KAPITEL 6
Gentleman ging als Erster. Mr. Lilly und Maud standen an der Tür und verabschiedeten sich von ihm. Ich sah von Mauds Fenster aus zu. Sie schüttelte ihm die Hand, und er verbeugte sich vor ihr. Dann stieg er in den Einspänner, der ihn zum Bahnhof nach Marlow bringen würde. Er saß mit verschränkten Armen da, den Hut zurückgeschoben, das Gesicht in unsere Richtung, die Augen mal auf Maud, mal auf mich gerichtet.
Da geht er hin, der Teufel, dachte ich.
Gentleman machte uns keinerlei Zeichen. Das brauchte er auch nicht. Er hatte uns seinen Plan eingetrichtert, wir wussten über alles genauestens Bescheid. Er hatte vor, drei Meilen mit dem Zug zu fahren und dann zu warten. Wir sollten bis Mitternacht in Mauds Salon bleiben und dann hinausgehen. Wenn die Uhr halb eins schlug, würden wir ihn am Fluss treffen.
Dieser Tag verlief genau wie alle anderen. Maud ging wie immer zu ihrem Onkel, und ich ging langsam in ihren Zimmern umher und betrachtete ihre Sachen – bloß dass ich mich diesmal nach den Dingen umsah, die wir mitnehmen mussten. Wir aßen gemeinsam zu Mittag. Wir gingen im Park spazieren, gingen zum Eishaus, zu den Gräbern und zum Fluss. Es war das letzte Mal, dass wir dies tun würden, und doch sah alles aus wie immer. Wir waren es, die sich verändert hatten. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Hin und wieder berührten sich unsere Röcke und einmal auch unsere Hände – und wir zuckten zurück, als habe uns etwas gestochen. Ob Maud jedoch so wie ich errötete, weiß ich nicht, denn ich sah sie nicht an.
Als wir wieder in ihrem Zimmer waren, stand sie reglos da, wie eine Statue. Ich saß an ihrem Tisch mit ihrer Schatulle voller Broschen und Ringe und einer Untertasse mit Essig und polierte die Edelsteine. Lieber tat ich das, als gar nichts. Einmal kam Maud herüber und sah mir eine Weile zu. Dann ging sie wieder fort und rieb sich die Augen. Sie sagte, der Essig brenne ihr in den Augen. Er brannte auch in meinen.
Dann wurde es Abend. Maud ging, um zu Abend zu essen, und das tat ich auch. Unten in der Küche herrschte eine gedrückte Stimmung.
»Das Haus ist ganz verändert, seit Mr. Rivers fort ist«, sagten sie. Mrs. Cakebread machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Als Margaret einen Löffel fallen ließ, schlug sie sie mit einer Schöpfkelle, so dass Margaret aufschrie. Und dann, als wir gerade angefangen hatten zu essen, sprang Charles heulend vom Tisch auf und lief aus der Küche, während er sich den Rotz vom Kinn wischte.
»Er nimmt es sich sehr zu Herzen«, sagte eines der Zimmermädchen. »Hatte es sich in den Kopf gesetzt, als Mr. Rivers’ Bursche mit ihm nach London zu gehen.«
»Komm sofort zurück!«, schimpfte Mr. Way und sprang auf, wobei seine gepuderte Perücke nur so staubte. »Ein Junge in deinem Alter mit einem Kerl wie ihm – ich würde mich schämen!«
Doch Charles wollte nicht zurückkommen, mochten Mr. Way und die anderen sagen, was sie wollten. Er hatte Gentleman das Frühstück hinaufgebracht, seine Stiefel poliert, seine ausgefallenen Mäntel gebürstet. Nun war er wieder dazu verdammt, im stillsten Haus von ganz England Messer zu schärfen und Silber zu putzen.
Er saß auf der Treppe und weinte und schlug mit dem Kopf gegen das Geländer. Mr. Way ging zu ihm und versohlte ihm den Hintern. Wir hörten, wie sein Gürtel auf Charles’ Hinterteil klatschte und wie Charles aufheulte.
Schweigend aßen wir, und als wir fertig waren und Mr. Way zurückgekommen war, ziemlich lila im Gesicht und mit schiefsitzender Perücke, ging ich nicht mit ihm und Mrs. Stiles in die Anrichte, um dort die Nachspeise zu essen. Ich sagte, ich habe Kopfschmerzen, was auch beinahe stimmte. Mrs. Stiles musterte mich.
»Sie wirken etwas angeschlagen, Miss Smith«, stellte sie fest. »Ich möchte fast behaupten, Sie haben Ihre Gesundheit in London gelassen.«
Aber es war mir gleich, was sie dachte. Ich würde sie nie wiedersehen – sie nicht und auch nicht Mr. Way oder Margaret oder Mrs. Cakebread.
Ich wünschte allen eine gute Nacht und ging hinauf. Natürlich war Maud noch bei ihrem Onkel. Bis sie kam, tat ich, was wir uns überlegt hatten. Ich packte alle Kleider und Schuhe und Siebensachen zusammen, die wir mitnehmen wollten. Alles, was ich einpackte, gehörte Maud. Mein braunes Stoffkleid ließ ich zurück. Ich hatte es über einen Monat lang nicht mehr angehabt. Ich packte es ganz unten in meinen Koffer. Auch den würde ich zurücklassen. Wir konnten nur Taschen mitnehmen. Maud hatte zwei alte Dinger von ihrer Mutter gefunden. Das Leder war feucht und übersät mit weißen Stockflecken, die aussahen wie Blüten. Obendrauf waren Messingbuchstaben, so groß, dass selbst ich sie entziffern konnte: ein M und ein L – das waren die Initialen ihrer Mutter, die ebenso lauteten wie ihre.
Ich legte die Taschen mit Papier aus und packte sie voll. In eine – die schwerere, die ich tragen würde – legte ich den Schmuck, den ich poliert hatte. Ich wickelte ihn in Leinen, damit er nicht umhergeworfen wurde und seinen Glanz verlor. Ich tat auch einen von Mauds Handschuhen mit hinein – einen weißen Glacéhandschuh mit Perlenknöpfen. Sie hatte ihn einmal getragen und dann angenommen, sie habe ihn verloren. Den wollte ich als Andenken an sie behalten.
Ich glaubte, das Herz bräche mir im Leibe entzwei.
Dann kam Maud von ihrem Onkel zurück. Sie kam herein und rang die Hände. »Ach!«, seufzte sie, »wie mir der Kopf schmerzt! Ich dachte, er würde mich heute Abend gar nicht mehr gehen lassen!«
Ich hatte schon geahnt, dass sie in einem solchen Zustand heraufkommen würde. Deshalb hatte ich mir von Mr. Way etwas Wein geben lassen, als Nerventonikum. Ich hieß sie Platz nehmen und ein wenig davon trinken, dann befeuchtete ich ein Taschentuch damit und rieb ihr die Schläfen. Durch den Wein wurde das Taschentuch blassrosa wie eine Rose, und dort, wo ich darüberstrich, färbte ihre Haut sich tiefrot. Ihr Gesicht fühlte sich kühl an unter meiner Hand. Ihre Lider flatterten. Als sie sich hoben, trat ich einen Schritt zurück.
»Danke«, murmelte sie leise. Sie schaute ganz sanft.
Sie trank noch etwas von dem Wein. Der war vom Feinsten. Was sie stehenließ, trank ich dann aus, und der Wein fuhr durch mich hindurch wie Feuer.
»Nun«, sagte ich, »müssen Sie sich umziehen.« Sie trug noch das Kleid, das sie zum Abendessen angehabt hatte. Ich hatte ihr ein schlichteres Promenadenkleid bereitgelegt. »Aber den Reifrock müssen wir hierlassen.«
Denn für eine Krinoline gab es keinen Platz. Ohne sie wurde aus ihrem kurzen Kleid endlich ein langes, und Maud wirkte schmaler denn je. Dünn war sie geworden. Ich zog ihr robuste Stiefel an. Dann zeigte ich ihr die Taschen. Sie legte die Hand darauf und schüttelte den Kopf.
»Du hast alles erledigt«, sagte sie. »Ich hätte niemals an alles gedacht. Ohne dich könnte ich das alles nie tun.«
Mit dankbaren traurigen Augen sah sie mich an. Gott allein weiß, was ich für ein Gesicht gemacht habe. Ich wandte mich ab. Das Haus ächzte und kam langsam zur Ruhe, nun da die Bediensteten nach oben gingen. Dann erklang wieder die Uhr, sie schlug halb zehn.
Maud sagte: »Noch drei Stunden, bis er kommt.«
Wir löschten die Lampe in ihrem Salon und stellten uns ans Fenster. Den Fluss konnten wir nicht sehen, doch wir schauten angestrengt auf die Mauer des Parks und dachten an das Wasser, das jenseits lag und auf uns wartete, kühl und zum Greifen nahe. Eine Stunde lang standen wir da und sprachen kaum ein Wort. Manchmal erzitterte Maud. »Ist Ihnen kalt?«, fragte ich sie dann. Aber ihr war nicht kalt. Schließlich zerrte das Warten auch an meinen Nerven, und ich begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Ich dachte plötzlich, ich hätte die Taschen vielleicht nicht richtig gepackt. Ich dachte, ich hätte vielleicht ihre Unterwäsche vergessen oder ihren Schmuck oder jenen weißen Handschuh. Ich war völlig rastlos. Ich ging in ihr Schlafzimmer und öffnete die Taschen, während sie am Fenster stehenblieb. Ich nahm alle Kleider und die ganze Unterwäsche heraus und packte sie wieder ein. Als ich dann eine Schnalle schließen wollte, riss der Riemen ab. Das Leder war so alt, dass es ganz brüchig geworden war. Ich nahm eine Nadel und nähte den Riemen mit großen, unbeholfenen Stichen wieder an. Als ich fertig war, biss ich den Faden mit den Zähnen durch und hatte den Geschmack von Salz im Mund.
Dann hörte ich, wie sich Mauds Tür öffnete.
Mein Herz setzte aus. Ich versteckte die Taschen im Schatten des Bettes, dann stand ich da und lauschte. Nichts zu hören. Ich ging zur Salontür und schaute hinein. Die Vorhänge am Fenster waren offen und ließen das Mondlicht herein, doch das Zimmer war leer. Maud war fort.
