KAPITEL 9

Ich nehme an, selbst da – oder vielmehr ganz besonders da, als unser Pakt noch so neu ist, so unerprobt, sein Gewebe noch dünn und durchscheinend – selbst da kann ich noch davon abrücken, mich dem Sog seiner Begierde entziehen. Ich glaube, als ich aufwache, bin ich der Überzeugung, ich würde es tun. Denn das Zimmer – das Zimmer, in dem er in der mitternächtlichen Stille flüsternd meine Hand genommen und seinen gefährlichen Plan vor mir ausgebreitet hat, kehrt in der empfindlich kühlen halben Stunde der Morgendämmerung wieder in seine strengen altbekannten Grenzen zurück. Ich kenne jeden Winkel, jede Ecke. Ich weiß noch, wie ich als Mädchen von elf Jahren geweint habe, weil Briar mir so fremd war – die Stille, die Ruhe, die sich windenden Gänge und die mit Gerümpel vollgestellten Wände. Damals hatte ich gedacht, diese Dinge würden mir ewig fremd bleiben; ich spürte, wie ihre Fremdheit mich selbst zu einer Fremden machte – aus mir ein Ding mit Spitzen und Haken machte, einen störenden Unterton, einen Splitter im Rachen des Hauses. Doch Briar hat sich an mich angeschlichen. Briar hat mich verschlungen. Nun spüre ich bloß das Gewicht des wollenen Umhangs, mit dem ich mich zugedeckt habe, und denke: Nie werde ich entkommen! Ich bin nicht dazu bestimmt zu entkommen! Briar wird mich niemals gehen lassen!

Doch da irre ich mich. Richard Rivers ist nach Briar gekommen wie eine Hefespore in einen Teig, und er verändert es von Grund auf. Als ich um acht Uhr in die Bibliothek gehe, schickt man mich fort: Er ist dort bei meinem Onkel, und gemeinsam sehen sie sich die Drucke an. Drei Stunden verbringen sie zusammen. Und als ich am Nachmittag gerufen werde, um mich von den Herren zu verabschieden, sind es nur Mr. Hawtrey und Mr. Huss, denen ich die Hand geben muss. Ich treffe sie in der Eingangshalle an, wo sie gerade dabei sind, die Mäntel zuzuknöpfen und Handschuhe anzuziehen, während mein Onkel sich auf seinen Stock stützt und Richard ein wenig abseits steht, die Hände in den Hosentaschen, und zusieht. Er sieht mich als Erster. Er sieht mich an, rührt sich aber nicht. Dann hören die anderen mich kommen und heben die Köpfe, um mir entgegenzusehen.

Mr. Hawtrey lächelt. »Da kommt die schöne Galatea«, sagt er.

Mr. Huss hat den Hut bereits auf dem Kopf. Nun nimmt er ihn wieder ab. »Die Nymphe«, fragte er, die Augen auf mein Gesicht geheftet, »oder die Statue?«

»Nun – beides«, antwortet Mr. Hawtrey, »doch ich meinte die Statue. Miss Lilly sieht blass aus, finden Sie nicht?« Er nimmt meine Hand. »Wie meine Töchter Sie beneiden würden! Wissen Sie, dass sie tatsächlich Tonerde essen, um ihren Teint aufzuhellen? Reine Tonerde.« Er schüttelt den Kopf. »Ich bin der Meinung, dass diese Blässe eine äußerst ungesunde Modeerscheinung ist. Was Sie angeht, Miss Lilly, bin ich wie immer, wenn ich Sie verlassen muss, zutiefst betrübt darüber, unter welch unerträglichen Bedingungen Ihr Onkel Sie hier festhält – wie einen Pilz in diesem feuchten, dunklen Haus.«

»Ich bin es nicht anders gewohnt«, erwidere ich leise. »Außerdem glaube ich, dass die Düsternis mich blasser macht, als ich bin. Geht Mr. Rivers nicht mit Ihnen?«

»Die Düsternis ist also schuld. Wirklich, Mr. Lilly, ich kann kaum die Knöpfe an meinem Mantel erkennen. Wollen Sie nicht endlich die Brücke zur Zivilisation schlagen und Briar mit Gas versorgen lassen?«

»Nicht solange ich hier Bücher aufbewahre«, erwidert mein Onkel.

»Das heißt also niemals. Rivers, Gas vergiftet Bücher. Wussten Sie das?«

Richard schüttelt den Kopf. »Das wusste ich nicht.« Dann wendet er sich an mich und sagt mit leicht gedämpfter Stimme: »Nein, Miss Lilly, ich werde noch nicht nach London zurückkehren. Ihr Onkel ist so freundlich gewesen, mir anzubieten, ein wenig an seinen Drucken zu arbeiten. Wir teilen, wie es scheint, eine Leidenschaft für Morland.« Seine Blick ist dunkel – wenn blaue Augen überhaupt dunkel sein können.

