie er die Könige und Damen in unserer Küche in der Lant Street ausgebreitet hatte, während er uns in seine Pläne einweihte. Dann dachte ich an Dainty. Ihre Mutter, die am Ende ertrunken war, hatte die Kunst beherrscht, die Zukunft aus einem Kartenspiel vorauszusagen. Ich hatte ihr viele Male dabei zugesehen.

Ich sah Maud an, die in Tagträume versunken vor dem Spiegel stand, und sagte: »Möchten Sie einen Blick in Ihre Zukunft werfen, Miss? Man kann nämlich daraus, wie die Karten liegen, die Zukunft lesen. Wussten Sie das?«

Da drehte sie sich um und betrachtete nicht länger sich selbst, sondern mich. Nach einem kurzen Augenblick sagte sie: »Ich dachte, das könnten nur Zigeunerinnen.«

»Nun ja, sagen Sie das nicht Margaret oder Mrs. Stiles«, erwiderte ich. »Meine Großmutter war eine Zigeunerprinzessin.«

Ich hielt das für keineswegs ausgeschlossen – was wusste ich denn schon von meiner Großmutter? Ich schob die Karten zusammen und hielt sie Maud hin. Sie zögerte, dann kam sie her und setzte sich neben mich, breitete ihren weiten Rock aus und fragte: »Was soll ich tun?«

Ich sagte, sie solle einen Moment mit geschlossenen Augen dasitzen und an das denken, was ihr am meisten am Herzen lag. Das schien sie zu tun. Dann sagte ich ihr, sie solle die Karten nehmen und kurz halten und dann die ersten sieben auf den Tisch legen, mit der Spielseite nach unten – ich glaubte mich daran zu erinnern, dass Daintys Mutter es so gemacht hatte. Oder vielleicht waren es auch neun Karten. Wie dem auch sei, Maud legte sieben Karten auf den Tisch.

Ich sah ihr in die Augen: »Also gut, wollen Sie wirklich einen Blick in die Zukunft werfen?«

Woraufhin sie entgegnete: »Sue, du machst mir Angst!«

Ich fragte abermals: »Wollen Sie das wirklich? Was die Karten Ihnen gebieten, müssen Sie befolgen. Es bringt großes Unglück, die Karten um einen Fingerzeig zu bitten und sich dann anders zu entscheiden. Geloben Sie, sich an die Voraussagen zu halten, die Sie hier finden werden?«

»Ich gelobe es«, antwortete sie leise.

»Gut«, sagte ich. »Dies ist Ihr Leben. Sehen wir uns den ersten Teil davon an. Diese Karten zeigen Ihre Vergangenheit.« Ich deckte die ersten beiden Karten auf. Es war die Herzdame, gefolgt von der Pik Drei. Ich erinnere mich daran, weil ich die Karten sortiert hatte, während Maud mit fest geschlossenen Augen dagesessen hatte. Jede andere hätte an meiner Stelle bestimmt genau dasselbe getan.

Ich betrachtete die Karten aufmerksam. »Hm. Das sind traurige Karten. Diese hier steht für eine wunderschöne gütige Dame, sehen Sie. Und die hier steht für eine Trennung und den Beginn eines Zwistes.«

Maud starrte mich an, dann griff sie sich mit der Hand an den Hals. »Fahre fort«, sagte sie. Ihr Gesicht war blass geworden.

»Lassen Sie uns die nächsten drei Karten ansehen. Die zeigen Ihr gegenwärtiges Leben.«

Mit theatralischer Geste drehte ich sie um.

»Der Karokönig. Ein strenger alter Herr. Die Kreuz Fünf: ein ausgedörrter Mund. Der Pikbube –«

Ich ließ mir Zeit. Sie lehnte sich zu mir hinüber.

»Wer ist das?«, fragte sie. »Der Kavalier?«

Ich sagte, das sei ein junger Mann auf einem Pferd, der ein gutes Herz habe. Maud sah mich mit einem solch ungläubigen Erstaunen an, dass sie mir schon fast leid tat. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Nun fürchte ich mich tatsächlich! Dreh die anderen Karten nicht mehr um.«

Ich sagte: »Aber das muss ich, Miss. Oder Ihr Glück wird Sie gänzlich verlassen. Schauen Sie her. Diese Karten zeigen Ihre Zukunft.«

Ich deckte die erste auf. Die Pik Sechs.

»Eine Reise!«, rief ich. »Vielleicht eine Reise mit Mr. Lilly? Oder vielleicht auch eine Reise des Herzens …«

Maud gab keine Antwort, sondern saß nur da und starrte auf die Karten, die ich umgedreht hatte. »Zeig mir die letzte«, flüsterte sie dann. Ich zeigte sie ihr. Sie sah sie zuerst.

»Die Karokönigin«, murmelte sie stirnrunzelnd. »Wer ist das denn?«

Ich wusste es nicht. Ich hatte die Herz Zwei aufdecken wollen, die Liebenden. Aber ich hatte die Karten wohl durcheinandergebracht.

»Die Karokönigin«, sagte ich schließlich. »Sie steht für großen Reichtum, glaube ich. Die Karos sehen aus wie geschliffene Diamanten.«

»Großen Reichtum?« Maud richtete sich auf, sah sich um, betrachtete den verblichenen Teppich und die schwarzen Eichenpaneele. Ich nahm die Karten und mischte sie neu. Maud strich sich über das Kleid und erhob sich. »Ich glaube nicht«, sagte sie, »dass deine Großmutter wirklich eine Zigeunerin war. Dein Gesicht ist zu blass. Und ich mag deine Wahrsagerei nicht. Das ist ein Spiel für Dienstboten.«

Sie ging ein paar Schritte von mir fort und stellte sich dann wieder vor den Spiegel. Obwohl ich annahm, sie werde sich umdrehen und noch etwas Freundliches sagen, tat sie das nicht. Doch als sie aufgestanden war, hatte sie einen Stuhl verschoben, und da sah ich die Herz Zwei. Sie war auf den Boden gefallen – ihr Pantoffel hatte darauf gestanden, und dessen Absatz hatte die Karte zerknickt. Es war ein tiefer Knick. Ich erkannte diese Karte immer gleich wieder, wenn wir in den darauffolgenden Wochen miteinander spielten.

An jenem Nachmittag jedoch hieß sie mich die Karten forträumen. Sie sagte, bei ihrem Anblick werde ihr ganz komisch. Und in jener Nacht war sie sehr ruhelos. Sie ging zu Bett, ließ sich aber von mir ein Glas Wasser einschenken, und als ich mich auszog, sah ich, wie sie ein Fläschchen nahm und heimlich drei Tropfen daraus in das Glas gab. Es war ein Schlaftrunk. Ich sah zum ersten Mal, dass sie ihn nahm. Sie musste davon gähnen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie bereits wach; sie lag da, eine Strähne ihres Haares im Mund, und starrte die Gestalten auf ihrem Betthimmel an.

»Bürste mein Haar ganz fest«, sagte sie zu mir, als sie dastand und sich von mir ankleiden ließ. »Bürste es ganz fest und bringe es zum Glänzen. Oh, wie schrecklich blass meine Wangen sind! Kneif nur kräftig hinein, Sue.« Sie führte meine Finger zu ihrem Gesicht. »Kneif hinein! Kümmere dich nicht darum, ob ich davon einen Bluterguss bekomme! Lieber blaue Wangen als so abscheulich blasse!«

Ihre Augen waren dunkel, vielleicht von den Schlaftropfen. Sie runzelte die Stirn. Es beunruhigte mich, sie über Blutergüsse reden zu hören. Ich sagte: »Stehen Sie still oder ich kann Sie nicht ankleiden. So ist es besser. Nun, welches Kleid möchten Sie anziehen?«

»Das Graue?«

»Das Graue ist so nichtssagend. Nehmen wir doch das Blaue …«

Das Blaue betonte ihr helles Haar. Sie stand vor dem Spiegel und sah zu, wie ich es zuknöpfte. Ihre Gesichtszüge wurden weicher, je höher ich kam. Dann sah sie mich an. Sie sah mein braunes Stoffkleid an.