Sie hatte die Tür nur angelehnt. Ich schlich auf Zehenspitzen hinüber und spähte misstrauisch in den Korridor. Ich bildete mir ein, neben dem üblichen Ächzen und Knarzen des Hauses noch ein weiteres Geräusch zu hören – vielleicht das Öffnen und Schließen einer anderen Tür, ganz weit weg. Aber ich war mir nicht ganz sicher. Im Flüsterton rief ich: »Miss Maud!« – doch selbst dieses Wispern klang laut in Briar, und so verstummte ich wieder, lauschte angestrengt, starrte in die Dunkelheit, ging dann ein paar Schritte den Korridor hinunter und lauschte abermals. Ich faltete die Hände und presste sie fest aneinander, denn nun war ich wirklich beunruhigt und, um ehrlich zu sein, ziemlich verärgert. Es sah Maud so gar nicht ähnlich, zu dieser späten Stunde im Haus herumzulaufen, ohne Grund und ohne ein Wort zu sagen.
Als die Uhr halb zwölf schlug, rief ich noch einmal nach ihr und ging wieder ein paar Schritte den Korridor hinunter. Doch dann stolperte ich über einen Teppich und wäre beinahe hingefallen. Maud konnte auch ohne Kerze hier herumlaufen, so gut kannte sie sich aus. Mir aber war das alles gänzlich fremd. Ich wagte es nicht, hinter ihr herzugehen. Was, wenn ich in der Dunkelheit eine falsche Biegung nahm? Womöglich fände ich nie wieder zurück.
Also wartete ich und zählte die Minuten. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück und trug die Taschen hinaus. Dann trat ich ans Fenster. Es war Vollmond, eine helle Nacht. Vor dem Haus erstreckte sich der Rasen mit der Mauer am Ende und dem Fluss dahinter. Irgendwo da draußen auf dem Wasser war Gentleman und kam immer näher, während ich hier stand. Wie lange würde er auf uns warten?
Schließlich – ich schwitzte schon Blut und Wasser – schlug die Uhr zwölf. Ich stand da und zitterte bei jedem Schlag der Glocke. Der letzte verklang und ließ nur sein Echo zurück. Und da dachte ich: Das war’s. Doch noch während ich das dachte, hörte ich die behutsamen Schritte ihrer Stiefel – sie stand an der Tür, das Gesicht blass in der Dunkelheit, ihr Atem ging schnell wie der einer Katze.
»Verzeih mir, Sue!«, flüsterte sie. »Ich war in der Bibliothek meines Onkels. Ich wollte sie noch ein letztes Mal sehen. Aber ich konnte nicht dorthin gehen, bis ich mir sicher war, dass er schläft.«
Sie zitterte. Ich stellte mir vor, wie sie, blass und schmal und schweigend zwischen all den dunklen Büchern stand.
»Ganz gleich«, sagte ich. »Aber nun müssen wir uns beeilen. Kommen Sie her, kommen Sie.«
Rasch reichte ich Maud den Umhang und legte meinen eigenen ebenfalls an. Sie sah sich um, sah all die Dinge, die sie zurückließ. Sie begann mit den Zähnen zu klappern. Ich reichte ihr die leichtere Tasche. Dann ging ich zu ihr und legte ihr einen Finger auf den Mund.
»Bleiben Sie jetzt ganz ruhig«, sagte ich.
Alle Nervosität war von mir gewichen, und mit einem Mal war ich ganz ruhig. Ich dachte an meine Mutter und an all die dunklen, schlafenden Häuser, durch die sie sich geschlichen haben musste, bevor man sie geschnappt hatte. Das böse Blut stieg mir in den Kopf wie der Wein.
Wir gingen die Hintertreppe hinunter. Am Tag zuvor war ich mit größter Aufmerksamkeit hinauf und hinunter gegangen und hatte auf die Stufen geachtet, die besonders schlimm knarzten. Nun führte ich Maud die Treppe hinunter, wobei ich ihre Hand hielt und achtgab, auf welche Stufe sie trat. Am Anfang jenes Korridors, der zur Küche und zu Mrs. Stiles’ Anrichte führte, blieben wir stehen und spitzten die Ohren. Eine Maus huschte flink über die Vertäfelung, doch sonst regte sich nichts. Der Boden war mit einem groben Wollbelag ausgelegt, der unsere Schritte dämpfte. Einzig unsere Röcke raschelten und wischten über den Boden.
Die Tür zum Hof war abgeschlossen, doch der Schlüssel steckte im Schloss: Ich zog ihn heraus und schmierte etwas Rindertalg darauf, ehe ich ihn umdrehte, und dann fettete ich auch die Riegel, die oben und unten die Tür verschlossen. Den Talg hatte ich aus Mrs. Cakebreads Vorratsschrank. Sechs Pence weniger, die sie vom Metzgerjungen bekommen würde! Maud sah mir mit erstauntem Gesicht zu.
Mit gedämpfter Stimme erklärte ich: »Es ist ganz einfach. Von draußen reinzukommen – das wäre schwierig.«
Dann zwinkerte ich ihr zu. Ich war zufrieden, weil ich ganze Arbeit geleistet hatte. In diesem Augenblick wünschte ich mir tatsächlich, es wäre schwieriger gewesen. Ich leckte mir den Talg von den Fingern, dann presste ich die Schulter gegen die Tür und drückte sie fest in den Rahmen. So ließ sich der Schlüssel geräuschlos im Schloss umdrehen, und die Riegel glitten geschmeidig zurück.
Die Luft draußen war kalt und klar. Der Mond warf lange schwarze Schatten. Sie kamen uns sehr gelegen. Wir schlichen an der Hauswand entlang, die im tiefsten Schatten lag, liefen rasch und leise von einer Ecke zur nächsten und huschten dann schnell über eine kleine Rasenfläche zu den Hecken und Bäumen auf der anderen Seite. Wieder hielt Maud meine Hand, und ich zeigte ihr, wo sie entlanglaufen sollte. Nur ein einziges Mal spürte ich, wie sie zögerte, und da drehte ich mich um und sah, wie sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck – halb ängstlich, halb lächelnd – zum Haus zurückschaute. Nirgendwo war ein Licht zu sehen. Niemand sah uns. Das Haus wirkte wie die Kulisse eines Theaterstücks. Ich ließ Maud beinahe eine Minute lang dort stehen, dann zog ich sie fort.
»Sie müssen jetzt mitkommen«, sagte ich.
Maud drehte sich um und sah nicht mehr zurück. Wir liefen rasch zur Parkmauer und folgten ihr dann einen feuchten, überwucherten Pfad entlang. Die Hecken zerrten am Wollstoff unserer Röcke, und vor uns im Gras sprangen Kreaturen fort oder schlängelten sich davon. Überall waren Spinnweben, fein und glänzend wie Glasfäden, die wir passieren und die wir zerreißen mussten. Unser Atem ging schneller. Wir liefen so lange, dass ich schon dachte, wir hätten das Tor verfehlt, das zum Fluss hinunterführte. Doch dann wurde der Pfad breiter, und der Torbogen tauchte im hellen Mondlicht vor uns auf. Maud ging an mir vorbei, holte ihren Schlüssel hervor und öffnete das Tor. Hinter uns verschloss sie es wieder.
Nun, da wir den Park hinter uns gelassen hatten, atmete ich etwas freier. Wir stellten unsere Taschen ab und standen reglos in der Dunkelheit im Schatten der Mauer. Das Mondlicht fiel auf die Binsen am anderen Ufer und verwandelte sie in Speere mit tückischen Spitzen. Die Oberfläche des Flusses schien fast weiß. Man hörte nur das Plätschern des Wassers und das Krächzen eines Vogels. Dann das Klatschen eines Fisches. Gentleman war nicht zu sehen. Wir waren schneller hier angekommen, als wir gedacht hatten. Ich lauschte, hörte aber nichts. Ich sah zum Himmel und all den Sternen dort oben. Viel mehr Sterne als sonst, so schien es. Dann schaute ich Maud an. Sie hatte ihren Umhang bis zum Kinn hochgezogen, doch als sie merkte, wie ich mich zu ihr umdrehte, ergriff sie meine Hand. Sie nahm sie nicht, damit ich sie führte oder tröstete, sondern nur, um sie zu halten, weil es meine Hand war.
Am Himmel glühte eine Sternschnuppe auf, und wir drehten uns beide um und sahen ihr nach.
»Das bringt Glück«, sagte ich.
Dann schlug die Glocke von Briar. Halb eins – man hörte das Geläut ganz klar durch den Park. Einen Augenblick lang klang das Echo noch in unseren Ohren, und dann hörten wir ein anderes, kaum wahrnehmbares Geräusch. Wir ließen uns los und gingen einen Schritt auseinander. Es waren Ruder, die leise knarzten, Holz, das durchs Wasser glitt. An der Biegung des silbrig schimmernden Flusses erschien die dunkle Silhouette eines Bootes. Ich sah, wie die Ruder eintauchten und wieder zum Vorschein kamen und kleine Perlen aus Mondlicht versprühten. Dann wurden sie aus dem Wasser gezogen und hinterließen wieder Stille. Das Boot glitt zwischen die Binsen, dann schaukelte und knirschte es, als Gentleman sich halb von seinem Sitz erhob. Er konnte uns nicht sehen, da wir im Schatten der Mauer auf ihn warteten. Maud schickte sich als Erste an, zu ihm zu gehen. Steif ging sie zum Ufer hinunter, fing das aufgewickelte Seil, das er ihr zuwarf, und stemmte sich gegen das Zerren des Bootes, bis es nicht mehr schaukelte.
Ich weiß nicht mehr, ob Gentleman etwas gesagt hat. Ich glaube auch nicht, dass er mich angesehen hat, außer um mir, nachdem er Maud über den uralten Steg geholfen hatte, die Hand zu reichen und mich über die verrotteten Planken zu geleiten. Ich glaube, das alles geschah schweigend. Ich weiß, dass das Boot recht schmal war und unsere Röcke sich bauschten, als wir uns setzten. Nachdem Gentleman die Ruder wieder aufgenommen hatte, drehte sich das Boot und schaukelte wieder, und plötzlich hatte ich Angst, es könnte kentern, und ich stellte mir vor, was geschehen würde, wenn sich all diese Falten und Rüschen mit Wasser vollsaugen und uns nach unten ziehen würden. Maud jedoch saß ganz ruhig da. Ich sah, wie Gentleman sie musterte. Doch noch immer sagte niemand ein Wort. Das Boot glitt rasch dahin. Wir fuhren mit der Strömung. Etwa eine Minute lang folgte der Fluss der Mauer des Parks. Wir kamen an der Stelle vorbei, an der ich gesehen hatte, wie Gentleman Mauds Hand küsste. Dann verschwand die Mauer sich schlängelnd in der Dunkelheit. An ihrer Stelle erschien eine dunkle Reihe von Bäumen. Maud saß da, die Augen gesenkt, ohne einmal aufzuschauen.