Mr. Hawtrey sagt: »Nun, Mr. Lilly, was halten Sie von diesem Vorschlag: Wie wäre es, wenn Sie, während die Drucke aufgezogen werden, Ihrer Nichte einen Besuch in der Holywell Street gestatten? Würde Ihnen ein Ausflug nach London nicht große Freude bereiten, Miss Lilly? Na, ich sehe Ihnen doch an, dass Sie Ihre Freude daran hätten.«

»Das hätte sie nicht«, sagt mein Onkel.

Mr. Huss kommt ganz nahe heran. Sein Mantel ist dick, und er schwitzt. Er nimmt meine Fingerspitzen. »Miss Lilly«, sagt er. »Wenn ich jemals –«

»Na, na«, sagt mein Onkel. »Nun gehen Sie aber zu weit. Da ist schon mein Kutscher, sehen Sie. Maud, komm von der Tür weg …«

»Narren«, sagt er, als die Herren gegangen sind. »Was, Rivers? Aber kommen Sie, ich kann es kaum erwarten anzufangen. Haben Sie Ihre Gerätschaften?«

»Ich hole sie sofort, Sir. Es dauert nur einen Moment.« Er verbeugt sich und geht.

Mein Onkel schickt sich an, ihm zu folgen, doch dann wendet er sich noch einmal mir zu. Er sieht mich nachdenklich an, dann winkt er mich zu sich. »Gib mir deine Hand, Maud!« Ich denke, er will sich von mir auf der Treppe stützen lassen. Doch als ich ihm meinen Arm anbiete, nimmt er ihn, hält ihn fest, hebt mein Handgelenk bis vor sein Gesicht, schiebt den Ärmel zurück und blickt argwöhnisch auf den Streifen entblößter Haut. Er beäugt meine Wangen. »Bleich, sagen sie? Bleich wie ein Pilz, hm?« Er verzieht den Mund. »Weißt du, aus welcher Art von Materie Pilze am liebsten sprießen? Ha!« Er lacht. »Jetzt bist du nicht mehr so blass!«

Ich bin errötet und habe mich abgewendet. Noch immer lachend lässt er meinen Arm fallen, dreht sich um und beginnt ohne meine Hilfe die Treppe hinaufzugehen. Er trägt ein Paar weicher Pantoffeln aus Stoffstreifen, in denen man seine bestrumpften Fersen sieht. Und ich sehe ihm zu, wie er hinaufsteigt und stelle mir vor, mein Groll sei eine Peitsche, eine Rute, mit der ich nach seinen Füßen schlagen und ihn zu Fall bringen könnte.

Ich stehe da und höre seine Schritte verhallen, als Richard aus den oberen Stockwerken auf die Galerie zurückkommt. Er schaut nicht nach mir, weiß nicht, dass ich hier bin, noch immer im Schatten der geschlossenen Haustür stehe. Er geht einfach weiter, er geht flott, mit den Fingern trommelt er auf das Geländer der Galerie. Ich glaube, er pfeift sogar oder summt. Solche Geräusche sind wir in Briar nicht gewöhnt, und da die Worte meines Onkels meinen Zorn geweckt und angefacht haben, kommen sie mir nun aufregend, gefahrvoll vor, wie das Knarren von Planken und Balken. Ich habe das Gefühl, als erhöben sich Staubwolken aus den uralten Teppichen unter unseren Füßen. Und während ich hinaufschaue und ihm mit den Augen folge, bin ich davon überzeugt, sehen zu können, wie sich kleine Partikel der Deckenfarbe lösen und zu Boden taumeln. Der Anblick ist schwindelerregend. Ich stelle mir vor, wie die Mauern des Hauses Risse bekommen, wie sie auseinanderklaffen und unter der Erschütterung seiner Anwesenheit einstürzen. Ich fürchte nur, dass dies geschehen wird, noch ehe ich die Gelegenheit habe, ihnen zu entfliehen.

Doch ich fürchte mich auch davor zu entfliehen. Und ich glaube, Richard weiß das. Seit Mr. Huss und Mr. Hawtrey fort sind, hat er nicht mehr unter vier Augen mit mir reden können. Und er wagt es nicht, sich ein zweites Mal in mein Zimmer zu schleichen. Doch er weiß, dass er mich für seinen Plan gewinnen muss. Er wartet ab und schaut zu. Er isst noch immer mit uns zu Abend, doch nun sitzt er an der Seite meines Onkels, nicht an meiner.

Eines Abends jedoch unterbricht er ihre Unterhaltung und sagt zu mir: »Es bereitet mir Sorge, Miss Lilly, wenn ich daran denke, wie sehr Sie sich wohl langweilen müssen, nun, da ich hier bin und die Aufmerksamkeit Ihres Onkels von seinem Index ablenke. Ich kann mir vorstellen, wie sehr Sie sich danach sehnen, zu Ihrer Arbeit mit den Büchern zurückzukehren.«

»Den Büchern?«, erwidere ich. Dann senke ich den Blick auf meinen Teller mit dem kleingeschnittenen Fleisch. »Selbstverständlich – sehr.«

»Dann wollte ich, ich könnte etwas tun, um Ihnen die Bürde Ihrer Tage ein wenig zu erleichtern. Haben Sie keine Arbeiten – keine Gemälde oder Skizzen –, die ich für Sie aufziehen könnte, wenn ich die Zeit dafür finde? Das haben Sie doch bestimmt. Wie ich gesehen habe, hat man von den Fenstern des Hauses eine wirklich überwältigende Aussicht.« Er zieht eine Braue hoch, wie ein Dirigent, der seinen Taktstock hebt.