»Dein Kleid ist doch ziemlich schlicht, nicht wahr, Sue? Ich glaube, du solltest ein anderes anziehen.«

»Ein anderes anziehen? Ich habe nur dieses eine.«

»Nur dieses eine? Gütiger Himmel. Ich habe es mir jetzt schon übergesehen. Was hast du denn bei Lady Alice getragen, die so freundlich zu dir war? Hat sie dir denn nicht ihre abgelegten Kleider gegeben?«

Der Gedanke beschlich mich, dass Gentleman mich an dieser Stelle in die Bredouille gebracht hatte, indem er mich mit nur einem guten Kleid nach Briar schickte. Verlegen antwortete ich: »Nun, es ist so, dass Lady Alice so gütig war wie ein Engel. Doch sie war auch ziemlich sparsam. Sie hat meine Kleider behalten, um sie für ihre neue Zofe mit nach Indien zu nehmen.«

Maud blinzelte mit ihren schwarzen Augen und sah mich mitleidig an. »Behandeln die Damen in London so ihre Zofen?«

»Nur die Sparsamen, Miss«, erwiderte ich.

»Nun, hier gibt es nichts, womit ich sparsam umgehen müsste. Du brauchst und bekommst noch ein weiteres Kleid, das du morgens anziehen kannst. Und vielleicht auch noch ein weiteres, damit du dich umziehen kannst, wenn – nun, angenommen, wir bekommen Besuch.«

Sie verbarg ihr Gesicht hinter der Tür des Kleiderschranks. »Also, ich glaube, wir haben in etwa die gleiche Größe. Hier sind zwei oder drei Kleider, sieh mal, die ich nie getragen habe und nicht vermissen werde. Du trägst deine Röcke gerne lang, wie ich sehe. Mein Onkel sieht mich nicht gerne in langen Röcken, er hält lange Röcke für ungesund. Aber bei dir wird es ihm natürlich gleich sein. Du musst hier nur den Saum ein wenig auslassen. Das kannst du doch sicher, oder?«

Nun, im Nähteauftrennen war ich ja wirklich geübt. Und eine gerade Naht konnte ich auch nähen, wenn es darauf ankam. Artig sagte ich: »Danke, Miss.« Sie hielt mir ein Kleid vor die Brust. Es war ein merkwürdiges Ding aus orangefarbenem Samt mit Rüschen und einem weiten Rock. Es sah aus, als wäre es während eines heftigen Sturms bei einem Damenschneider zusammengeweht worden.

Maud musterte mich und sagte dann: »Oh, probiere es an, Susan, bitte! Komm, ich helfe dir auch.« Sie trat ganz nahe an mich heran und fing an mich zu entkleiden. »Siehst du, ich kann das ebenso gut wie du. Nun bin ich deine Zofe, und du bist die Herrin!« Sie kicherte die ganze Zeit nervös vor sich hin.

»So, schau mal in den Spiegel«, sagte sie schließlich. »Wir könnten fast Schwestern sein!« Unbeholfen hatte sie mir mein braunes Kleid vom Leib gezerrt und mir das merkwürdige orangefarbene Ding über den Kopf gestülpt, und nun musste ich vor dem Spiegel stehen, während sie sich mit den Häkchen abmühte. »Einatmen!«, befahl sie. »Noch tiefer! Das Kleid ist sehr eng, aber es wird dir die Figur einer Dame verleihen.«

Ihre eigene Taille war viel schmaler als meine, und sie war einige Zentimeter größer als ich. Mein Haar war dunkler. Wir sahen nicht aus wie Schwestern – wir sahen beide aus wie Schreckgespenster. Meine Knöchel schauten unter dem Kleid hervor. Hätte einer der Jungs aus der Lant Street mich so gesehen, wäre ich tot umgefallen.

Aber hier gab es keine Jungs von daheim, die mich hätten sehen können, und auch keine Mädchen. Und es war ziemlich guter Samt. Ich stand da und zupfte an den Rüschen des Rocks herum, während Maud zu ihrer Schmuckschatulle ging und eine Brosche herausnahm, um sie an meiner Brust festzustecken. Dabei legte sie den Kopf schief, um besser sehen zu können, wie sie wirkte. Dann klopfte es an der Salontür.

»Das ist Margaret«, sagte Maud, die Wangen hochrosa. »Komm hierher in den Ankleideraum, Margaret!«

Margaret kam herein und knickste, wobei sie mich ansah. »Ich wollte nur Ihr Tablett holen, Miss – oh! Miss Smith! Sind Sie das? Ich habe Sie glatt mit der Herrin verwechselt!«

Sie errötete, und Maud – die im Schatten der Vorhänge an ihrem Bett stand – sah aus wie ein kleines Mädchen; sie hielt sich die Hand vor den Mund und wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Ihre dunklen Augen strahlten.

»Angenommen«, sagte sie, als Margaret gegangen war, »angenommen, Mr. Rivers würde passieren, was Margaret passiert ist – er würde uns beide verwechseln? Was würden wir denn dann machen?« Wieder lachte sie und wollte sich schier ausschütten.

Ich schaute in den Spiegel und lächelte. Es war doch was, für eine Dame gehalten zu werden, oder etwa nicht? Das hätte sich meine Mutter für mich gewünscht.

Und außerdem würde ich mir am Ende ohnehin das Schönste aus ihren Kleidern und ihrem Schmuck aussuchen können. Nun fing ich eben schon mal damit an. Ich behielt das orangefarbene Kleid, und während Maud bei ihrem Onkel war, saß ich da und ließ den Saum aus und weitete das Mieder. Ich würde mich auf keinen Fall an mir selbst vergehen, bloß um einer Wespentaille willen.

»Na, sehen wir aber hübsch aus!«, rief Maud, als ich sie abholte. Sie stand da und musterte mich eingehend, dann strich sie ihre eigenen Röcke glatt. »Oh, hier ist Staub dran« rief sie, »von den Bücherregalen meines Onkels! Oh! Diese abscheulichen Bücher!« Sie weinte beinahe und rang die Hände.

Ich klopfte den Staub aus ihren Röcken und wünschte mir, ich könnte ihr sagen, dass sie sich ganz umsonst sorgte. Sie hätte mit einem Sack bekleidet sein und das Gesicht eines Kohlenträgers haben können. Solange fünfzehntausend Pfund mit der Aufschrift Miss Maud Lilly auf der Bank lagen, solange würde Gentleman sie wollen.

Es war schon ziemlich furchtbar, sie zu sehen und so zu tun, als wüsste ich von nichts. Bei einem anderen Mädchen wäre es vielleicht lustig gewesen.