Wir waren sehr achtsam. Die Nacht war außerordentlich still. Gentleman steuerte das Boot so nahe an den Schatten des Ufers entlang, wie er nur konnte. Nur hin und wieder, wenn die Bäume sich lichteten, glitten wir im Mondlicht dahin. Doch es gab niemanden, der uns hätte sehen können. Die wenigen Häuser, die dicht am Flussufer standen, waren dunkel und verschlossen. Einmal, als der Fluss breiter wurde und Inseln darin auftauchten, wo Kähne vertäut lagen und Pferde grasten, zog Gentleman die Ruder ins Boot und ließ uns geräuschlos vorübertreiben. Danach gab es keine Häuser und keine Kähne mehr. Nur noch Dunkelheit, das gebrochene Mondlicht, das Knarzen der Ruderriemen, das Auf und Ab von Gentlemans Händen und das Weiß seiner Wangen über dem Schnurrbart.
Wir blieben nicht lange auf dem Fluss. Etwa zwei Meilen hinter Briar zog Gentleman das Boot ans Ufer und vertäute es. Dort hatte seine Fahrt begonnen, und dort hatte er ein Pferd mit einem Damensattel angebunden. Er half uns aus dem Boot, setzte Maud auf das Pferd und zurrte ihre Taschen am Sattel fest. Dann sagte er: »Wir haben noch ungefähr eine Meile vor uns. Maud?« Sie antwortete nicht. »Du musst tapfer sein. Bald haben wir es geschafft.«
Dann sah er mich an und nickte. Wir gingen los. Gentleman führte das Pferd am Zügel, Maud saß steif und geduckt im Sattel, und ich lief hinterdrein. Noch immer begegneten wir niemandem. Wieder schaute ich zu den Sternen hinauf. Zu Hause sah man keine so strahlend hellen Sterne, dort war der Himmel nie so dunkel und klar.
Das Pferd war unbeschlagen, und seine Hufe klangen dumpf auf dem unbefestigten Weg. Wir gingen recht langsam – um Mauds willen, so nehme ich an, damit sie nicht allzu sehr durchgeschüttelt wurde. Sie sah trotzdem aus, als wäre ihr übel. Als wir schließlich zu dem kleinen Weiler gelangten, den Gentleman ausfindig gemacht hatte – er bestand tatsächlich nur aus ein paar windschiefen Häuschen und einer großen finsteren Kirche –, wirkte sie, als ginge es ihr so schlecht wie noch nie in ihrem Leben. Bellend kam ein Hund auf uns zugelaufen. Gentleman gab ihm einen Tritt, und er jaulte auf. Dann führte Gentleman uns zu dem Häuschen, das unmittelbar neben der Kirche stand. Die Tür wurde geöffnet, ein Mann kam heraus und dann eine Frau mit einer Laterne. Sie hatten uns schon erwartet. Die Frau hatte die Zimmer für uns bereitet. Sie gähnte, reckte aber dabei den Hals, um einen Blick auf Maud zu werfen. Vor Gentleman machte sie einen Knicks. Bei dem Mann handelte es sich um den Pfaffen, den Pastor – wie auch immer man ihn nannte. Er verbeugte sich. Er trug ein schmutzig-weißes Gewand und war schlecht rasiert. Er sagte: »Einen guten Abend Ihnen allen. Guten Abend, Miss. Was für eine herrliche Nacht für eine solche Eskapade!«
Gentleman sagte bloß: »Ist alles bereit?« Er half Maud, die sich am Sattel festhielt und ungelenk vom Pferd rutschte. Dann entfernte sie sich ein paar Schritte von ihm. Sie kam nicht zu mir herüber, sondern stand ganz allein abseits da. Die Frau betrachtete sie ausgiebig. Sie musterte Mauds blasses, entschlossenes hübsches Gesicht, den Ausdruck von Übelkeit darin, und ich wusste, was sie dachte – was wohl vermutlich jeder gedacht hätte: dass sie in anderen Umständen war und aus Angst heiratete. Vielleicht hatte Gentleman ihr diesen Gedanken sogar nahegelegt, als er mit ihr gesprochen hatte. Denn es konnte nur zu unserem Vorteil sein, falls Mr. Lilly die Hochzeit anfechten sollte, wenn es dann den Anschein hatte, Gentleman habe Maud bereits im Hause ihres Onkels verführt. Später würden wir behaupten können, sie habe das Kind verloren.
Für fünfhundert mehr würde ich einen Eid darauf schwören.
Das ging mir durch den Kopf, während ich so dastand und die Frau betrachtete, die Maud anstarrte, und sie dafür hasste.
Der Pastor kam auf uns zu und verbeugte sich abermals. »Es ist alles bereit, Sir«, sagte er. »Es gibt da nur noch eine unbedeutende Kleinigkeit – in Anbetracht dieser außergewöhnlichen Umstände …«
Gentleman nickte. Er nahm den Pfaffen beiseite und holte seine Brieftasche hervor. Das Pferd schlug unruhig mit dem Kopf, doch aus einem der Nachbarhäuser war ein Junge herübergekommen, der das Pferd nun wegführte. Auch er schaute Maud an, doch dann sah er von Maud zu mir, und als er mich ansah, tippte er sich grüßend an den Hut. Ich trug eines von Mauds alten Kleidern und musste wohl wie eine rechte Dame gewirkt haben. Maud hingegen stand so geduckt und verschüchtert da wie ein junges Dienstmädchen.
Maud bemerkte es nicht, sondern schaute angestrengt zu Boden. Der Pfaffe steckte das Geld in eine kleine Tasche unter seinem Talar, dann rieb er sich die Hände. »Gut und schön«, sagt er. »Möchte die Dame sich vielleicht noch umkleiden? Möchte sie auf ihr Zimmer gehen? Oder soll die Trauung jetzt gleich stattfinden?«
»Wir machen es jetzt gleich«, erwiderte Gentleman, ehe irgendjemand eine andere Antwort geben konnte. Er nahm den Hut ab und fuhr sich durchs Haar, wobei er ein wenig an den Locken über den Ohren herumfingerte. Maud stand stocksteif da. Ich ging zu ihr, ordnete ihre Kapuze und legte den Umhang in hübsche Falten. Dann strich ich ihr mit den Händen über Haar und Wangen. Sie sah mich nicht an. Ihr Gesicht war kalt. Der Saum ihres Rockes war dunkel, wie in Trauerfarbe getaucht. Ihr Umhang war schlammbespritzt.
Ich sagte: »Geben Sie mir Ihre Fäustlinge, Miss!« Denn ich wusste, dass sie darunter ihre weißen Glacéhandschuhe trug. »Sie gehen lieber in weißen Handschuhen zu Ihrer Trauung als in braunen Fäustlingen.«
Maud ließ zu, dass ich ihr die Fäustlinge von den Fingern streifte, dann stand sie mit gefalteten Händen da. Die Frau fragte mich: »Keine Blumen für die Dame?« Ich sah Gentleman an. Er zuckte die Schultern.
»Möchtest du Blumen, Maud?«, fragte er leichthin. Sie antwortete nicht. Er sagte: »Nun, ich glaube, die fehlenden Blumen werden uns nicht weiter stören. Also, Sir, wenn Sie –«
Ich rief: »Sie könnten ihr zumindest ein paar Blumen geben! Nur ein Blümchen, das sie mit in die Kirche nehmen kann!«
Ich hatte nicht daran gedacht, bis die Frau es gesagt hatte, doch nun schien es mir äußerst grausam, dass er sie ohne eine einzige Blüte zur Frau nehmen wollte. Meine Stimme klang beinahe wirr, und Gentleman warf mir einen Blick zu und runzelte die Stirn. Der Pfaffe schaute erstaunt zu uns herüber, und die Frau schien Mitleid zu haben. Dann sah Maud mich an und sagte schleppend: »Ich möchte gern ein paar Blumen haben, Richard. Ich möchte Blumen. Und Sue soll auch Blumen haben.«
Mit jedem Mal, das sie das Wort Blumen aussprach, schien es seltsamer zu klingen. Gentleman schnaubte und schaute sich missmutig um. Auch der Pfaffe sah sich um. Es muss mittlerweile etwa halb zwei gewesen sein, und außerhalb des Mondlichts war es sehr dunkel. Wir standen auf einem schlammigen Flecken Grün mit Dornenhecken ringsum. Die Hecken waren schwarz. Selbst wenn Blumen darin verborgen gewesen wären – wir hätten sie nie gefunden.
Ich sagte zu der Frau: »Haben Sie denn nichts, das wir nehmen könnten? Haben Sie denn nicht einmal eine Topfpflanze?«
Sie dachte einen Augenblick nach, dann ging sie in ihr Häuschen, und als sie schließlich wieder herauskam, trug sie ein paar Zweige mit verdorrten Blättern, weiß wie Papier, die an dürren Ästchen hingen.
Es war Judaspfennig. Wir standen da und starrten die Zweige an, und niemand wollte es sagen. Dann nahm Maud die Zweige und teilte sie. Einen gab sie mir, die anderen behielt sie für sich. In ihren Händen zitterten die Blätter noch heftiger als zuvor. Gentleman zündete sich eine Zigarette an und nahm zwei Züge, dann warf er sie fort. Sie glühte in der Dunkelheit weiter. Er nickte dem Pastor zu, und dieser nahm die Laterne und führte uns durch das Tor des Kirchplatzes und den Weg zwischen den schiefen Grabsteinen hindurch, die im Mondlicht tiefe, scharfe Schatten warfen. Maud ging neben Gentleman, er hielt ihren Arm in seinem. Ich ging neben der Frau her. Wir sollten die Trauzeugen sein. Ihr Name war Mrs. Cream.
»Von weit hergekommen?«, fragte sie.
Ich antwortete nicht.