Selbstverständlich bin ich völlig fügsam. Ich sage: »Ich kann weder malen noch zeichnen. Ich habe es nicht gelernt.«

»Was!? Vergeben Sie mir, Mr. Lilly. Ihre Nichte scheint eine so kundige Meisterin des üblichen Reigens der weiblichen Künste zu sein, dass ich annahm – Doch dem können wir mit wenig Aufwand abhelfen. Miss Lilly könnte sich von mir unterweisen lassen, Sir. Darf ich ihr nachmittags Unterricht erteilen? Ich habe auf diesem Gebiet eine gewisse Erfahrung: Ich habe in Paris die Töchter eines Grafen eine ganze Saison lang unterrichtet.«

Mein Onkel kneift die Augen zusammen. »Zeichnen?«, murmelt er. »Warum sollte meine Nichte das Zeichnen lernen wollen? Hast du vor, uns bei der Zusammenstellung der Alben zur Hand zu gehen?«

»Ich meine zeichnen um seiner selbst willen, Sir«, erwidert Richard, bevor ich eine Antwort geben kann.

»Um seiner selbst willen?« Mein Onkel schaute mich blinzelnd an. »Maud, was sagst du dazu?«

»Ich fürchte, ich habe kein Geschick dafür.«

»Kein Geschick? Nun, das mag sein. Als du hierherkamst, waren deine Hände jedenfalls sehr ungelenk. Und selbst jetzt neigen sie zur Schlaffheit. Sagen Sie mir, Rivers: Würden einige Unterweisungen in der Kunst des Zeichnens die Hand meiner Nichte festigen?«

»Das möchte ich doch behaupten, Sir, ganz bestimmt.«

»Dann lass dich von Mr. Rivers unterrichten, Maud. Mir gefällt der Gedanke ohnehin nicht, dass du müßig herumsitzt, hm?«

»Ja, Sir«, sage ich.

Richard schaut zu mit einer Teilnahmslosigkeit im Blick, die seine Augen aussehen lässt wie die Augen einer schlafenden Katze, von einem milchigen Lid bedeckt. Als mein Onkel sich jedoch über den Teller beugt, wirft er mir einen kurzen Blick zu. Da verschwindet der Schleier, und seine Augen blitzen, und die unvermittelte Vertraulichkeit in seinem Ausdruck lässt mich erschaudern.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Glauben Sie nicht, ich hätte schlimmere Gewissensbisse, als es der Fall ist. Es ist wahr, dass ich vor Furcht erzittere – vor Furcht vor seinem Plan, vor Furcht vor dessen Erfolg ebenso wie vor seinem Scheitern. Doch ich erbebe auch vor seiner Kühnheit – oder vielmehr lässt seine Kühnheit mich erzittern, so wie eine schwingende Saite angeblich unvermutete Resonanzen in den Fasern eines ruhenden Körpers finden kann. Schon nach zehn Minuten war mir klar, was das Leben aus Ihnen gemacht hat, hat er in jener ersten Nacht zu mir gesagt. Und dann: Ich bin allerdings der Meinung, dass Sie schon jetzt beinahe eine Schurkin sind. Er hatte recht. Hatte ich dieses Schurkische vorher nicht erkannt – oder es erkannt, aber nicht benannt –, so erkenne und benenne ich es nun.

Ich erkenne es, wenn er jeden Tag auf mein Zimmer kommt, meine Hand an seinen Mund führt, die Fingerknöchel mit den Lippen berührt und die kalten blauen teuflischen Augen rollt. Wenn Agnes es sieht, so versteht sie es nicht. Sie hält es für Galanterie. Er und galant. Die Galanterie unter Gaunern. Agnes schaut zu, wie Richard das Papier zurechtlegt, die Bleistifte und Farben. Sie sieht zu, wie er den Platz an meiner Seite einnimmt und meine Finger beim Zeichnen von Kurven und krummen Linien führt. Stets senkt er dann die Stimme. Männerstimmen sind, wenn sie zu einem Murmeln gesenkt werden, in der Regel schwer verständlich – sie brechen, sind voller Misstöne, stets wollen sie wieder lauter werden. Richards Stimme jedoch kann sich senken, einschmeicheln und dabei doch klar bleiben wie ein melodischer Ton. Und während Agnes dasitzt und näht, am anderen Ende des Zimmers, erklärt er mir heimlich den Plan, den er geschmiedet hat, Punkt für Punkt, bis der Plan vollkommen ist.

»Sehr gut«, sagt er dann – wie ein echter Mallehrer zu seiner talentierten Schülerin. »Sehr gut. Sie lernen rasch.«

Er lächelt. Er streckt sich und streicht sich das Haar zurück. Er sieht Agnes an und stellt fest, dass sie ihn angesehen hat. Wie ein scheuer Vogel flattert ihr Blick davon.