Ich sagte etwa: »Geht es Ihnen nicht gut, Miss? Soll ich Ihnen irgendetwas holen? Soll ich Ihnen einen kleinen Spiegel bringen, damit Sie darin Ihr Gesicht betrachten können?«

Und sie erwiderte: »Nicht gut? Mir ist nur ein wenig kalt, und ich gehe umher, um mein Blut in Wallung zu bringen.« Und: »Einen Spiegel, Sue? Wozu sollte ich wohl einen Spiegel brauchen?«

»Ich hatte den Eindruck, Sie betrachteten sich heute öfter als gewöhnlich, Miss.«

»Mich betrachten! Und warum sollte ich das wohl tun?«

»Ich weiß es nicht, Miss, ich weiß es nicht.«

Ich wusste, dass Gentlemans Zug um vier Uhr in Marlow ankommen sollte und dass man William Inker geschickt hatte, ihn abzuholen, so wie man ihn damals geschickt hatte, mich abzuholen. Um drei Uhr erklärte Maud, sie wolle am Fenster sitzen und sich dort ihrer Handarbeit widmen, wo das Licht besser war. Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings schon beinahe dunkel, doch ich widersprach ihr nicht. Neben den rappelnden Fensterläden und verschimmelten Sandsäcken gab es einen kleinen gepolsterten Sitzplatz, der kälteste Ort im ganzen Zimmer. Eineinhalb Stunden lang harrte sie dort aus, ein Wolltuch um die Schultern. Sie zitterte, blinzelte angestrengt auf ihre Näharbeit und warf klammheimlich Blicke auf den Weg, der zum Haus heraufführte.

Ich dachte, wenn das keine Liebe war, dann hieß ich nicht Susan, und wenn es tatsächlich Liebe war, dann waren Liebende nichts weiter als Gimpel und Gänse, und ich war froh, dass ich nicht dazugehörte.

Schließlich legte Maud eine Hand auf ihr Herz und stieß einen unterdrückten kleinen Schrei aus. Sie hatte das Licht von William Inkers Einspänner näherkommen sehen. Sogleich sprang sie auf, stellte sich vor den Kamin und presste die Hände zusammen. Wenig später hörte man das Pferd auf dem Schotter.

Ich sagte: »Ob das Mr. Rivers ist, Miss?«

Und Maud erwiderte: »Mr. Rivers? Ist es denn schon so spät? Nun, dann wird er es wohl sein. Wie wird mein Onkel erfreut sein!«

Ihr Onkel empfing Gentleman als Erster. Maud sagte: »Vielleicht wird er nach mir schicken, damit ich Mr. Rivers willkommen heißen kann. Wie sitzt mein Kleid? Hätte ich nicht doch lieber das graue anziehen sollen?«

Aber Mr. Lilly schickte nicht nach ihr. Wir hörten Stimmen und wie Türen in den Räumen im Stockwerk unter uns geschlossen wurden, doch eine weitere Stunde verging, bis das Hausmädchen schließlich erschien und die Nachricht überbrachte, dass Mr. Rivers angekommen war.

»Hat Mr. Rivers sein altes Zimmer zu seiner Zufriedenheit vorgefunden?«, erkundigte Maud sich.

»Ja, Miss.«

»Mr. Rivers ist vermutlich recht müde nach der langen Reise?«

Mr. Rivers ließ ausrichten, er sei nur mäßig müde und freue sich darauf, Miss Lilly gemeinsam mit ihrem Onkel beim Abendessen zu sehen. Vorher wage er gar nicht daran zu denken, Miss Lilly zu stören.

»Verstehe«, sagte sie, als sie das hörte. Dann biss sie sich auf die Lippen. »Bitte richte Mr. Rivers aus, Miss Lilly würde es keinesfalls als Störung empfinden, wenn er sie noch vor dem Abendessen in ihrem Salon besuchte …« So plapperte sie noch eine Weile weiter, stolperte dabei errötend über ihre eigenen Worte, bis das Hausmädchen ihre Nachricht schließlich verstanden hatte und verschwand. Sie blieb eine Viertelstunde fort; dann kehrte sie mit Gentleman zurück.

Er trat ins Zimmer und sah mich zunächst nicht an. Seine Augen waren allein auf Maud gerichtet. »Miss Lilly, wie freundlich von Ihnen, mich hier zu empfangen, so verschmutzt und zerzaust von der Reise wie ich bin. Das ist ganz Ihre Art!«

Seine Stimme klang sanft. Was den Schmutz anging – nun, er sah aus wie aus dem Ei gepellt; vermutlich war er rasch auf sein Zimmer gegangen und hatte den Rock gewechselt. Sein Haar war glatt und glänzte, sein Schnurrbart war ordentlich gestutzt. Er trug einen kleinen unauffälligen Ring am kleinen Finger, doch davon abgesehen waren seine Hände ohne Schmuck und sehr sauber. Er sah aus, wie er aussehen wollte – wie ein gutaussehender netter Gentleman. Als er sich dann schließlich zu mir umdrehte, machte ich zu meiner eigenen Verwunderung einen Knicks und war fast verlegen.

»Und da ist auch Susan Smith!«, sagte er. Dabei musterte er mich in meinem Samtkleid, und sein Mund zuckte, als kämpfe er mit einem Lachen. »Ich hätte sie wahrlich beinahe für eine Dame gehalten!« Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand, und auch Maud kam zu mir herüber. Er sagte: »Ich hoffe, deine Stellung in Briar gefällt dir, Sue. Ich hoffe, du erweist dich deiner neue Herrin als gutes Mädchen.«

Ich erwiderte: »Das hoffe ich auch, Sir.«

»Sie ist ein sehr gutes Mädchen«, sagte Maud. »Sie ist wirklich ein sehr gutes Mädchen.« Sie klang irgendwie nervös und dankbar zugleich – so als würde man, weil man sich zu einer Unterhaltung genötigt sieht, mit einem Fremden über seinen Hund sprechen.

Gentleman drückte mir kurz die Hand. Dann sagte er: »Natürlich kann sie gar nicht anders – ich wage zu behaupten, kein Mädchen könnte anders als gut sein, Miss Lilly, mit Ihnen als Vorbild.«

Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Nun stieg sie ihr wieder in die Wangen. »Sie sind sehr freundlich«, gab sie zurück.

Gentleman schüttelte den Kopf. »Kein Gentleman könnte anders«, murmelte er, »wenn er zu Ihnen freundlich sein darf.«

Nun waren seine Wangen ebenso zart gerötet wie Mauds. Ich vermute, er hatte eine besondere Art, den Atem anzuhalten, damit ihm das Blut in den Kopf stieg. Er sah Maud unverwandt an, und schließlich schaute sie auch ihn an und lächelte. Dann lachte sie.

Da dachte ich zum ersten Mal, dass er recht gehabt hatte. Maud war tatsächlich hübsch – sie war sehr blass und zierlich. Ich wusste es, als ich sie sah, wie sie neben ihm stand und ihm in die Augen schaute.

Gimpel und Gänse. Die große Uhr schlug, und sie zuckten zusammen und wandten ihre Blicke ab. Gentleman sagte, er habe Mauds Zeit zu lange in Anspruch genommen. »Ich werde Sie, so hoffe ich, beim Abendessen mit Ihrem Onkel sehen?«

»Mit meinem Onkel, ja«, antwortete sie leise.

Er verbeugte sich vor ihr und ging zur Tür. Dann, als er schon beinahe draußen war, schien er sich an mich zu erinnern, und mit großer Gebärde klopfte er seine Taschen ab auf der Suche nach Kleingeld. Er kramte einen Shilling hervor und winkte mich zu sich.

»Hier, für dich, Sue«, sagte er. Er drückte mir den Shilling in die Hand. Er war unecht. »Alles in Ordnung?«, fügte er so leise hinzu, dass Maud es nicht hören konnte.