Die Kirche wirkte im Mondlicht recht finster. Innen war sie weiß gekalkt, doch das Weiß war ganz vergilbt. Ein paar Kerzen brannten um den Altar herum und in den Kirchenbänken, und um die Kerzen schwärmten einige Motten, etliche lagen schon tot im Wachs. Wir machten keinerlei Anstalten uns zu setzen, sondern gingen geradewegs zum Altar, und der Pastor stellte sich mit seiner Bibel vor uns. Er kniff die Augen zusammen und äugte angestrengt auf die Seite. Er las stockend und brachte die Worte durcheinander. Mrs. Cream atmete schwer und schnaubte wie ein Pferd. Ich stand da mit meinem armseligen krummen Zweig Judaspfennig und betrachtete Maud, die an Gentlemans Seite stand und ihre Zweiglein umklammerte. Ich hatte sie geküsst. Ich hatte auf ihr gelegen. Ich hatte meine Hände über sie gleiten lassen. Ich hatte sie eine Perle genannt. Sie war freundlicher zu mir gewesen als irgendjemand sonst, außer Mrs. Sucksby. Und sie hatte mich dazu gebracht, sie zu lieben, wo ich doch nur die Absicht gehabt hatte, sie ins Verderben zu stürzen.
Sie sollte verheiratet werden und ängstigte sich zu Tode. Und niemand würde sie je wieder lieben, niemals mehr.
Ich sah, wie Gentleman sie ansah. Der Pastor hustete in sein Buch. Er war an jener Stelle des Gottesdienstes angekommen, wo es hieß, ob jemand anwesend sei, der einen Grund wisse, warum dieser Mann und diese Frau nicht im Bund der Ehe vereinigt werden sollten. Er blickte auf, und einen Augenblick lang war es ganz still in der Kirche.
Ich hielt den Atem an und schwieg.
Also fuhr er fort, wobei er Maud und Gentleman ansah und ihnen die gleiche Frage stellte und ihnen sagte, am Jüngsten Tag müssten sie all die düsteren Geheimnisse in ihren Herzen offenbaren, und deshalb sollten sie es lieber jetzt gleich tun und sie hinter sich lassen.
Wieder Schweigen.
Dann wandte er sich an Gentleman. »Willst du …«, sagte er, und es folgte der ganze Rest – »… bis dass der Tod euch scheidet?«
»Ja«, sagte Gentleman.
Der Pastor nickte. Dann sah er Maud an und fragte sie dasselbe. Sie zögerte erst, dann sprach sie.
»Ja«, sagte auch sie.
Gentleman schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Der Pastor fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen und kratzte sich.
»Wer gibt diese Frau in die Ehe?«, fragte er.
Ich rührte mich nicht, bis Gentleman sich zu mir umdrehte. Er machte mir Zeichen mit dem Kopf. Also trat ich an Mauds Seite, und dann zeigten sie mir, wie ich ihre Hand nehmen und sie dem Pastor übergeben sollte, damit er sie Gentleman reichen konnte. Es wäre mir wesentlich lieber gewesen, Mrs. Cream hätte das getan. Mauds Finger ohne die Handschuhe waren so steif und kalt, als wären sie aus Wachs. Gentleman hielt sie und sprach die Worte nach, die der Pastor vorlas, und dann nahm Maud seine Hand und sagte dieselben Worte noch einmal. Ihre Stimme klang so dünn, sie schien wie Rauch aus der Dunkelheit aufzusteigen und dann zu verschwinden.
Dann zog Gentleman einen Ring hervor und nahm wieder Mauds Hand und streifte ihr den Ring über den Finger, wobei er die ganze Zeit die Worte des Pastors wiederholte, dass er sie ehren und all sein Hab und Gut mit ihr teilen werde. Der Ring wirkte sonderbar fremd an Mauds Hand. Im Kerzenlicht sah er aus, als sei er aus Gold, doch wie ich später feststellen sollte, war er unecht.
Alles hier war unecht und schlimmer, als ich es mir je hätte ausmalen können. Der Pastor sprach noch ein Gebet, dann hob er die Hände und schloss die Augen.
»Was Gott verbunden hat«, sagte er, »das darf der Mensch nicht trennen.«
Und das war’s.
Sie waren verheiratet.
Gentleman küsste Maud, und sie stand da und schwankte wie betäubt.
Mrs. Cream murmelte: »Sie weiß gar nicht, wie ihr geschieht, sehen Sie nur. Aber das wird sie schon noch merken – so ein stattlicher Kerl. Haha!«
Ich drehte mich nicht zu Mrs. Cream um. Hätte ich es getan, hätte ich sie geschlagen. Der Pfaffe schloss die Bibel und geleitete uns vom Altar zu dem Raum, in dem sie das Register führten. Hier schrieb Gentleman seinen Namen nieder und Maud – die nun Mrs. Rivers hieß – schrieb ihren, und Mrs. Cream und ich unterzeichneten ebenfalls. Gentleman hatte mir vorher gezeigt, wie man Smith schrieb, doch trotzdem schrieb ich den Namen ungelenk und schämte mich dafür. Ich schämte mich – dafür!
In dem Raum war es dunkel, und es roch modrig. Im Deckengebälk flatterte etwas – Vögel vielleicht oder Fledermäuse. Ich sah, wie Maud in die Schatten spähte, als hätte sie Angst, die Biester könnten herabstürzen.
Gentleman nahm ihren Arm und führte sie zur Kirche hinaus. Wolken waren vor den Mond gezogen, die Nacht war dunkler als zuvor. Der Pfaffe schüttelte uns die Hände, dann verbeugte er sich vor Maud und ging. Im Gehen zog er bereits den Talar aus, und seine Kleider darunter waren schwarz – es war, als bliese er sich selbst das Licht aus. Mrs. Cream brachte uns zu ihrem Haus. Sie trug die Laterne, und wir stolperten hinter ihr her. Der Eingang des Hauses war sehr niedrig, und Gentleman stieß sich beim Durchgehen den Hut vom Kopf.
Mrs. Cream führte uns eine schiefe Treppe hinauf, die zu schmal war für unsere Röcke, und dann zu einem winzigen Treppenabsatz. Dort gab es dann ein kleines Gedränge, wobei Maud sich den Umhang an der Laterne versengte.
Zwei Türen führten in zwei kleine Schlafzimmer. Im ersten gab es ein Strohlager auf dem Boden. Das war für mich bestimmt. Im zweiten befanden sich ein größeres Bett, ein Lehnstuhl und ein Wäscheschrank. Dieses Zimmer war für Maud und Gentleman vorgesehen. Maud ging hinein und stand mit gesenktem Kopf da, ohne sich umzusehen. Eine einzelne Kerze brannte. Mauds Taschen standen neben dem Bett. Ich ging hin und nahm ihre Sachen heraus, ein Teil nach dem anderen, und legte alles in den Wäscheschrank.
Mrs. Cream sagte: »Was für entzückende Wäsche!« Sie sah mir von der Tür aus zu. Gentleman stand mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck neben ihr. Er war es gewesen, der mir beigebracht hatte, wie man mit einem Unterrock umgeht, doch als er nun sah, wie ich Mauds Hemdchen und Strümpfe herausnahm, schien er es beinahe mit der Angst zu tun zu bekommen.
»Also, ich rauche jetzt unten noch eine letzte Zigarette«, sagte er. »Sue, richtest du hier alles schön her?«
Ich gab keine Antwort. Er und Mrs. Cream gingen hinunter; ihre Stiefel polterten wie Donner und ließen die wacklige Treppe erbeben. Dann hörte ich, wie Gentleman draußen ein Streichholz entzündete.
Ich sah Maud an. Sie hielt noch immer den Judaspfennig in den Händen. Zaghaft machte sie einen Schritt auf mich zu und sagte rasch: »Wenn ich später nach dir rufe, kommst du dann zu mir?«
Ich nahm ihr die Blumen ab und dann den Umhang. Ich sagte: »Denken Sie nicht daran. In einer Minute ist es vorbei.«
Sie packte mein Handgelenk mit der rechten Hand, die noch in ihrem Handschuh steckte. »Hör zu, ich meine es ernst! Ganz gleich, was er tut. Sag, dass du kommst, wenn ich nach dir rufe. Ich gebe dir Geld dafür.«
Ihre Stimme klang fremd. Ihre Finger zitterten, doch sie hielten mich fest umklammert. Der Gedanke, sie könne mir auch nur einen roten Heller geben, war grässlich. Ich sagte: »Wo sind Ihre Tropfen? Da steht etwas Wasser, sehen Sie, Sie können Ihre Tropfen nehmen, dann können Sie schön schlafen.«
»Schlafen?« Sie lachte, dann fing sie sich wieder. »Glaubst du, ich werde in meiner Hochzeitsnacht schlafen wollen?«
Sie stieß meine Hand fort. Ich stand hinter ihr und begann sie zu entkleiden. Als ich ihr Kleid und Korsett ausgezogen hatte, drehte ich mich um und sagte leise: »Benutzen Sie besser noch den Topf. Sie sollten sich die Beine waschen, ehe er kommt.«
Ich glaube, sie schüttelte sich. Ich sah ihr nicht zu, hörte aber das Plätschern von Wasser. Dann kämmte ich ihr das Haar. Es gab keinen Spiegel, vor den sie sich hätte stellen können, und als sie zu Bett ging, schaute sie an ihre Seite, doch da war kein Tisch, keine Schatulle, kein Bild, keine Lampe. Ich sah, wie sie die Hand ausstreckte, als wäre sie blind.
Dann wurde die Haustür geschlossen, und Maud ließ sich zurücksinken, griff nach den Decken und zog sie sich bis unters Kinn. Gegen das Weiß der Kissen wirkte ihr Gesicht dunkel, und doch wusste ich, dass es leichenblass war. Wir hörten Gentleman und Mrs. Cream im Zimmer unter uns reden. Ihre Stimmen waren klar und deutlich zu vernehmen. Zwischen den Dielenbrettern klafften Lücken, und ein fahles Licht schimmerte hindurch.
Ich sah Maud an. Sie erwiderte meinen Blick. Ihre Augen waren schwarz, glänzten aber wie Glasperlen. »Warum schaust du fort?«, fragte sie mich flüsternd, als ich den Kopf abwandte. Da schaute ich sie wieder an. Ich konnte mir nicht helfen, ihr Gesicht sah schrecklich aus, es war ein furchtbarer Anblick. Gentleman redete weiter. Ein Windhauch wehte durch das Zimmer und ließ die Flamme der Kerze aufflackern. Ich zitterte. Noch immer hielt Maud meinen Blick mit ihrem fest. Dann sprach sie wieder.