»Nun, Agnes«, sagt er dann. Er entdeckt ihre Nervosität wie ein Jäger den Vogel, auf den er aus ist. »Was meinst du, ist deine Herrin eine begnadete Malerin?«

»O Sir! Darüber würde ich mir kein Urteil anmaßen.«

Manchmal nimmt er dann einen Bleistift und tritt zu ihr. »Siehst du, wie ich Miss Lilly den Bleistift halten lasse? Ihre Hand jedoch ist die Hand einer Dame, und ihr Griff muss noch fester werden. Du, Agnes, würdest den Bleistift mit deiner Hand sicher besser halten können. Hier, willst du es nicht versuchen?«

Einmal nimmt er ihre Finger. Ihre Wangen färben sich hochrot, als er sie berührt.

»Errötest du?«, fragt er verwundert. »Du denkst doch nicht etwa, ich wolle dir zu nahe treten?«

»Nein, Sir!«

»Nun, warum errötest du dann?«

»Mir ist nur ein wenig warm, Sir.«

»Warm, im Dezember –?«

Und so weiter. Er hat sein Talent, andere zu quälen, ebenso verfeinert wie ich meines. Diese Beobachtung sollte mich eigentlich zur Vorsicht gemahnen. Das tut sie jedoch nicht. Je mehr er Agnes peinigt, je verstörter sie wird, desto mehr – wie ein Kreisel, der sich immer schneller dreht, je mehr man ihn mit der Peitsche antreibt – desto mehr foppe auch ich sie.

»Agnes«, sage ich, während sie mich entkleidet oder mir das Haar bürstet, »woran denkst du? An Mr. Rivers?« Ich halte ihr Handgelenk fest, spüre, wie kleine Knochen aneinanderreiben. »Findest du, dass er gut aussieht? Das tust du, ich sehe es in deinen Augen! Und wollen junge Mädchen nicht gutaussehende Männer?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Miss!«

»Was sagst du da? Dann bist du eine Lügnerin.« Ich kneife sie, irgendwo in ihr weiches Fleisch – natürlich kenne ich inzwischen alle Stellen. »Du bist eine Lügnerin und eine Kokette. Willst du diese Vergehen deiner Liste hinzufügen, wenn du an deinem Bett kniest und deinen Vater im Himmel um Vergebung bittest? Glaubst du, er wird dir tatsächlich vergeben, Agnes? Ich denke, er muss rothaarigen Mädchen vergeben, denn sie können nichts dafür, dass sie verderbt sind, es liegt in ihrer Natur. Er wäre in der Tat sehr grausam, ihnen eine Leidenschaft ins Herz zu legen und sie dann dafür zu bestrafen, dass sie diese empfinden. Meinst du nicht auch? Spürst du deine Leidenschaft nicht, wenn Mr. Rivers dich ansieht? Lauschst du nicht auf seinen schnellen Schritt?«

Sie sagt, das tue sie nicht. Sie schwört es beim Leben ihrer Mutter! Gott weiß, was sie wirklich denkt. Sie muss es nur sagen, sonst ist unser Spiel zu Ende. Sie muss es sagen und sich grün und blau zwicken lassen und ihre Unschuld bewahren. Und ich muss ihr weh tun. Ich muss ihr weh tun für die gewöhnliche Begierde, die ich – wäre ich ein gewöhnliches Mädchen mit einem gewöhnlichen Herzen – sicher auch für ihn empfinden würde.

Doch ich empfinde sie nicht. Glauben Sie das nur nicht. Empfand Merteuil sie für Valmont? Ich will sie nicht empfinden. Ich würde mich selbst dafür hassen, empfände ich sie! Denn ich kenne sie aus den Büchern meines Onkels, und zwar als allzu armseliges Ding – ein Jucken, wie das Jucken entzündeten Fleisches, das man fieberhaft, feucht befriedigt, in Kammern und hinter Paravents. Was er in mir wachgerufen, in meiner Brust aufgewühlt hat – diese dunkle Seelenverwandtschaft –, ist etwas ganz und gar anderes und viel Rareres. Ich könnte sagen, sie erhebt sich wie ein Schatten im Haus oder kriecht wie eine Schimmelblüte über die Wände. Doch das Haus ist bereits voller Schatten und Stockflecken, und so fällt es niemandem auf.

Niemandem, außer vielleicht Mrs. Stiles. Denn sie ist die Einzige, die Richard je ansieht und sich fragt, ob er wirklich der Gentleman ist, für den er sich ausgibt. Manchmal sehe ich die Blicke, mit denen sie ihn bedenkt. Ich glaube, sie durchschaut ihn. Ich glaube, sie denkt, er sei hergekommen, um mich zu verführen und zu verderben. Doch sie behält ihren Verdacht für sich, denn sie hasst mich und hegt die Hoffnung auf meinen Ruin, lächelnd, wie sie einst ihr sterbendes Kind hegte.