Ich entgegnete: »Oh, vielen Dank, Sir!« Ich knickste abermals und zwinkerte ihm zu. Gentleman lächelte hochzufrieden, verbeugte sich abermals und ging hinaus. Maud schaute mich kurz an, dann ging sie schweigend in ihr Zimmer und schloss die Tür. Ich weiß nicht, was sie dort drinnen tat, bis sie mich eine halbe Stunde später rief, damit ich ihr half, sie zum Abendessen umzukleiden.

Ich saß unterdessen da und warf den Shilling in die Luft. Na ja, dachte ich, falsche Münzen glänzen genauso wie echte. Dieser Gedanke machte mich irgendwie unzufrieden, aber ich wusste nicht recht, warum.

An jenem Abend blieb Maud nach dem Abendessen noch ein oder zwei Stunden im Salon, wo sie ihrem Onkel und Gentleman vorlas. Ich hatte den Salon bis dahin noch nicht gesehen. Was Maud tat, wenn wir nicht zusammen waren, wusste ich nur durch die Bemerkungen, die Mr. Way oder Mrs. Stiles fallen ließen, wenn wir während des gemeinsamen Essens zusammensaßen. Meine Abende verbrachte ich noch immer in der Küche und in Mrs. Stiles’ Anrichte, und es waren für gewöhnlich ziemlich langweilige Abende. Doch an diesem Abend war das anders.

Als ich hinunterging, traf ich auf Margaret, die gerade zwei große Gabeln in einen gewaltigen Schinken steckte, der im Ofen schmorte, und Mrs. Stiles, die Honig darauf löffelte. Honigschinken, sagte Margaret und schürzte die Lippen, sei Mr. Rivers’ Leibgericht. Und Mrs. Cakebread meinte, für Mr. Rivers zu kochen sei eine wahre Freude. Statt ihrer alten Wollstrümpfe trug sie das Paar schwarze Seidenstrümpfe, das ich ihr geschenkt hatte, und die Hausmädchen trugen statt ihrer gewöhnlichen Hauben nun welche mit besonders vielen Rüschen.

Charles, der Silberputzer, hatte das Haar glattgekämmt und einen schnurgeraden Scheitel gezogen: Pfeifend saß er auf einem Schemel neben dem Feuer und wichste Gentlemans Stiefel. Er war im gleichen Alter wie John Vroom, doch blond und hellhäutig, im Gegensatz zu John, der sehr dunkel war. Er meinte: »Was sagen Sie dazu, Mrs. Stiles? Mr. Rivers sagt, in London könnte man Elefanten sehen. Dort hielte man Elefanten in Hürden in den Parks, so wie wir hier Schafe halten. Und für Sixpence kann man auf dem Rücken eines Elefanten reiten.«

»Ja, du meine Güte!«, rief Mrs. Stiles. Sie hatte eine Brosche am Ausschnitt ihres Kleides festgesteckt. Es war eine Trauerbrosche, in der sich noch mehr schwarzes Haar befand.

Elefanten!, dachte ich. Ich begriff, dass Gentleman hier hereingeplatzt war wie ein Hahn in einen Hühnerstall voll schlafender Hennen, und nun flatterten sie alle aufgeregt durcheinander. Sie sagten, er sei gutaussehend und von vornehmerer Herkunft als so mancher Herzog und er wisse, wie man Dienstboten zu behandeln habe. Sie sagten, wie schön es für Miss Maud sei, dass wieder so ein kluger junger Mann wie er im Hause war. Wäre ich aufgestanden und hätte die Wahrheit gesagt – dass sie ein Haufen Einfaltspinsel waren, dass Mr. Rivers der Teufel in Menschengestalt war, der Maud heiraten und ihre gesamte Barschaft stehlen wollte, um sie dann einzusperren und zu hoffen, dass sie starb – wäre ich aufgestanden und hätte ihnen das gesagt, sie hätten mir nie und nimmer geglaubt. Sie hätten mich für verrückt erklärt. Einem Gentleman schenkt man immer mehr Glauben als jemandem wie mir.

Und natürlich lag es mir fern, ihnen so etwas zu erzählen. Ich behielt meine Gedanken für mich, und später, beim Nachtisch in ihrer Anrichtekammer, saß Mrs. Stiles da, spielte an ihrer Brosche herum und war ebenfalls recht schweigsam. Mr. Way ging mit seiner Zeitung zum Klosett. Er hatte zu Mr. Lillys Abendessen zwei gute Weine auftischen müssen und war der Einzige von uns allen, der sich nicht darüber freute, dass Gentleman gekommen war.

Wenigstens glaubte ich, dass ich mich freute. »Du tust es«, sagte ich mir, »du weißt es nur noch nicht. Du wirst es spüren, wenn du ihn erst unter vier Augen gesehen hast.« – Ich dachte, wir würden einen Weg finden, uns in ein oder zwei Tagen heimlich zu treffen. Es vergingen jedoch ganze zwei Wochen, eher es uns schließlich gelang. Für mich gab es einfach keinen Grund, weshalb ich ohne Maud durch die herrschaftlichen Teile des Hauses streunen sollte. Ich bekam das Zimmer, in dem Gentleman schlief, nie zu sehen, und er suchte mich auch nie in meiner Kammer auf. Außerdem war der Tagesablauf in Briar streng geregelt – es war wie eine große mechanische Darbietung, die sich nicht so leicht ändern ließ. Die Hausglocke weckte uns am Morgen, und danach bewegten wir uns alle im immer gleichen Trott von Zimmer zu Zimmer, auf genau festgelegten Pfaden, bis die Glocke abends wieder läutete, damit wir zu Bett gingen. Es war fast, als wären Gleise in den Dielenbrettern verlegt, als glitten wir auf Stangen durchs Haus. Es war, als befände sich eine große Kurbel an der Seite des Hauses, und eine große Hand drehte sie. Manchmal, wenn ich durch die Fenster hinausblickte und draußen nichts sah, weil es dunkel war oder nebelverhangen, dann stellte ich mir diese Kurbel vor und bildete mir fast schon ein zu hören, wie sie sich drehte. Ich begann mich davor zu fürchten, was geschehen würde, wenn sie sich einmal nicht mehr drehte. Das sind sie – die Folgen des beschaulichen Landlebens.

Als Gentleman kam, geriet die ganze Maschinerie dieser Aufführung kurz ins Stocken. Man hörte das Grollen der Zahnräder, die Figuren ruckten kurz auf ihren Stangen, ein, zwei Gleise wurden neu verlegt, und dann lief alles weiter, ebenso reibungslos wie zuvor, nur die Abfolge der Szenen war eine andere. Maud ging nun nicht mehr zu ihrem Onkel, um ihm vorzulesen, während er sich Notizen machte. Sie hielt sich in ihren eigenen Räumen auf. Wir saßen beisammen und nähten oder spielten Karten oder gingen spazieren, hinunter an den Fluss oder zu den Eiben und den Gräbern.

Was Gentleman anging, er wachte um sieben Uhr auf und nahm sein Frühstück im Bett ein. Es wurde ihm von Charles serviert. Um acht Uhr begann er mit der Arbeit an Mr. Lillys Bildern. Mr. Lilly gab ihm dabei Anweisungen. Er stellte sich bei seinen Bildern ebenso närrisch an wie bei seinen Büchern. Er hatte einen kleinen Raum herrichten lassen, dunkler und enger noch als seine Bibliothek, in dem Gentleman arbeitete. Ich vermute, die Bilder waren alt und sehr wertvoll. Ich bekam sie nie zu sehen. Niemand bekam sie je zu sehen. Mr. Lilly und Gentleman hatten Schlüssel, die sie stets bei sich trugen, und verschlossen die Tür zu dem Raum, ganz gleich, ob sie drinnen waren oder draußen.