»Komm her«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Sie sagte es wieder. Wieder schüttelte ich den Kopf. Dann ging ich doch zu ihr – ich ging behutsam über die knarrenden Dielen, und Maud hob die Arme und zog mein Gesicht zu ihrem hinunter und küsste mich. Sie küsste mich mit ihrem süßen Mund, der salzig war von ihren Tränen. Und ich konnte nicht anders, als sie zurückzuküssen. Ich spürte mein Herz, das erst wie ein Eisbrocken in meiner Brust lag und nun durch ihre heißen Lippen dahinschmolz.
Dann tat sie etwas. Sie ergriff meine Hand und führte sie erst an ihren Mund, dann zu ihren Brüsten und dann dorthin, wo die Bettdecke sich senkte, zwischen ihre Beine. Dann rieb sie mit meinen Fingern, bis sie brannten.
Das überwältigende süße Gefühl, das ihr Kuss in mir wachgerufen hatte, verwandelte sich in Entsetzen oder vielleicht auch Furcht. Ich riss mich los und zog meine Hand fort. »Warum tust du es nicht?«, fragte sie sanft und griff nach meiner Hand. »Um dieser Nacht willen. Du hast es doch schon einmal getan. Kannst du mich nun nicht an ihn übergeben mit deinen Küssen auf meinem Mund, deiner Berührung auf mir, und mir auf diese Weise helfen, das alles leichter zu ertragen? Geh nicht fort!« Sie packte mich abermals. »Du bist schon einmal fortgegangen. Du hast gesagt, ich hätte das alles nur geträumt. Jetzt träume ich aber nicht. Ich wollte, es wäre so! Weiß Gott, ich wollte, ich träumte, und dann wachte ich auf und wäre wieder in Briar!«
Ihre Finger glitten von meinem Arm, und sie ließ sich zurückfallen und sank in ihr Kissen. Und ich stand da, rang die Hände, fürchtete ihren Blick, ihre Worte, ihre lauter werdende Stimme, fürchtete, sie könnte aufschreien oder ohnmächtig werden – fürchtete, Gott verdammt!, sie könnte laut herausschreien, so laut, dass Gentleman oder Mrs. Cream es hörten, dass ich sie geküsst hatte.
»Still!«, sagte ich. »Sie sind jetzt mit ihm verheiratet. Sie müssen sich jetzt entsprechend benehmen. Sie sind jetzt seine Ehefrau. Sie müssen –«
Ich verstummte. Maud hob den Kopf. Unten hatte jemand die Lampe genommen und das Zimmer verlassen. Die schweren Schritte von Gentlemans Stiefeln waren auf der schmalen Treppe zu vernehmen. Ich hörte, wie er langsamer wurde und dann vor der Tür zögerte. Vielleicht fragte er sich, ob er klopfen sollte, so wie er in Briar immer geklopft hatte. Schließlich drückte er den Schnappriegel langsam herunter und trat ein.
»Bist du fertig?«, fragte er.
Er brachte die Kühle der Nacht mit herein. Ich sagte kein Wort mehr, nicht zu ihm und nicht zu ihr. Ich sah Maud nicht an. Ich ging in mein Zimmer und legte mich auf mein Nachtlager. Ich lag da, in der Dunkelheit, in Umhang und Kleid, den Kopf zwischen Kissen und Matratze gepresst, und jedes Mal, wenn ich in dieser Nacht aufwachte, war das Einzige, das ich hörte, ein Krabbeln, das Krabbeln vieler kleiner Viecher im Stroh an meiner Wange.
Am Morgen kam Gentleman in Hemdsärmeln in mein Zimmer. »Sie möchte, dass du ihr beim Anziehen hilfst«, erklärte er.
Er frühstückte unten. Maud hatte man ein Tablett heraufgebracht, auf dem ein Teller stand. Auf dem Teller waren Eier und eine Niere. Sie hatte nichts davon angerührt. Ganz still saß sie im Lehnstuhl neben dem Fenster, und ich wusste gleich, wie es von nun an mit ihr gehen würde. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und um die Augen hatte sie dunkle Ringe. Ihre Hände waren nackt. Der gelbe Ring funkelte. Sie sah mich so gleichgültig an, wie sie alles andere ansah – den Teller mit den Eiern, die Aussicht jenseits des Fensters, das Kleid, das ich ihr hinhielt, um es ihr über den Kopf zu ziehen. Und wenn ich sie ansprach, sie irgendetwas Belangloses fragte, hörte sie zu und wartete ab, dann antwortete sie und blinzelte dabei, als wäre all dies gänzlich überraschend und ungewohnt.
Ich kleidete sie an, und sie setzte sich wieder ans Fenster, die Hände im Schoß, die Finger leicht nach oben gerichtet, als könnte schon der weiche Stoff des weiten Rockes sie verletzen, wenn sie darauf ruhten. Den Kopf hielt sie geneigt. Ich dachte, sie lausche vielleicht auf das Läuten der Hausglocke von Briar. Ihren Onkel jedoch oder ihr vorheriges Leben erwähnte sie mit keinem Wort.
Ich nahm den Nachttopf und leerte ihn im Abort hinter dem Haus.
Am Fuß der Treppe kam Mrs. Cream zu mir gelaufen. Sie trug ein Laken über dem Arm und sagte: »Mr. Rivers meinte, das Bettlaken müsste gewechselt werden.«
Sie sah aus, als wolle sie mir zuzwinkern, doch ich blickte sie nicht lange genug an. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Langsam ging ich die Treppe hinauf, und Mrs. Cream folgte mir und atmete dabei noch schwerer als zuvor. Sie machte einen ungelenken Knicks vor Maud, dann ging sie zum Bett und zog die Decken zurück. Ein paar Tropfen dunklen Blutes waren auf dem Laken. Stumm stand Mrs. Cream da und schaute sich das an. Dann blickte sie zu mir, als wolle sie sagen: »Sieh einer an, ich wollte es kaum glauben. Scheint ja wohl doch eine echte Liebesheirat gewesen zu sein!«
Maud saß nur da und starrte aus dem Fenster. Im Zimmer unter uns konnte man hören, wie Gentleman mit seinem Messer auf dem Teller hantierte. Mrs. Cream hob das Laken an und schaute nach, ob das Blut auch die Matratze darunter befleckt hatte, was aber zu ihrer Zufriedenheit nicht der Fall war.
Ich half ihr, das Laken zu wechseln, dann brachte ich sie zur Tür. Sie hatte abermals geknickst und Mauds eigenartigen sanften Blick bemerkt.
»Nicht leicht für sie, wie?«, flüsterte sie vertraulich. »Vermisst sie vielleicht ihre Frau Mama?«
Zuerst sagte ich nichts. Dann fiel mir unser Plan wieder ein und was noch alles geschehen sollte. Besser, so dachte ich trübsinnig, es geschieht so bald wie möglich. Ich stand mit Mrs. Cream auf dem kleinen Treppenabsatz und schloss die Tür hinter mir. Leise sagte ich: »Nicht leicht ist gar kein Ausdruck dafür. Es gibt Schwierigkeiten. Mr. Rivers betet sie an und will keinerlei Geschwätz. Er hat sie an diesen stillen Ort gebracht in der Hoffnung, die frische Landluft werde sie beruhigen.«
»Sie beruhigen?«, sagte sie da. »Sie meinen –? Grundgütiger! Sie bekommt doch nicht etwa Anfälle – lässt die Schweine raus – zündet mir das Haus an oder so was?«
»Nein, nein«, beruhigte ich sie. »Sie ist bloß – sie ist bloß zu sehr in ihrem eigenen Kopf gefangen.«
»Die Ärmste«, sagte Mrs. Cream. Doch ich konnte sehen, wie sie überlegte. Eine Verrückte im Haus zu haben – damit hatte sie nicht gerechnet. Und von da an schaute sie jedes Mal, wenn sie ein Tablett mit Essen heraufbrachte, mit einem Seitenblick auf Maud und stellte das Tablett rasch ab, als fürchtete sie, gebissen zu werden.
»Sie mag mich nicht«, stellte Maud fest, nachdem sie Mrs. Cream ein paar Mal dabei beobachtet hatte.
Ich schluckte und sagte: »Sie mag Sie nicht? Wie kommen Sie denn darauf? Warum sollte sie Sie nicht mögen?«
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte sie und schaute verlegen auf ihre Hände.
Später hörte auch Gentleman, wie sie das sagte, und er passte mich allein ab. »Das ist gut«, sagte er. »Soll Mrs. Cream sich ruhig vor ihr fürchten und sie sich vor Mrs. Cream. Das wird uns zugute kommen, wenn die Zeit reif ist, den Doktor zu rufen.«
Gentleman ließ eine Woche verstreichen, ehe er nach dem Doktor schickte. Für mich war es die schlimmste Woche meines Lebens. Er hatte Maud gesagt, sie würden einen Tag dortbleiben, aber am Morgen darauf hatte er sie angesehen und gesagt: »Wie blass du aussiehst, Maud! Ich glaube, dir ist nicht ganz wohl. Ich glaube, wir sollten noch ein wenig länger bleiben, bis du wieder zu Kräften gekommen bist.«
»Länger bleiben?«, fragte sie. Ihre Stimme klang dumpf. »Aber können wir nicht zu deinem Haus in London fahren?«
»Ich glaube wirklich nicht, dass es dir gut genug geht.«
»Mir soll es nicht gutgehen? Aber mir geht es sehr gut – frag doch Sue. Sue, sag Mr. Rivers, wie gut es mir geht!«
Sie saß da und bebte. Ich erwiderte nichts.