Dies also ist das Metall, aus dem unsere Falle geschmiedet ist, dies sind die Kräfte, die sie aufstellen und ihre Zähne wetzen. Und als alles bereit ist – »Nun«, sagt Richard, »beginnt unsere Arbeit. Wir müssen Agnes loswerden.«

Das flüstert er mir zu und hat dabei die Augen auf sie gerichtet. Agnes sitzt über ihre Arbeit gebeugt am Fenster. Er sagt es ganz unbeteiligt, mit einem so unbewegten Blick, dass er mir beinahe Angst macht. Vielleicht weiche ich sogar vor ihm zurück. Da sieht er mich an.

»Du weißt, dass es nicht anders geht«, sagt er.

»Selbstverständlich.«

»Und du weißt auch, wie wir es machen?«

Bis zu diesem Augenblick habe ich es nicht gewusst. Doch nun sehe ich sein Gesicht.

»Das ist die einzige Möglichkeit«, fährt er fort, »bei solch tugendhaften Mädchen. Stopft ihnen den Mund besser noch als Drohungen oder Münzen …« Er hat einen Pinsel in die Hand genommen, legt dessen Borsten an den Mund und beginnt sich damit geistesabwesend über die Lippen zu streichen, hin und her. »Plage dich nicht mit den Einzelheiten«, sagt er gelassen. »Es ist nicht viel dabei. Ganz und gar nicht viel –« Er lächelt. Agnes schaut von ihrer Arbeit auf, und er erhascht ihren Blick. »Wie ist das Wetter, Agnes?«, ruft er. »Noch immer heiter?«

»Recht heiter, Sir.«

»Gut. Sehr gut …« Daraufhin senkt sie, wie ich vermute, den Kopf, denn der freundliche Ausdruck verschwindet aus seinem Gesicht. Er steckt den Pinsel in den Mund und lutscht daran, so dass er vorne eine Spitze bekommt. »Ich mache es heute Abend«, sagt er nachdenklich. »Soll ich? Ich mache es. Ich schleiche mich in ihr Zimmer, genau wie ich mich in dein Zimmer geschlichen habe. Du musst mir nur eine Viertelstunde mit ihr allein geben und nicht hereinkommen, wenn sie schreit.«

Bis zu diesem Punkt erschien es mir wie ein Spiel. Spielen Herren und junge Damen in Landhäusern nicht ständig irgendwelche Spiele – Flirt und Intrige? Nun sinkt mir zum ersten Mal der Mut. Als Agnes mich an jenem Abend entkleidet, bringe ich es nicht über mich, sie anzusehen. Ich drehe den Kopf weg. »Du kannst die Tür zu deinem Zimmer schließen, nur für heute Nacht«, sage ich und spüre, wie sie zögert und sich wundert. Als sie hinausgeht, schaue ich ihr nicht hinterher. Ich höre, wie sie die Tür schließt und ihre Gebete murmelt. Ich höre, wie das Murmeln abbricht, weil er plötzlich in der Tür steht. Aufschreien höre ich sie nicht. Wäre ich tatsächlich dazu fähig, nicht zu ihr zu gehen, wenn sie es täte? Doch sie tut es nicht, ihre Stimme überschlägt sich nur beinahe, vor Überraschung, vor Entrüstung und dann – vermute ich – vor einer Art panischem Schrecken. Doch dann senkt sie sich wieder, wird erstickt oder besänftigt, geht rasch über in ein Wispern, das Reiben von Leinen oder Gliedern … Und dann folgt Stille. Und die Stille ist das Schlimmste von allem: nicht die Abwesenheit von Geräuschen, sondern eine Stille, die von gewissen Bewegungen kündet. Ich stelle mir vor, wie Agnes bebend daliegt, weinend, die Kleider hochgeschoben – und wie ihre sommersprossigen Arme sich dennoch unwillkürlich um seinen stoßenden Rücken legen, ihr weißer Mund seinen sucht –

Ich schlage die Hände vor den Mund und spüre das trockene Scheuern meiner Handschuhe. Dann halte ich mir die Ohren zu. Ich höre nicht, wie er wieder geht. Ich weiß nicht, was sie tut, als er fort ist. Ich lasse die Tür geschlossen, nehme schließlich Tropfen, damit ich einschlafen kann. Und am nächsten Tag erwache ich spät. Ich höre, wie sie vom Bett aus matt nach mir ruft. Sie sagt, sie sei krank. Sie öffnet die Lippen und zeigt mir das Innere ihres Mundes. Es ist leuchtend rot und geschwollen.

»Scharlach«, flüstert sie, ohne mich anzuschauen.

Die Angst vor Ansteckung macht sich breit. Man verlegt sie auf den Dachboden und verbrennt Schalen mit Essig in ihrem Zimmer. Mir wird übel von dem Geruch. Ich sehe sie wieder, nur ein einziges Mal, an dem Tag, als sie kommt, um sich von mir zu verabschieden. Sie wirkt dünn und hat dunkle Schatten um die Augen, und man hat ihr das Haar abgeschnitten. Ich greife nach ihrer Hand, und sie weicht vor mir zurück, vielleicht weil sie erwartet, geschlagen zu werden. Ich küsse sie jedoch nur sanft auf das Handgelenk.