Sie arbeiteten bis ein Uhr, dann aßen sie zu Mittag. Maud und ich speisten allein. Wir aßen schweigend. Manchmal aß sie auch gar nichts, sondern saß nur da und wartete. Dann, um Viertel vor zwei, holte sie ihre Mal- und Zeichensachen – Bleistifte und Farben, Papier und Karton, einen hölzernen Winkel – und legte sie bereit, ganz ordentlich, im immer gleichen Muster. Dabei ließ sie sich nicht von mir helfen. Wenn mal ein Pinsel herunterfiel und ich ihn auffing, dann nahm sie alles erneut in die Hand – Papier, Bleistifte, Farben, Winkel – und begann noch einmal von vorn.

Ich lernte, nichts anzufassen, sondern nur zuzusehen. Und dann lauschten wir beide darauf, dass die Uhr zwei schlug. Eine Minute später kam Gentleman dann und hielt die tägliche Unterrichtsstunde ab.

Zunächst blieben sie im Salon. Er legte einen Apfel und eine Birne auf den Tisch und stellte einen Wasserkrug dazu. Dann stand er da und nickte, während Maud bemüht war, das alles auf Karton zu malen. Mit dem Pinsel stellte sie sich etwa so geschickt an, wie sie es mit einem Spaten getan hätte. Aber Gentleman legte stets den Kopf schief oder kniff die Augen zusammen, wenn er ihr Gekleckse hochhielt, und sagte: »Ich muss schon sagen, Miss Lilly, Sie sind dabei, sich eine außerordentliche Technik anzueignen.« Oder: »Welch Fortschritt im Vergleich zu Ihren Skizzen vom vorigen Monat!«

»Finden Sie, Mr. Rivers?«, erwiderte Maud dann stets errötend. »Ist die Birne nicht ein wenig mickrig geraten? Sollte ich nicht besser an meiner Perspektive arbeiten?«

»Die Perspektive ist vielleicht noch ein wenig verbesserungswürdig«, entgegnete er dann. »Doch Sie, Miss Lilly, haben eine Gabe, die bloße Technik bei Weitem übertrifft. Sie haben ein Auge für das Wesentliche. Ich wage es fast nicht, vor Ihnen zu stehen! Ich wage gar nicht daran zu denken, was Sie entdecken könnten, würden Sie Ihr Auge einmal auf mich richten.«

Er sagte immer etwas in der Art und das mit einer Stimme, die zunächst energisch klang und dann ganz weich und zögerlich wurde. Und Maud schaute daraufhin drein, als wäre sie ein Wachsfigürchen, das dem Feuer zu nahe gekommen war. Sie versuchte sich dann noch einmal an dem Obst, woraufhin die Birne dann eher wie eine Banane aussah. Gentleman erklärte dann, das Licht sei zu schwach oder der Pinsel tauge nichts.

»Ach, könnte ich Sie doch nur mit nach London in mein Atelier nehmen, Miss Lilly!«

Dieses Leben hatte er sich zurechtgesponnen – das Leben eines Künstlers in einem Haus in Chelsea. Er sagte, er habe viele interessante Freunde, die ebenfalls Künstler seien.

»Auch Freundinnen?«, fragte Maud.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte er darauf. »Denn ich bin der Meinung« – dann schüttelte er den Kopf – »nein, meine Ansichten schmecken nicht jedermann. Sehen Sie mal hier, versuchen Sie, diesen Strich etwas bestimmter zu führen.«

Er trat zu ihr und legte seine Hand auf ihre. Sie wandte sich zu ihm um. »Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie denken, Mr. Rivers? Sie können ganz offen sprechen. Ich bin kein Kind mehr, Mr. Rivers!«

»Nein, das sind Sie nicht«, sagte er sanft, wobei er ihr tief in die Augen schaute. Dann fuhr er fort: »Letzten Endes sind meine Ansichten recht harmlos. Sie betreffen ihr – ihr Geschlecht und die Umstände der Schöpfung. Es gibt etwas, Miss Lilly, das Ihrem Geschlecht fehlt.«

Sie schluckte. »Und das wäre, Mr. Rivers?«

»Ganz einfach«, antwortete er, »die Freiheit, die mein Geschlecht genießt.«

Maud saß reglos da, dann rutschte sie unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Der Stuhl knarrte. Durch das Geräusch schien sie aufzuschrecken und zog ihre Hand fort. Sie sah auf, schaute in den Spiegel und bemerkte, dass ich sie ansah; da errötete sie. Dann schaute auch Gentleman auf und sah sie an. Da stieg ihr das Blut umso mehr in die Wangen, und sie senkte den Blick. Er sah von ihr zu mir herüber, dann wieder zu ihr. Er hob die Hand und strich sich über den Schnurrbart.

Dann setzte sie den Pinsel auf dem Früchtebild an, und – »Oh!«, rief sie. Die Farbe lief herunter wie eine Träne. Gentleman sagte, das solle sie nicht weiter bekümmern, er habe sie für heute hart genug gefordert. Er ging zum Tisch hinüber, nahm die Birne und rieb sie blank. Maud hatte ein kleines Federmesser bei ihren Pinseln und Bleistiftminen, und das nahm er heraus und schnitt die Birne in drei feuchte Scheiben. Eine davon gab er ihr, eine behielt er für sich selbst, und von der letzten schüttelte er den Saft und brachte sie mir.

»Beinahe reif, glaube ich«, sagte er augenzwinkernd.

Er führte seine Birnenscheibe zum Mund und aß sie mit zwei energischen Bissen. Sie hinterließ trübe Safttropfen in seinem Bart. Gedankenverloren leckte er sich die Finger, und ich leckte meine, und Maud ließ ausnahmsweise zu, dass ihre Handschuhe schmutzig wurden – sie saß da, die Frucht an ihren Lippen, und knabberte mit finsterem Blick daran.

Wir dachten über Geheimnisse nach. Echte Geheimnisse und vorgetäuschte. Zu viele, um sie überhaupt zählen zu können. Wenn ich heute versuche herauszufinden, wer was wusste und wer gar nichts wusste, wer alles wusste und wer ein Schwindler, eine Schwindlerin war, dann bin ich gezwungen innezuhalten und muss schließlich aufgeben, denn mir schwirrt der Kopf.

Endlich sagte Gentleman, Maud könne sich nun an der Landschaftsmalerei versuchen. Ich erriet augenblicklich, was das bedeuten würde. Es bedeutete, dass er mit ihr durch den Park spazieren konnte, hin zu all den schattigen einsamen Orten, und das auch noch Unterweisung nennen konnte. Ich glaube, auch Maud hatte es erraten. »Wird es heute Regen geben, was meinst du?«, fragte sie besorgt, das Gesicht ans Fenster gedrückt, den Blick auf die Wolken gerichtet. Es war Ende Februar und noch immer sehr frostig. Doch so wie alle im Haus sich aufgeputzt hatten, als Mr. Rivers zurückgekommen war, so schien selbst das Wetter sich nun zu bessern und milder zu werden. Der Wind ließ nach, und die Fenster hörten auf zu rappeln. Der Himmel war nun nicht mehr dunkelgrau, sondern perlgrau. Der Rasen färbte sich so grün wie das Tuch auf einem Billardtisch.