»Nur ein oder zwei Tage«, versprach Gentleman. »Bis du dich ausgeruht hast. Bis du dich beruhigt hast. Vielleicht wäre es besser, du bliebst im Bett –?«
Maud fing an zu schluchzen. Er ging zu ihr, doch da erschauderte sie nur umso heftiger und schluchzte noch lauter. Er sagte: »O Maud, es bricht mir das Herz, dich so zu sehen! Wenn ich wüsste, dass es dir gut bekäme, würde ich dich selbstredend umgehend nach London bringen – ich würde dich auf meinen Armen dorthintragen. Glaub mir, das täte ich. Aber sieh dich doch nur mal an, und dann sag mir noch einmal, dass es dir gutgeht.«
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie da. »Es ist alles so fremd hier. Ich fürchte mich, Richard –«
»Aber wäre dir London nicht noch fremder? Und würdest du dich dort nicht auch fürchten, wo es so laut und dunkel ist und wo so viele Menschen sind? Hier hast du Mrs. Cream, die sich um dich kümmert –«
»Mrs. Cream hasst mich.«
»Sie hasst dich? Ach, Maud, nun wirst du aber albern. Und es täte mir leid, wenn ich dich für albern halten müsste. Und Sue täte es auch leid – nicht wahr, Sue?« Ich antwortete ihm nicht. »Natürlich täte es das«, bekräftigte er, wobei er mich mit seinen blauen Augen durchbohrte. Auch Maud sah mich an, dann schaute sie fort. Gentleman nahm ihren Kopf in beide Hände und küsste sie auf die Stirn. »So ist’s recht«, sagte er. »Lass uns nicht streiten. Wir bleiben noch einen Tag – nur noch einen Tag, bis die Blässe von deinen Wangen vertrieben ist und deine Augen wieder strahlen!«
Das gleiche sagte Gentleman am nächsten Tag. Am vierten Tag wurde er streng – er sagte, sie schiene es darauf anzulegen, ihn enttäuschen, ja ihn warten lassen zu wollen, wo er sich doch so danach sehnte, sie als seine Braut heim nach Chelsea zu führen. Am fünften Tag nahm er sie in den Arm und weinte fast und sagte, er liebe sie.
Danach fragte Maud nicht mehr, wir lange wir noch bleiben würden. Ihre Wangen wurden nicht mehr rosig. Ihre Augen blieben stumpf. Gentleman sagte Mrs. Cream, sie solle ihr nahrhaftes Essen bereiten, und so brachte sie noch mehr Eier herauf, mehr Nieren, Leber, fetten Speck und Blutwürste. Das Fleisch verbreitete einen sauren Geruch im Zimmer. Maud konnte nichts davon essen. Stattdessen aß ich es – irgendjemand musste es ja tun. Ich aß es, während sie am Fenster saß und hinausstarrte, den Ring an ihrem Finger drehte, die Hände streckte oder eine Haarsträhne zwischen die Lippen nahm.
Ihr Haar wurde so glanzlos wie ihre Augen. Sie ließ nicht zu, dass ich es wusch – sie ließ kaum zu, dass ich es kämmte. Sie sagte, sie könne das Kratzen des Kamms auf dem Kopf nicht ertragen. Noch immer trug sie das Kleid, in dem sie aus Briar hierhergekommen war und an dessen Saum noch der Schlamm klebte. Ihr bestes Kleid – eines aus Seide – gab sie mir. Sie sagte: »Warum sollte ich es hier tragen? Viel lieber würde ich dich darin sehen. Besser, du trägst es, als dass es im Wäscheschrank liegt.«
Unsere Hände berührten sich unter der Seide, und wir zuckten beide zusammen und machten einen Schritt zurück. Nach jener ersten Nacht hatte Maud nie wieder versucht, mich zu küssen.
Ich nahm das Kleid. Die Taille auszulassen half mir dabei, die grässlichen langen Stunden zu vertreiben, und Maud schien mir gerne dabei zuzusehen. Als ich fertig war, das Kleid anzog und vor ihr stand, machte sie ein merkwürdiges Gesicht. »Wie gut du darin aussiehst!«, sagte sie, und das Blut stieg ihr in die Wangen. »Die Farbe betont wunderbar deine Augen und dein Haar. Ich wusste es. Nun bist du eine echte Schönheit – nicht wahr? Und ich bin ganz unscheinbar – findest du nicht auch?«
Ich hatte von Mrs. Cream einen kleinen Spiegel für sie besorgt. Den nahm sie jetzt in ihre zitternden Hände und hielt ihn so, dass wir unser beider Gesichter darin sehen konnten. Ich erinnerte mich daran, wie sie mich in Briar in ihrem alten Zimmer herausgeputzt und uns Schwestern genannt hatte. Und wie fröhlich sie damals gewesen war, wie blühend und sorglos. Sie hatte immer gern vor dem Spiegel gestanden und sich für Gentleman hübsch gemacht. Nun – ich sah es in der verzweifelten Verschlagenheit ihres Blickes! – nun war sie froh darüber, dass sie so unscheinbar geworden war. Sie dachte, das würde bedeuten, dass Gentleman sie nicht mehr wollte.
Ich hätte ihr gleich sagen können, dass er sie auch so wollen würde.
Was er mit ihr gemacht hat, weiß ich nicht. Ich sprach nicht mehr als nötig mit ihm. Ich tat alles, was getan werden musste, aber ich tat alles wie in einer tiefen, elenden Trance, weit fort von Gedanken und Gefühlen – ich war fast ebenso niedergeschlagen wie Maud. Und Gentleman, das muss ich einräumen, schien seine eigenen Sorgen zu haben. Er kam jeden Tag nur ein Weilchen herein, um Maud zu küssen und zu bedrängen. Ansonsten saß er mit Mrs. Cream in der Stube und rauchte – der Qualm drang durch die Ritzen im Boden und vermischte sich mit dem Geruch des Fleisches, des Nachttopfs und der Bettlaken. Ein, zwei Mal ritt er fort. Er zog los, um Neuigkeiten über Mr. Lilly in Erfahrung zu bringen – das Einzige, was er jedoch hörte, war das Gerücht, in Briar gebe es eine merkwürdige Unruhe, doch niemand wusste Genaueres. Abends stand er am Zaun hinter dem Haus und schaute den Schweinen mit den schwarzen Gesichtern zu. Oder er ging auf dem Weg oder über den Kirchhof spazieren. Er ging jedoch immer so, als wüsste er, dass wir ihm zusahen – nicht wie früher, mit dieser angeberischen Art, als er sich immer gestreckt und seine Zigaretten geraucht hatte, sondern irgendwie zappelig, als könnte er das Gefühl nicht ertragen, unsere Blicke auf seinem Rücken zu spüren.
Abends dann entkleidete ich Maud, und dann kam Gentleman, und ich ging hinaus und lag allein auf meinem Lager, den Kopf zwischen dem Kissen und der raschelnden Strohmatratze.
Man sollte meinen, es hätte genügt, es ein Mal mit ihr zu machen. Man sollte meinen, er hätte befürchten müssen, sie zu schwängern. Aber vielleicht gab es noch andere Dinge, die er gerne mit ihr machte, so dachte ich, nun, da er wusste, wie zart ihre Hände waren, wie weich ihre Brüste und wie warm und gewandt ihr Mund.
Und jeden Morgen, wenn ich zu ihr ging, schien Maud blasser und dünner und tiefer noch in ihrer Benommenheit versunken als am Abend zuvor. Und Gentleman sah mich immer seltener an; er zupfte an seinem Schnurrbart herum, und sein großspuriges Auftreten war gänzlich verschwunden.
Er war sich bewusst, welch abscheuliches Geschäft er noch vor sich hatte, der elende Halunke.
Endlich ließ er den Doktor kommen.
Ich hörte, wie Gentleman in Mrs. Creams guter Stube den Brief schrieb. Der Doktor war jemand, den er kannte. Ich vermute, dass er früher schon mal krumme Geschäfte gemacht hatte, vielleicht als Engelmacher, und nun widmete er sich ganz seinem Irrenhaus. Doch die Tatsache, dass er krumme Geschäfte machte, war für uns eine Rückversicherung. In Gentlemans Plan war er nicht eingeweiht. Gentleman legte keinen Wert darauf, das Geld mit ihm zu teilen.
Außerdem war unsere Geschichte hieb- und stichfest. Mrs. Cream würde sie bestätigen. Maud war jung, sie war wunderlich, und sie war fern der Welt aufgewachsen. Es hatte den Anschein gehabt, als liebte sie Gentleman, und er liebte sie, aber sie waren noch keine Stunde verheiratet gewesen, als sie schon anfing, sich merkwürdig zu gebärden.
Ich glaube, jeder Arzt hätte getan, was dieser tat, als er Gentlemans Geschichte hörte und Maud sah und mich – den Anblick, den wir boten.
Der Doktor kam mit einem weiteren Arzt – seinem Gehilfen. Es brauchte die Beurteilung durch zwei Ärzte, um eine Dame wegsperren zu lassen. Ihre Anstalt lag in der Nähe von Reading. Ihre Kutsche sah merkwürdig aus, mit Rollläden wie schräggestellten Fensterläden, und auf dem Dach waren Stachel aus Eisen. Sie kamen allerdings nicht, um Maud mitzunehmen – noch nicht. Sie wollten sie nur untersuchen. In Gewahrsam nehmen würden sie sie später.
Gentleman erzählte Maud, die beiden seien Freunde von ihm, ebenfalls Maler. Es schien Maud nicht zu kümmern. Sie ließ sich von mir waschen, ihr stumpfes Haar etwas herrichten und ihr Kleid ordnen, doch dann blieb sie einfach auf ihrem Stuhl sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Erst als sie die Kutsche vorfahren sah, schaute sie verwundert hinaus und begann ein wenig schneller zu atmen. Ich fragte mich, ob sie wie ich die Rollläden und die eisernen Stachel bemerkt hatte.
Die Ärzte stiegen aus. Gentleman ging rasch zu ihnen hin, und sie gaben sich die Hände, steckten die Köpfe zusammen und schauten verstohlen zu unserem Fenster hinauf.
Dann kam Gentleman zurück nach oben. Er rieb sich die Hände und lächelte. »Nun, was sagt man dazu! Meine Freunde Graves und Christie sind hier – sie sind den ganzen Weg von London hergereist. Erinnerst du dich, Maud, dass ich dir von ihnen erzählt habe? Ich denke, sie konnten nicht glauben, dass ich tatsächlich verheiratet bin! Sie sind gekommen, um sich dieses Phänomen mit eigenen Augen anzusehen.«
Er lächelte noch immer. Maud schaute ihn nicht an.