Da sieht sie mich voller Zorn an.

»Jetzt sind Sie freundlich zu mir«, sagt sie, wobei sie mir den Arm entzieht und den Ärmel herunterzieht, »jetzt, wo Sie jemand anderen haben, zu dem Sie gemein sein können. Viel Glück dabei. Ich möchte es gerne sehen, wie Sie ihn verletzten, bevor er Sie verletzt.«

Ihre Worte erschüttern mich ein wenig – aber nur ein wenig, und als sie fort ist, scheine ich sie zu vergessen. Denn Richard ist ebenfalls fort, in den Angelegenheiten meines Onkels und in unseren eigenen unterwegs. Doch meine Gedanken sind bei ihm, bei ihm und in London – London! Wo ich noch nie gewesen bin, das ich mir aber schon so oft, so lebhaft vorgestellt habe, dass ich glaube, es zu kennen. London, wo mich meine Freiheit erwartet, wo ich mein altes Ich abwerfen werde, nach anderen Regeln leben werde – ohne Regeln leben werde, ohne Leder und Einbände – ohne Bücher! Ich werde alles Papier aus meinem Haus verbannen!

Ich liege auf dem Bett und stelle mir vor, wie ich in London wohnen werde. Doch ich kann es nicht. Ich sehe nur eine endlose Reihe üppig ausgestatteter Räume – düstere Räume, enge Räume, Räume in Räumen – Kerker und Verliese – die Zimmer von Priapus und Venus. Der Gedanke bringt mich aus der Fassung. Da lasse ich es lieber bleiben. Das Haus wird mit der Zeit klarere Formen annehmen, dessen bin ich mir sicher. Ich stehe auf und gehe umher und denke wieder an Richard, stelle mir vor, wie er durch die Stadt läuft, sich den Weg durch die Nacht zu den Diebeshöhlen nahe am Fluss sucht. Ich stelle mir vor, wie er von den Gaunern derb begrüßt wird, wie er Hut und Mantel abnimmt, sich die Hände am Feuer wärmt und sich umsieht. Ich stelle mir vor, wie er, Macbeth ähnlich, eine Reihe scheußlicher Gesichter abzählt – Mrs. Vixen, Betty Doxy, Jenny Diver, Molly Brazen – bis er das Gesicht findet, nach dem er sucht …

Suky Tawdry.

Sie. Ich versuche sie mir vorzustellen. Ich male sie mir aus, bis ich glaube, sie zu kennen: ihren Teint – hell; ihre Figur – rundlich; ihren Gang, ihre Augenfarbe. Ich bin mir sicher, dass ihre Augen blau sind. Ich fange an, von ihr zu träumen. Im Traum spricht sie, und ich höre ihre Stimme. Sie sagt meinen Namen und lacht.

Ich glaube, ich träume gerade von ihr, als Margaret mit einem Brief in mein Zimmer kommt, einem Brief von ihm.

Sie gehört uns, schreibt er.

Ich lese den Brief, dann lasse ich mich ins Kissen zurücksinken. Ich führe den Brief an meine Lippen. Es ist, als wäre er doch mein Geliebter – oder sie meine Geliebte. Denn nun sehne ich mich plötzlich so heftig nach ihr wie nach einem Geliebten.

Doch mehr noch sehne ich mich nach Freiheit.

Ich werfe den Brief ins Feuer, dann verfasse ich meine Antwort. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Zofe gleich zu mir schicken könnten. Ich werde sie ganz sicher liebgewinnen. Sie wird mir umso mehr ans Herzen wachsen, Mr. Rivers, als sie aus London kommt, von dort, wo Sie jetzt sind. Wir haben uns auf diese Worte geeinigt, ehe er abreiste.

Als das erledigt ist, muss ich nur noch abwarten, einen Tag, und dann einen weiteren. Und am dritten Tag kommt sie dann.

Sie soll um drei Uhr in Marlow eintreffen. Ich schicke William Inker, der sie abholen soll, rechtzeitig los. Doch obgleich ich dasitze und mir einbilde zu spüren, wie sie sich nähert, kommt der Einspänner ohne sie zurück: Die Züge haben Verspätung, es gibt Nebel. Ich gehe auf und ab und finde keine Ruhe. Um fünf Uhr schicke ich William abermals los – wieder kommt er unverrichteter Dinge zurück. Dann muss ich mit meinem Onkel zu Abend essen. Als Charles mir Wein einschenkt, frage ich ihn: »Noch keine Neuigkeiten, was Miss Smith angeht?«

Mein Onkel hört jedoch mein Flüstern und schickt Charles fort. »Ziehst du es vor, mit den Dienstboten zu reden statt mit mir?« Er ist übellaunig, seit Richard uns verlassen hat.