Wenn ich morgens allein mit Maud spazieren gegangen war, dann war ich an ihrer Seite gewesen. Nun ging sie neben Gentleman. Er bot ihr den Arm, und mit gespieltem Zögern nahm sie ihn. Ich glaube, es fiel ihr etwas leichter, da sie es inzwischen gewohnt war, sich bei mir unterzuhaken. Trotzdem wirkte sie recht steif. Doch geschickt fand Gentleman immer wieder Gelegenheiten, sie näher an sich zu ziehen. Er neigte den Kopf, bis er ganz nahe an ihrem war. Er gab vor, ein Stäubchen von ihrem Kragen zu bürsten. Zu Anfang war immer ein Abstand zwischen ihnen, doch dieser wurde beständig kleiner – zu guter Letzt streifte dann sein Ärmel den ihren, ihr Rock bauschte sich gegen seine Hose. Ich sah alles, denn ich ging hinter ihnen. Ich trug die Mappe mit den Farben und Pinseln, ihren hölzernen Winkel und einen Schemel. Manchmal waren sie mir ein Stück voraus und schienen mich gänzlich zu vergessen. Dann erinnerte Maud sich wieder an mich, drehte sich um und sagte: »Wie lieb du bist, Sue! Macht dir der Spaziergang auch nichts aus? Mr. Rivers denkt, noch eine Viertelmeile wird genügen.«

Das dachte Mr. Rivers immer. Er führte sie langsam durch den Park, vorgeblich auf der Suche nach Motiven, die sie malen sollte, tatsächlich jedoch hielt er sie eng an seiner Seite und raunte ihr Dinge ins Ohr, und ich musste mit der gesamten Ausrüstung hinterherlaufen.

Ich war der Grund, weshalb sie überhaupt spazieren gehen konnten. Ich sollte Gentleman im Auge behalten und achtgeben, dass er sich anständig benahm.

Und wie ich ihn im Auge behielt! Und auch Maud behielt ich im Auge. Manchmal schaute sie ihm ins Gesicht. Meist jedoch blickte sie zu Boden, hin und wieder auch auf eine Blume oder ein Blatt oder einen flatternden Vogel. Und wenn sie das tat, dann drehte er sich halb zu mir um, sah mir in die Augen und lächelte teuflisch. Aber sobald sie sich ihm wieder zuwandte, war sein Gesicht katzenfreundlich.

Man hätte schwören können, wenn man ihn so sah, dass er sie liebte.

Man hätte schwören können, wenn man sie so sah, dass sie ihn liebte.

Doch man sah auch, dass Maud sich vor ihrem eigenen flatternden Herzen fürchtete. Gentleman durfte nicht allzu schnell vorpreschen. Er berührte sie nie, außer wenn er ihr den Arm bot und ihre Hand beim Malen führte. Er beugte sich dicht über sie und sah zu, wie sie stümperhaft mit den Farben herumkleckste, und ihr Atem vereinte sich mit seinem, und sein Haar vermischte sich mit ihrem. Doch wenn er auch nur ein wenig näher kam, dann zuckte sie zurück. Ihre Handschuhe behielt sie an.

Irgendwann entdeckte er diesen Platz am Fluss, und Maud begann die Landschaft dort zu malen. Jeden Tag fügte sie mehr dunkle Binsen hinzu. Die Abende verbrachte sie damit, ihm und Mr. Lilly im Salon vorzulesen. Überreizt ging sie danach zu Bett. Manchmal nahm sie noch mehr Schlaftropfen, und manchmal zitterte sie im Schlaf. Dann nahm ich sie in den Arm, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Ich hielt sie ruhig um Gentlemans willen. Später würde er von mir verlangen, sie durcheinanderzubringen, doch vorerst hielt ich sie ruhig, hübsch und adrett gekleidet. Ich wusch ihr Haar mit Essig und bürstete es, bis es glänzte. Gentleman kam in ihren Salon, betrachtete sie und verbeugte sich. Und wenn er dann sagte: »Miss Lilly, ich glaube, Ihr Gesicht wird mit jedem Tag lieblicher!«, dann wusste ich, dass er es ernst meinte. Aber ebenso wusste ich auch, dass dieses Kompliment nicht ihr galt, sondern mir, die das alles bewirkte.

Ich erriet solche Dinge. Er konnte nicht offen sprechen, veranstaltete aber mit Augen und Lächeln ein großes Schauspiel. Geduldig warteten wir auf eine Gelegenheit, uns unter vier Augen zu unterhalten. Und als es schon aussah, als werde diese Gelegenheit sich nie bieten, da ergab sie sich – und Maud in ihrer unschuldigen Art war es, die sie uns verschaffte.

Denn eines Morgens, ganz früh, sah sie ihn vom Fenster ihres Zimmers aus. Sie stand an der Scheibe und lehnte den Kopf dagegen und sagte: »Dort ist Mr. Rivers, siehst du, er spaziert auf dem Rasen herum.«

Ich ging zu ihr hin und stellte mich neben sie, und siehe da – dort war er. Er schlenderte über das Gras und rauchte eine Zigarette. In der noch nicht sehr hoch stehenden Sonne warf er einen langen Schatten.

»Wie groß er ist!«, staunte ich mit einem Seitenblick auf Maud. Sie nickte. Ihr Atem ließ die Scheiben beschlagen, und sie wischte darüber. Dann rief sie: »Oh!« – als sei er hingefallen, »oh! Ich glaube, seine Zigarette ist ausgegangen. Armer Mr. Rivers!«

Gentleman betrachtete das dunkle Ende seines Glimmstängels. Dann tastete er seine Hosentasche ab auf der Suche nach einem Streichholz. Maud wischte abermals über die Fensterscheibe.

»Kann er sie wieder anzünden? Hat er ein Streichholz?«, sagte sie. »Oh, ich glaube nicht! Und die Uhr hat schon vor bestimmt zwanzig Minuten die halbe Stunde geschlagen. Er muss bald zu meinem Onkel gehen. Nein, er findet in all seinen Taschen kein einziges Streichholz …« Sie sah mich an und rang die Hände, als wolle ihr schier das Herz brechen.

Ich sagte: »Es wird ihn schon nicht umbringen, Miss.«

»Ach, der arme Mr. Rivers«, seufzte sie noch einmal. »O Sue, würdest du dich beeilen, dann könntest du ihm ein Streichholz bringen. Schau nur, er steckt die Zigarette weg. Wie traurig er jetzt aussieht!«

Wir hatten keine Streichhölzer. Margaret bewahrte sie in ihrer Schürze auf. Als ich Maud das sagte, rief sie: »Dann nimm eine Kerze! Nimm irgendetwas! Nimm eine Kohle aus dem Feuer! Oh, kannst du dich denn nicht beeilen? Aber sag bloß nicht, ich hätte dich geschickt!«

Ist das zu glauben? Sie wollte, dass ich zwei Treppen hinunterstolperte, eine glühende Kohle in der Feuerzange, nur damit der Mann seine morgendliche Zigarette rauchen konnte? Nun, da ich ihre Bedienstete war, musste ich es wohl oder übel tun.

Gentleman sah, wie ich über den Rasen auf ihn zukam, sah, was ich in der Hand hatte, und lachte.

Ich sagte: »Na schön, sie hat mich damit hergeschickt, damit du dir deine Zigarette anzünden kannst. Du solltest besser ein erfreutes Gesicht machen, denn sie schaut zu. Mach ruhig ein großes Aufhebens darum.«

Er hob den Blick zu ihrem Fenster, ohne den Kopf zu drehen. »Ist sie nicht ein gutes Mädchen«, sagte er.

»Für dich ist sie jedenfalls zu gut, soviel steht fest.«

Er machte ein freundliches Gesicht und lächelte, wie ein Gentleman eine Bedienstete anlächelt. Ich stellte mir vor, wie Maud zu uns herüberblickte und ihr immer schnellerer Atem das Fenster beschlagen ließ.

Gentleman sagte: »Kommen wir gut voran, Sue?«

»Recht gut«, antwortete ich.