»Würde es dir etwas ausmachen, Liebling«, sagte er, »wenn ich sie heraufbringen würde? Ich habe sie fürs Erste bei Mrs. Cream gelassen.«
Ich konnte hören, wie sie unten in der Stube leise und ernsthaft miteinander sprachen. Ich wusste, welche Fragen sie stellen und welche Antworten Mrs. Cream geben würde. Gentleman wartete darauf, dass Maud etwas sagte, und als sie nichts sagte, sah er mich an.
»Sue, würdest du einen Moment mit mir kommen?«
Er gab mir mit den Augen ein Zeichen. Maud schaute uns nach und blinzelte. Ich folgte ihm auf den schiefen Treppenabsatz, und er schloss die Tür hinter mir.
»Ich glaube, du solltest Maud mir überlassen«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »wenn sie zu ihr hineingehen. Ich behalte sie dann im Auge, vielleicht mache ich sie ein bisschen nervös. Sie bleibt zu ruhig, wenn du immer um sie bist.«
Ich sagte: »Lass nicht zu, dass sie ihr weh tun.«
»Ihr weh tun?« Gentleman lachte beinahe. »Diese Männer sind echte Halunken. Sie geben gut acht auf ihre Irren. Wenn sie es könnten, würden sie sie wie Goldbarren in feuersichere Gewölbe stecken und von dem Ertrag leben. Sie werden Maud gewiss nichts tun. Denn sie kennen ihr Geschäft, und ein Skandal würde sie ruinieren. Mein Wort gilt viel, aber sie werden sie ansehen und mit ihr reden müssen, und sie werden auch mit dir reden müssen. Du weißt selbstverständlich, was du zu antworten hast.«
Ich verzog das Gesicht. »Weiß ich das?«, gab ich zurück.
Seine Augen verengten sich. »Spiel keine Spielchen mit mir, Sue. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel. Du weißt, was du zu sagen hast?«
Ich zuckte die Schultern und schmollte weiter. »Ich glaube schon.«
»Braves Mädchen. Ich führe sie zuerst zu dir.«
Gentleman wollte mich anfassen, doch ich duckte mich und wich ihm aus. Ich ging in mein kleines Zimmer und wartete. Die Ärzte kamen kurz darauf herein. Gentleman war bei ihnen. Er schloss die Tür und stellte sich davor, wobei er mir ins Gesicht sah.
Die Männer waren so groß wie er, und einer von ihnen war zudem recht stämmig. Sie trugen schwarze Mäntel und Gummistiefel. Wenn sie umhergingen, erbebten Wände und das Fenster. Nur einer von ihnen – der dünnere – sprach, der andere sah nur zu. Sie verbeugten sich vor mir, und ich machte einen Knicks.
»Aha«, sagte der Arzt, der das Wort führte, als ich das machte. Er hieß Dr. Christie. »Nun, ich nehme an, Sie wissen, wer wir sind. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir Ihnen einige Fragen stellen, die Ihnen vielleicht impertinent erscheinen mögen? Wir sind Freunde von Mr. Rivers, und wir sind sehr gespannt, etwas über seine Hochzeit zu erfahren und über seine neue Frau.«
»Ja«, sagte ich. »Sie sprechen von meiner Herrin.«
»Aha«, sagte er abermals. »Ihre Herrin. Nun, helfen Sie mir ein wenig auf die Sprünge. Wer ist sie?«
»Mrs. Rivers«, antwortete ich, »die ehemalige Miss Lilly.«
»Mrs. Rivers, die ehemalige Miss Lilly. Aha.« Er nickte.
Der schweigsame Arzt – Dr. Graves – zog einen Bleistift und ein Büchlein hervor.
Der erste fuhr fort: »Ihre Herrin. Und Sie sind –?«
»Ihre Zofe, Sir.«
»Ja, natürlich. Und wie heißen Sie?«
Dr. Graves zückte den Bleistift, bereit zu schreiben.
Gentleman schaute mich an und nickte.
»Susan Smith, Sir,« erwiderte ich.
Dr. Christie schaute mich scharf an. »Sie scheinen zu zögern«, sagte er. »Heißen Sie tatsächlich so? Sind Sie ganz sicher?«
»Ich denke doch, dass ich weiß, wie ich heiße!«
»Natürlich.«
Er lächelte. Mein Herz schlug heftig. Vielleicht sah er es. Es schien ihn milder zu stimmen. Er sagte: »Nun, Miss Smith, können Sie uns sagen, wie lange Sie Ihre Herrin schon kennen?«
Es war genau wie damals in der Lant Street, als ich vor Gentleman gestanden und meine Rolle hatte auswendig lernen müssen. Ich erzählte ihnen von Lady Alice aus Mayfair und von Gentlemans altem Kindermädchen und dann von Maud. Ich sagte, es habe den Anschein gehabt, als möge sie Mr. Rivers, doch inzwischen, eine Woche nach der Hochzeitsnacht, sei sie ganz trübsinnig und achte nicht mehr auf sich und mache mir Angst.
Dr. Graves schrieb alles nieder. Dr. Christie fragte: »Angst. Meinen Sie um Ihre eigene Sicherheit?«
Ich erwiderte: »Nicht um die meine, Sir. Um die ihre. Ich fürchte, dass sie sich womöglich selbst etwas antut, weil sie so unglücklich ist.«
»Verstehe«, murmelte er. Und dann: »Sie mögen Ihre Herrin. Sie haben sehr freundlich über sie gesprochen. Nun sagen Sie mir eines: Welche Pflege sollte Ihre Herrin Ihrer Ansicht nach bekommen, damit es ihr wieder besser geht?«
Ich sagte: »Ich glaube –«
»Ja?«
»Ich wünschte –«
Er nickte. »Fahren Sie fort.«
»Ich wünschte mir, Sie würden sie mitnehmen, Sir, und gut auf sie achtgeben«, stammelte ich hastig. »Ich wünschte mir, Sie würden sie an einen sicheren Ort bringen, wo niemand sie berühren oder ihr weh tun kann –«
Das Herz schien mir plötzlich bis zum Hals zu klopfen, und meine Stimme war tränenerstickt. Gentleman ließ mich nicht aus den Augen. Der Doktor nahm meine Hand und hielt sie in vertraulicher Weise fest.
»Na, na«, sagte er. »Beruhigen Sie sich. Ihre Herrin wird alles bekommen, was Sie sich für sie wünschen. Sie hat in der Tat großes Glück, eine so brave und treue Zofe zu haben wie Sie!«
Er tätschelte meine Hand und strich darüber, dann ließ er sie los. Er blickte auf seine Uhr. Dann sah er Gentleman an und nickte. »Sehr gut«, sagte er. »Sehr gut. Nun, wenn Sie uns vielleicht zeigen könnten –?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Gentleman rasch. »Bitte hier entlang.« Er öffnete die Tür, und sie alle kehrten mir den Rücken zu und gingen hinaus. Ich sah ihnen nach, und plötzlich überkam mich ein Gefühl – ich weiß nicht recht, ob es Traurigkeit war oder Angst. Ich machte ein paar Schritte und rief hinter ihnen her.
»Sie mag keine Eier, Sir!«
Dr. Christie schaute über die Schulter zurück. Ich hatte die Hand gehoben. Nun ließ ich sie wieder sinken. »Sie mag keine Eier«, sagte ich etwas matter, »ganz gleich, wie man sie zubereitet.«
Sonst fiel mir nichts ein. Er lächelte und verbeugte sich, aber in scherzhafter Weise. Dr. Graves schrieb in sein Büchlein – oder gab zumindest vor zu schreiben: Mag keine Eier. Dann führte Gentleman die beiden in Mauds Zimmer. Einen Moment später kam er zurück zu mir.
»Bleibst du hier, bis die beiden sie angesehen haben?«, fragte er.
Ich antwortete nicht. Er schloss die Tür. Aber die Wände waren dünn wie Papier. Ich hörte sie umhergehen, schnappte die Fragen des Doktors auf, und dann, nach etwa einer Minute, hörte man ganz dünn, wie Maud zu weinen begann.
Die Ärzte blieben nicht lange bei ihr. Ich nehme an, sie hatten alles, was sie wissen wollten, bereits von mir und Mrs. Cream erfahren. Als sie fort waren, ging ich zu Maud. Gentleman stand hinter ihrem Stuhl, ihr blasses Gesicht in den Händen. Er hatte sich vorgebeugt, um sie anzusehen, vielleicht auch um ihr etwas zuzuflüstern und sie noch mehr zu quälen. Als er mich hereinkommen sah, richtete er sich auf und sagte: »Sieh dir deine Herrin an, Sue. Findest du nicht auch, dass ihre Augen etwas mehr Glanz bekommen haben?«
Mauds Augen glänzten in der Tat, die letzten Tränen schimmerten noch darin, und an den Rändern waren sie gerötet.
»Geht es Ihnen gut, Miss?«
»Es geht ihr gut«, sagte Gentleman. »Ich glaube, die Gesellschaft meiner Freunde hat sie aufgeheitert. Ich glaube, diese netten Kerle, Christie und Graves, waren ganz entzückt von ihr. Und nun sag mir, Sue, kennst du eine Dame, die nicht durch die entzückte Aufmerksamkeit eines Gentlemans aufblühen würde?«
Maud drehte den Kopf, hob die Hand und zupfte ein wenig müde an seinen Händen, die sie umklammerten. Gentleman stand noch einen Augenblick da und hielt ihr Gesicht fest, dann ließ er sie los.
»Was bin ich nur für ein Narr gewesen«, sagte er zu mir. »Ich habe von Mrs. Rivers verlangt, sie solle hier gesund werden, an diesem stillen Ort, in dem Glauben, die Stille werde ihr guttun. Nun erst wird mir klar, dass sie die Betriebsamkeit der Stadt braucht. Graves und Christie ist das auch aufgefallen. Sie möchten so gerne, dass wir sie in Chelsea besuchen – ja, Christie stellt uns sogar seine Kutsche und seinen Kutscher zur Verfügung! Gleich morgen reisen wir ab. Maud, was sagst du dazu?«
Sie hatte sich zum Fenster gewendet und hinausgeschaut. Nun hob sie den Kopf zu ihm, und ein wenig Farbe kämpfte sich auf ihre weißen Wangen.