Er wählt ein Buch voller kleiner Bestrafungen, aus dem ich nach dem Essen lese: Die stete Rezitation von Grausamkeiten beruhigt mich. Doch als ich dann hinauf in meine kalten, stillen Zimmer gehe, fange ich erneut an, mich zu sorgen. Und nachdem Margaret mich entkleidet und zu Bett gebracht hat, stehe ich wieder auf und gehe umher – mal stehe ich am Feuer, mal an der Tür, mal am Fenster, halte Ausschau nach der Laterne des Einspänners. Dann sehe ich sie. Sie leuchtet schwach durch den Nebel – scheint mehr zu glühen als zu strahlen –, um mit jeder Bewegung des Pferdes und dem Rucken des Einspänners hinter den Bäumen aufzublitzen wie ein Warnlicht. Ich beobachte, wie es auf mich zukommt, eine Hand aufs Herz gelegt. Das Licht nähert sich, wird langsamer, kleiner, verschwindet. Dahinter sehe ich dann das Pferd, den Wagen, William und eine undeutlichere Gestalt. Sie fahren zur Hinterseite des Hauses, und ich laufe in Agnes’ Zimmer – das fortan Susans Zimmer sein wird – und stelle mich dort ans Fenster – und endlich sehe ich sie.

Sie hebt den Kopf, schaut auf die Ställe, die Uhr. William springt vom Kutschbock und hilft ihr herunter. Die Kapuze hat sie tief ins Gesicht gezogen. Sie ist dunkel gekleidet und wirkt sehr klein.

Doch sie ist wirklich. Unser Plan ist wirklich. Mit einem Mal spüre ich seine gesamte Wucht und erzittere.

Nun ist es zu spät, sie noch zu empfangen. Stattdessen muss ich mich gedulden, während man ihr ein Abendessen serviert und sie dann auf ihr Zimmer bringt. Und dann muss ich daliegen, ihre Schritte und ihr Murmeln hören, die Augen auf die Tür gerichtet, die ihre Kammer von der meinen trennt.

Einmal stehe ich auf und schleiche klammheimlich hin und lege mein Ohr an das Holz der Tür, doch ich höre nichts.

Am nächsten Morgen lasse ich mich von Margaret sorgsam ankleiden, und während sie an den Schnürbändern zieht, sage ich: »Anscheinend ist Miss Smith angekommen. Hast du sie gesehen, Margaret?«

»Ja, Miss.«

»Glaubst du, sie ist die Richtige?«

»Die Richtige, Miss?«

»Als meine Zofe.«

Sie wirft den Kopf zurück. »Ihre Manieren scheinen nicht die allerbesten zu sein«, erklärt sie naserümpfend. »Ist ein halbes Dutzend Mal in Frankreich gewesen, ich weiß aber nicht wo. Hat es gleich Mr. Inker erzählt.«

»Nun ja, wir müssen nett zu ihr sein. Es wird ihr hier vielleicht sehr öde vorkommen im Vergleich zu London.« Margaret sagt nichts. »Bitte Mrs. Stiles, sie heraufzuführen, sobald sie gefrühstückt hat.«

Die ganze Nacht hindurch habe ich, mal schlafend, mal wachend, dagelegen, und die Nähe dieses unbekannten Mädchens hat mich gequält. Ich muss sie sehen, ehe ich zu meinem Onkel gehe, sonst werde ich noch krank. Schließlich, gegen halb acht, höre ich ungewohnte Schritte im Korridor, der zur Hintertreppe führt, und dann Mrs. Stiles: »Da wären wir.« Es klopft an der Tür. Wie soll ich mich hinstellen? Ich stelle mich vor den Kamin. Klingt meine Stimme merkwürdig, als ich »Herein« rufe? Merkt sie es? Hält sie den Atem an? Ich weiß, dass ich es tue; dann spüre ich, wie ich erröte, und zwinge das Blut aus meinen Wangen. Die Tür öffnet sich. Mrs. Stiles betritt als Erste das Zimmer, und nach kurzem Zögern steht sie vor mir: Susan – Susan Smith – Suky Tawdry – das leichtgläubige Mädchen, das mir mein Leben nehmen und mir die Freiheit schenken soll.

Schlimmer als die Erwartung ist jedoch die Bestürzung. Ich habe angenommen, sie würde mir ähnlich sehen, ich habe angenommen, sie wäre hübsch: Doch sie ist klein und schmal, und ihr Haar hat die Farbe von Staub. Sie hat ein spitzes Kinn und braune Augen, dunkler als meine. Ihr Blick ist mal zu unverhohlen, dann wieder zu verstohlen. Sie mustert mich mit einem einzigen durchdringenden Blick, der alles einbezieht, mein Kleid, meine Handschuhe, die Pantoffeln, sogar die gestickten Verzierungen meiner Strümpfe. Dann stutzt sie – erinnert sich vermutlich an das, was man ihr eingetrichtert hat – und macht hastig einen Knicks. Sie ist zufrieden mit dem Knicks, das sehe ich. Sie ist auch mit mir zufrieden. Sie hält mich für eine Närrin. Dieser Gedanke verstimmt mich mehr als nötig. Ich schlucke. Ich sage: »Willkommen in Briar, Susan. Ich hoffe, es wird dir hier gefallen.« Ich denke: Du bist nach Briar gekommen, um mich in den Ruin zu stürzen. Ich gehe auf sie zu, um ihr die Hand zu schütteln. Müsstest du nicht erröten oder erzittern oder meinem Blick ausweichen? Doch sie erwidert meinen Blick, und ihre Finger mit den abgekauten Nägeln liegen kalt und hart und ganz ruhig in meinen.