»Glaubst du, sie liebt mich?«

»Das denke ich. O ja.«

Er zog ein silbernes Etui hervor und entnahm ihm eine Zigarette. »Aber sie hat sich dir noch nicht anvertraut?«

»Das braucht sie nicht.«

Er beugte sich über die Kohle. »Vertraut sie dir?«

»Das muss sie wohl. Sie hat ja sonst niemanden.«

Er zog an der Zigarette und atmete dann seufzend aus. Der Rauch zog in blauen Schwaden durch die kalte Luft. »Sie gehört uns.«

Er trat einen Schritt zurück, dann gab er mir ein Zeichen mit den Augen: Ich begriff, was er wollte. Ich ließ das Kohlenstück fallen, und er bückte sich und half mir, es aufzuheben. »Was noch?«, fragte er. Ich berichtete flüsternd über die Schlaftropfen und ihre Furcht vor schlechten Träumen. Lächelnd hörte er zu und hantierte dabei die ganze Zeit über mit der Feuerzange an der Kohle herum, und schließlich hatte er sie erwischt. Er richtete sich auf, drückte mir die Griffe der Zange in die Hand und presste sie fest zusammen.

»Die Tropfen und die Träume sind gut«, sagte er leise. »Sie werden uns später noch von Nutzen sein. Aber du weißt, was du jetzt zu tun hast? Lass sie nicht aus den Augen. Gewinne ihre Zuneigung. Sie ist unser kleines Juwel, Suky. Schon bald werde ich sie aus ihrer Fassung brechen und zu Barem machen. Halt sie so«, fuhr er mit normaler Stimme fort. Mr. Way war zur Vordertür gekommen, um nachzusehen, weshalb sie offenstand. »So, damit die Kohle nicht herunterfällt und Miss Lillys Teppiche versengt …«

Ich machte einen Knicks, und er wandte sich ab, und dann, während Mr. Way sich die Beine vertrat, in die Sonne blinzelte und seine Perücke zurückschob, um sich darunter zu kratzen, raunte er mir noch zu: »Man schließt in der Lant Street schon Wetten auf dich ab. Mrs. Sucksby hat fünf Pfund auf dich gesetzt, und ich bin beauftragt, dir einen Kuss von ihr zu geben.«

Er verzog den Mund zu einem stummen Kuss, dann steckte er sich die Zigarette zwischen die gespitzten Lippen und machte noch mehr blauen Qualm. Schließlich verbeugte er sich. Sein Haar fiel ihm über den Kragen. Er hob seine weiße Hand und strich es wieder hinters Ohr.

Ich sah, wie Mr. Way ihn von seinem Platz auf der Stufe eingehend musterte, so wie die Jungs aus der Lant Street – als sei er sich nicht ganz sicher, was er am liebsten mit ihm anstellen wollte: ihn auslachen oder ihn windelweich prügeln. Doch Gentleman schaute noch immer ganz unschuldig drein. Er hob sein Gesicht zur Sonne und streckte sich, damit Maud ihn oben im Schatten ihres Zimmers besser sehen konnte.

Von dem Tag an stand Maud jeden Morgen am Fenster und sah zu, wie Gentleman umherging und seine Zigarette rauchte. Sie stand am Fenster, das Gesicht gegen die Scheibe gedrückt, und die Scheibe hinterließ einen kreisrunden roten Fleck auf ihrer Stirn – einen vollkommenen roten Kreis in ihrem blassen Gesicht. Es sah aus wie der Fleck auf der Wange eines fiebernden Mädchens. Ich bildete mir ein, er werde mit jedem Tag dunkler und glühender.

Maud beobachtete Gentleman, und ich beobachtete die beiden. Und alle drei warteten wir darauf, dass das Fieber endlich ausbrach.

Ich hatte angenommen, es würde zwei Wochen dauern, oder auch drei. Aber zwei Wochen waren bereits vergangen, ohne dass wir große Fortschritte gemacht hätten. Dann vergingen zwei weitere, und noch immer war alles beim Alten. Maud war zu gut im Warten, und alles in diesem Haus lief vollkommen reibungslos. Sie sprang ein wenig aus ihren Gleisen heraus, um näher bei Gentleman sein zu können, und er schlich sich ein wenig aus den seinen, doch das ergab nur zwei neue Gleise, auf denen sie nun dahinglitten. Wir mussten die ganze Seifenblase zum Platzen bringen.

Ich musste sie dazu bewegen, sich mir anzuvertrauen, damit ich sie auf den richtigen Weg bringen konnte. Doch obwohl ich Tausende kleiner Andeutungen fallen ließ – wie beispielsweise, was für ein feiner Herr Mr. Rivers doch war und wie gutaussehend und von welch vornehmer Herkunft und wie sehr ihr Onkel ihn zu mögen schien und wie sie selbst ihn zu mögen schien und wie er sie zu mögen schien, und wenn eine junge Dame je ans Heiraten dächte, ob sie nicht auch der Meinung sei, dass Mr. Rivers dann genau der Richtige wäre. Obwohl ich ihr also tausend kleine Gelegenheiten bot, mir ihr Herz auszuschütten, ergriff sie keine einzige. Das Wetter verschlechterte sich, dann wurde es wieder wärmer. Der März kam. Dann stand der April vor der Tür. Bis zum Mai würden Mr. Lillys Gemälde alle aufgezogen sein, und Gentleman würde abreisen müssen. Doch noch immer sagte Maud nichts. Und er hielt sich zurück und drängte sie nicht, aus Angst, ein falscher Schritt könnte sie verschrecken.

Das lange Warten machte mich reizbar. Auch Gentleman war gereizt. Wir wurden alle so nervös wie Spitzel. Maud saß stundenlang da und zappelte herum, und wenn die Hausuhr schlug, zuckte sie zusammen, und dann zuckte auch ich zusammen. Und wenn die Zeit kam, zu der Gentleman ihr seinen Besuch abstattete, dann sah ich, wie sie angespannt auf seine Schritte lauschte. Dann klopfte er, und sie schreckte zusammen oder schrie auf oder ließ ihre Tasse fallen, die zerbrach. Und nachts lag sie steif und mit offenen Augen im Bett oder sie warf sich herum und murmelte im Schlaf.

Und das alles aus Liebe, dachte ich. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich dachte darüber nach, wie man eine solche Angelegenheit zu Hause geregelt hätte. Ich dachte an all die Dinge, die ein Mädchen normalerweise tun konnte, wenn sie einen Jungen mochte, von dem sie annahm, dass er sie mochte.

Ich dachte darüber nach, was ich wohl tun würde, wenn ein Mann wie Gentleman mich mochte.

Ich überlegte, sie vielleicht einmal beiseite zu nehmen und mit ihr zu reden, von Frau zu Frau. Doch dann dachte ich, das würde sie vielleicht unverschämt finden. Was ein ziemlich drolliger Gedanke ist, wenn man bedenkt, was später geschehen sollte.

Zunächst geschah jedoch etwas anderes. Das Fieber brach schließlich aus. Die Seifenblase platzte, und all unser Warten zahlte sich aus.

Maud ließ sich von ihm küssen.

Nicht auf die Lippen, sondern an einer noch viel besseren Stelle.

Das weiß ich, weil ich es gesehen habe.

Es geschah unten am Fluss, am ersten April. Das Wetter war für die Jahreszeit zu warm. Die Sonne schien hell vom grauen Himmel, und alle sagten, es zöge ein Gewitter auf.