»Morgen?«, fragte sie. »So bald schon?«
Er nickte. »Morgen reisen wir ab. Zu einem großen Haus mit schönen ruhigen Zimmern und eifrigen Dienstboten, das schon auf dich wartet.«
Am nächsten Tag schob Maud ihr Frühstück aus Eiern und Fleisch wie üblich beiseite. Doch selbst ich konnte nichts davon essen. Ich kleidete sie an, ohne sie anzusehen. Ich kannte jeden Teil ihres Körpers. Sie trug noch immer das alte schlammbeschmutzte Kleid, und ich trug das hübsche seidene. Sie wollte nicht, dass ich es auszog, nicht einmal während der Reise, obwohl ich wusste, dass es verknittern würde.
Ich stellte mir vor, wie ich es daheim in der Lant Street trug. Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich wieder zu Hause bei Mrs. Sucksby sein würde, noch ehe es dunkel wurde.
Ich packte ihre Taschen. Ich tat es ganz langsam und spürte kaum die Sachen, die ich anfasste. In eine Tasche kamen ihre Unterwäsche, ihre Pantöffelchen, ihre Schlaftropfen, eine Haube, eine Bürste – die Tasche sollte sie mit in die Irrenanstalt nehmen. In die andere kam alles Übrige – die Tasche war für mich. Nur den weißen Handschuh legte ich beiseite, und als die Taschen gepackt waren, steckte ich ihn hübsch ordentlich ins Mieder meines Kleides, ganz nahe an mein Herz.
Die Kutsche kam, und wir waren bereit. Mrs. Cream brachte uns zur Tür. Maud trug einen Schleier. Ich half ihr die schiefe Treppe hinunter, und sie klammerte sich an meinen Arm. Als wir aus dem Häuschen herauskamen, umklammerte sie mich noch fester. Über eine Woche lang hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen. Sie schreckte zurück vor der Weite des Himmels und der schwarzen Kirche und schien die weiche Luft selbst unter ihrem Schleier zu spüren wie eine Hand, die sie auf die Wange schlug.
Ich legte meine Finger auf ihre.
»Gott schütze Sie, Ma’am!«, rief Mrs. Cream, als Gentleman sie bezahlt hatte. Sie stand da und sah uns zu. Der Junge, der in jener ersten Nacht unser Pferd weggebracht hatte, tauchte nun wieder auf, um uns davonfahren zu sehen, und noch ein paar weitere Jungs kamen und starrten uns an. Sie standen auf beiden Seiten der Kutsche und kratzten an den Türen herum, auf denen ein altes goldenes Wappen schwarz übermalt worden war. Der Kutscher verstaute unsere Taschen auf dem Dach, dann ließ er das Trittbrett herunter. Gentleman nahm Mauds Hand aus der meinen und half ihr hinein. Er erhaschte meinen Blick.
»Na, na«, mahnte er mich. »Keine Zeit für Gefühlsduseleien.«
Maud nahm Platz und lehnte den Kopf hinten an, und Gentleman setzte sich neben sie. Ich setzte mich ihr gegenüber. Es gab keine Griffe an der Tür, nur einen Schlüssel, der aussah wie der Schlüssel zu einem Tresor. Als der Kutscher die Türen schloss, verriegelte Gentleman sie von innen und steckte den Schlüssel in die Tasche.
»Wie lange sind wir denn unterwegs?«, fragte Maud.
Er entgegnete: »Eine Stunde.«
Es kam mir viel länger vor als eine Stunde. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Es war ein warmer Tag. Die Sonne schien durch die Fensterscheiben und heizte den Wagen auf, doch die Fenster ließen sich nicht öffnen – vermutlich damit die Irren nicht hinausspringen konnten. Schließlich zog Gentleman an einer Schnur, wodurch die Jalousien sich schlossen, und wir saßen schweigend in Hitze und Dunkelheit und wurden durchgerüttelt. Mit der Zeit wurde mir übel. Ich sah, wie Mauds Kopf, der gegen das Polster lehnte, hin und her rollte, konnte aber nicht erkennen, ob ihre Augen offen waren oder geschlossen. Ihre Hände lagen gefaltet im Schoß.
Gentleman rutschte unruhig herum, lockerte seinen Kragen, sah auf die Uhr, zupfte an seinen Manschetten. Ab und an zog er ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. Jedes Mal, wenn die Kutsche langsamer wurde, beugte er sich zum Fenster und spähte durch die Lamellen. Dann bremste der Wagen so stark, dass wir fast zum Stehen kamen, und machte eine Wende. Gentleman sah wieder hinaus, straffte die Schultern und rückte sich die Krawatte zurecht.
»Wir sind fast da«, sagte er.
Maud wandte ihm den Kopf zu. Wieder wurde die Kutsche langsamer. Ich zog an der Schnur, mit der sich die Jalousien öffnen ließen. Wir waren am Anfang eines grünen Weges, über den sich ein steinerner Torbogen spannte, und darunter befand sich ein eisernes Tor. Ein Mann war im Begriff, es zu öffnen. Die Kutsche ruckte, und dann fuhren wir den Weg entlang, bis wir zu dem Haus an dessen Ende kamen. Es sah aus wie Briar, nur war dieses Haus kleiner und gepflegter. Die Fenster waren vergittert. Ich beobachtete Maud, um zu sehen, was sie wohl tun würde. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen und sah in ihrer gewohnt trägen Art aus dem Fenster. Doch hinter der Trägheit meinte ich so etwas wie Wissen oder Furcht in ihr aufsteigen zu sehen.
»Hab keine Angst«, sagte Gentleman.
Das war alles, was er sagte. Ich weiß nicht, ob er es zu ihr sagte oder zu mir. Die Kutsche fuhr noch einmal um eine Biegung und kam dann zum Stehen. Dr. Graves und Dr. Christie standen da und warteten auf uns. Neben ihnen stand eine große stämmige Frau, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, und über dem Kleid trug sie eine Schürze aus Drillichtuch wie die eines Metzgers. Dr. Christie trat auf uns zu. Er hatte einen Schlüssel und schloss die Tür von außen auf. Maud fuhr zusammen, als sie das Geräusch hörte. Gentleman legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. Dr. Christie verbeugte sich.
»Guten Tag«, sagte er. »Mr. River, Miss Smith. Mrs. Rivers, Sie erinnern sich doch bestimmt noch an mich?«
Er streckte die Hand aus.
Er bot sie mir an.
Einen Augenblick war es, glaube ich, vollkommen still. Ich sah ihn an, und er nickte. »Mrs. Rivers?«, sagte er abermals. Dann beugte Gentleman sich vor und ergriff meinen Arm. Zuerst glaubte ich, er wolle mich auf meinem Sitz halten. Dann wurde mir klar, dass er mich herauszerren wollte. Der Arzt nahm meinen anderen Arm. Sie zogen mich auf die Füße. Mit den Schuhen blieb ich am Trittbrett hängen.
Ich protestierte: »Halt! Was tut ihr denn? Was –?«
»Wehren Sie sich nicht, Mrs. Rivers«, sagte der Doktor. »Wir werden uns gut um Sie kümmern.«
Er winkte Dr. Graves und die Frau heran.
Ich rief: »Ich bin nicht diejenige, die Sie wollen! Was tun Sie nur? Mrs. Rivers? Ich bin Susan Smith! Gentleman! Gentleman, sag es ihnen!«
Dr. Christie schüttelte den Kopf. »Immer noch die gleiche traurige Geschichte?«, fragte er Gentleman.
Gentleman nickte wortlos, als wäre er zu unglücklich, um zu reden. Ich hoffe, das war er wirklich! Er drehte sich um und nahm eine der Taschen herunter – eine der Taschen von Mauds Mutter.
Dr. Christie hielt mich noch fester umklammert. »Verraten Sie mir«, sagte er, »wie Sie Susan Smith sein können, vormals wohnhaft in der Whelk Street in Mayfair? Wissen Sie denn nicht, dass es diesen Ort gar nicht gibt? Ich bitte Sie, das wissen Sie doch. Und wir werden Sie dazu bringen, es zuzugeben, und wenn es ein ganzes Jahr dauert. Winden Sie sich nicht so, Mrs. Rivers! Sie ruinieren sich noch Ihr schönes Kleid.«
Ich hatte mich gegen seinen Griff gewehrt. Bei diesen Worten sank ich in mich zusammen. Ich blickte auf den seidenen Ärmel meines Kleides und auf meinen Arm – der durch sorgsames Päppeln immer rundlicher und glatter geworden war – und dann auf die Tasche zu meinen Füßen, auf der die Messingbuchstaben standen – das M und das L.
In dieser Sekunde begriff ich, mit welch schmutzigem Trick Gentleman mich hereingelegt hatte.
Ich heulte auf. »Du verdammtes Schwein!«, schrie ich außer mir und wollte mich auf ihn stürzen. »Du Mistkerl! Oh!«
Gentleman stand an der Tür der Kutsche, wodurch der Wagen sich etwas neigte.
Der Doktor packte mich noch fester, und sein Gesicht verfinsterte sich. »In meinem Haus kann ich eine solche Gossensprache nicht dulden, Mrs. Rivers«, erklärte er.
»Sie Blödmann!«, rief ich. »Sehen Sie denn nicht, was er tut? Sehen Sie nicht, wie er Sie hinters Licht führt? Ich bin nicht die, die Sie wollen, es ist –«
Ich wehrte mich mit aller Kraft, aber der Doktor hielt mich eisern fest. Ich sah an ihm vorbei zu der schwankenden Kutsche hinüber. Gentleman war zur Seite getreten, die Hand vors Gesicht gepresst. Hinter ihm, im Licht, das in Streifen durch die Lamellen fiel, saß Maud. Ihr Gesicht war hager, ihr Haar stumpf. Ihr Kleid war abgetragen wie das Kleid eines Dienstmädchens. Ihre Augen blickten wirr, Tränen sammelten sich darin. Doch ihr Blick hinter den Tränen war hart. Hart wie Marmor, hart wie Messing.
Hart wie eine Perle und das Sandkorn, das sie umschloss.
Dr. Christie sah meinen Blick.
»Aber, aber, warum starren Sie denn so?«, fragte er. »Sie erkennen doch sicher Ihre eigene Zofe?«
Ich konnte nichts sagen. Maud jedoch konnte es. Mit zitternder Stimme, die nicht wie ihre klang, sagte sie: »Meine arme Herrin. Ach, es bricht mir das Herz!«
Ich hatte sie für einen Gimpel gehalten. Von wegen! Die Schlampe wusste alles. Sie war von Anfang an eingeweiht gewesen.