Maud trug eine Jacke und einen Umhang über dem Kleid, und ihr war warm: Sie rief mich zu sich und ließ sich von mir den Umhang abnehmen und dann auch die Jacke. Sie malte an ihrem Bild mit den Binsen, und Gentleman stand dicht bei ihr, sah ihr zu und lächelte. Sie blinzelte in die Sonne, und hin und wieder hob sie eine Hand und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Ihre Handschuhe waren voller Farbspritzer, und auch im Gesicht hatte sie Farbkleckse.

Die Luft war schwül und schwer, doch die Erde fühlte sich kalt an. Die ganze Kälte des Winters steckte noch in ihr, und die Feuchtigkeit des Flusses. Die Binsen rochen faulig. Man hörte etwas, das wie die Feile eines Schlossers klang, und Gentleman meinte, es seien Ochsenfrösche. Ich sah langbeinige Spinnen und Käfer. Ein Busch stand da, der voller fester, dicker, pelziger Knospen war.

Ich setzte mich neben den Busch auf den umgedrehten Kahn. Gentleman hatte ihn für mich dorthin geschleppt, in den Schutz einer Mauer. Er lag so weit weg von ihm und Maud, wie Gentleman es nur hatte wagen können, mich zu platzieren. Ich verscheuchte einige Spinnen aus dem Korb mit den Törtchen. Das war meine Aufgabe, während Maud malte und Gentleman ihr zusah und lächelte und manchmal seine Hand auf ihre legte.

Sie malte, und die merkwürdig heiße Sonne sank, rote Streifen erschienen am grauen Himmel, und die Luft wurde immer schwüler. Und dann schlief ich ein. Ich schlief und träumte von der Lant Street: Mr. Ibbs stand an seinem Schmiedeherd und verbrannte sich die Hand und schrie. Der Schrei weckte mich. Ich sprang auf und wusste einen Moment lang gar nicht, wo ich war. Dann sah ich mich um. Maud und Gentleman waren nirgendwo zu sehen.

Dort stand Mauds Schemel und dort das grässliche Gemälde. Dort lagen ihre Pinsel – einer war zu Boden gefallen – und dort ihre Farben. Ich ging hinüber und hob den Pinsel auf. Ich dachte, es sehe Gentleman ähnlich, sie zum Haus zurückzubringen und mich zurückzulassen, so dass ich mich allein abplagen und schwitzend alles hinter ihnen her schleppen musste. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Maud allein mit ihm zurückgegangen wäre. Fast hatte ich schon Angst um sie. Ich fühlte mich beinahe wie eine richtige Zofe, die sich um ihre Herrin sorgte.

Und dann hörte ich ihr leises Murmeln. Ich ging in die Richtung, aus der Mauds Stimme kam, und dann sah ich die beiden. Sie waren nicht sehr weit gegangen, nur ein wenig am Fluss entlang, bis dorthin, wo die Mauer einen Knick machte. Sie hörten mich nicht kommen, sie drehten sich nicht um. Sie mussten zusammen an den Binsen entlanggegangen sein, und ich nahm an, dass er endlich zu ihr gesprochen hatte. Zum ersten Mal hatte er mit ihr reden können, ohne dass ich zuhörte. Und ich fragte mich, welche Worte er wohl benutzt hatte, dass sie sich so an ihn schmiegte. Den Kopf hatte sie auf seinen Kragen gelegt. Ihr Rock stand hinten ab und entblößte die Beine bis beinahe zu den Knien. Und doch hatte sie das Gesicht von ihm abgewendet. Ihre Arme hingen schlaff herunter wie die einer Puppe. Er drückte seinen Mund gegen ihr Haar und wisperte.

Und dann, während ich dastand und sie beobachtete, nahm er eine ihrer zarten Hände, zog langsam den Handschuh halb herunter und küsste sie auf die nackte Handfläche.

Als ich das sah, wusste ich, dass er sie in der Tasche hatte. Ich glaube, er seufzte dabei. Ich glaube, sie seufzte auch – ich sah, wie sie sich enger an ihn schmiegte und dann erbebte. Ihr Rock hob sich noch höher, man sah den Ansatz ihrer Strümpfe, das Weiß ihrer Schenkel.

Die Luft war zäh wie Sirup. Mein Kleid war feucht, wo ich es gerafft in den Händen hielt. Selbst eiserne Gliedmaßen hätten an einem solchen Tag in einem solchen Kleid geschwitzt. Selbst ein marmornes Auge wäre aus seiner Höhle gefallen, hätte es gesehen, was ich sah. Ich konnte einfach nicht wegsehen. Die Ruhe, die von ihnen ausging – ihre Hand, so blass gegen seinen Bart, der Handschuh, noch zurückgeschoben über den Knöchel, der gehobene Rock – alles schien mich in den Bann zu ziehen. Das Quaken der Ochsenfrösche war noch lauter als zuvor. Der Fluss leckte wie eine Zunge an den Binsen. Ich sah, wie Gentleman kurz den Kopf beugte und Maud noch einmal sanft küsste.

Eigentlich hätte ich mich freuen müssen, als ich das sah. Doch das tat ich nicht. Stattdessen stellte ich mir vor, wie seine Barthaare auf ihrer Handfläche scheuerten. Ich dachte an ihre glatten weißen Finger, ihre weichen weißen Fingernägel – ich hatte sie ihr an jenem Morgen geschnitten. Ich hatte Maud angekleidet und ihr das Haar gebrüstet. Ich hatte darauf geachtet, dass sie ordentlich zurechtgemacht und hübsch anzusehen war – alles nur für diesen einen Moment. Alles nur für ihn. Gegen seine dunkle Jacke und sein dunkles Haar wirkte sie so blass, so zierlich, dass ich dachte, sie könnte zerbrechen. Ich dachte, er könnte sie verschlingen oder ihr weh tun.

Ich wandte mich ab. Die Hitze des Tages, die Schwüle der Luft, der faulige Geruch der Binsen waren überwältigend. Ich drehte mich um und schlich mich heimlich dorthin zurück, wo das Gemälde stand. Kurz darauf war ein Donnergrollen zu vernehmen, und gleich darauf hörte ich das Rascheln von Röcken, und dann kamen Maud und Gentleman eilig um die Biegung der Mauer. Maud hatte sich bei ihm eingehakt, den Handschuh wieder zugeknöpft und die Augen fest auf den Boden geheftet. Gentleman hatte seine Hand auf ihren Fingern liegen und den Kopf geneigt. Als er mich sah, warf er mir einen vielsagenden Blick zu.

»Sue! Wir wollten dich nicht wecken. Wir sind herumspaziert und haben auf den Fluss geschaut und dabei völlig die Zeit vergessen. Nun ist die Sonne fast fort, und ich glaube, wir werden Regen bekommen. Hast du nicht einen Mantel für deine Herrin?«

Ich sagte nichts. Auch Maud schwieg und sah nur auf ihre Schuhspitzen. Ich legte ihr den Umhang um die Schultern, dann nahm ich das Gemälde und die Farben, den Schemel und den Korb und folgte ihr und Gentleman durch das Tor in der Mauer zurück zum Haus. Mr. Way öffnete uns die Tür. Als er sie hinter uns wieder geschlossen hatte, donnerte es abermals. Dann begann es zu regnen – schwere, dunkle Regentropfen prasselten vom Himmel.

»Keinen Moment zu früh!«, murmelte Gentleman leise, wobei er Maud ansah und zuließ, dass sie ihre Hand fortzog.

Es war die Hand, die er geküsst hatte. Sie muss seine Lippen noch immer darauf gespürt haben, denn ich sah, wie sie sich von ihm abwandte, die Hand an ihre Brust drückte und mit den Fingern darüber strich.