Mrs. Stiles beobachtet uns. Ihr Blick sagt ganz deutlich: »Hier ist das Mädchen, das Sie aus London haben kommen lassen. Ich will meinen, die wird gut genug für Sie sein.«

»Sie brauchen nicht zu warten«, sage ich. Und dann, als Mrs. Stiles sich umdreht, um hinauszugehen: »Aber Sie sind gewiss nett zu Miss Smith gewesen, da bin ich ganz sicher.« Wieder sehe ich Susan an. »Wie du vielleicht schon gehört hast, Susan, bin ich eine Waise, ebenso wie du. Ich bin nach Briar gekommen, als ich noch sehr klein war und niemanden hatte, der sich um mich kümmert. Ich kann dir gar nicht sagen, wie Mrs. Stiles mir seither gezeigt hat, was wahre Mutterliebe bedeutet.«

Ich sage dies mit einem Lächeln. Die Haushälterin meines Onkels zu peinigen ist jedoch eine so alltägliche Beschäftigung, dass ich mich nicht weiter damit aufhalte. Susan fesselt mein Interesse viel mehr, und als Mrs. Stiles errötend hinausgegangen ist, ziehe ich sie heran und führe sie zum Kaminfeuer. Sie kommt mit. Sie setzt sich. Sie ist warm und flink. Ich berühre ihren Arm. Er ist so schmal wie der von Agnes, aber kräftig. Ihr Atem riecht leicht nach Bier. Sie redet. Ihre Stimme klingt gar nicht wie die, die ich im Traum gehört habe, sondern hoch und keck, obgleich sie bemüht ist, ihr einen lieblicheren Klang zu verleihen. Sie erzählt mir von ihrer Reise im Zug von London hierher. Es bereitet mir Verwunderung und Qual zugleich, dass ein solch gewöhnliches, unbedeutendes Ding wie sie ihr ganzes Leben in London verbracht hat, während ich mein Leben in Briar zubringen musste. Aber irgendwie empfinde ich auch Trost – denn wenn sie dort wachsen und gedeihen konnte, könnte ich dann mit all meinen Talenten dort nicht noch viel besser wachsen und gedeihen?

Das sage ich mir insgeheim, während ich ihr ihre Pflichten aufzähle. Wieder sehe ich, wie sie mein Kleid und meine Pantoffeln beäugt, und als ich in ihrem Blick nicht nur Spott, sondern auch Mitleid entdecke, werde ich rot. Ich sage: »Deine vorherige Herrin war bestimmt eine äußerst vornehme Dame? Ich vermute, sie würde lachen, könnte sie mich sehen!«

Meine Stimme ist nicht so ungerührt, wie ich es mir wünsche. Doch sie scheint den bitteren Unterton nicht zu bemerken. Sie antwortet nur: »O nein, Miss, sie war eine viel zu liebenswürdige Dame. Und außerdem pflegte sie stets zu sagen, prächtige Roben wären keinen Pfifferling wert – allein das Herz, das darunter schlägt, zählt.«

Sie scheint davon so eingenommen – als wäre sie auf ihre eigene Geschichte hereingefallen – so unschuldig, kein bisschen gerissen –, dass ich einen Moment lang dasitze und sie nur schweigend ansehe. Dann nehme ich abermals ihre Hand. »Ich glaube, du bist ein gutes Mädchen, Susan«, sage ich. Sie lächelt und macht ein bescheidenes Gesicht.

»Das hat Lady Alice auch immer gesagt«, erwidert sie.

»Hat sie das?«

»Ja, Miss.«

Dann fällt ihr etwas ein. Sie entzieht mir ihre Hand, greift in die Tasche und bringt einen Brief zum Vorschein. Er ist gefaltet, versiegelt und in einer verschnörkelten weiblichen Handschrift adressiert. Natürlich stammt er von Richard. Ich zögere, dann nehme ich ihn – ich erhebe mich und gehe ein paar Schritte. Weit weg von ihren neugierigen Blicken öffne ich ihn.

Keine Namen! steht da – aber ich glaube, du weißt, wer ich bin. Hier ist das Mädchen, das uns reich machen wird – die frische kleine Trickdiebin, deren Dienste ich in der Vergangenheit bereits in Anspruch genommen habe und die ich nur wärmstens empfehlen kann. Sie schaut mir zu, wie ich dies niederschreibe, und ach! sie ist vollkommen ahnungslos. Ich stelle mir vor, wie sie dich jetzt ansieht. Sie ist die Glücklichere von uns beiden, denn ich muss zwei grässliche Wochen hinter mich bringen, ehe ich wieder in den Genuss dieses Vergnügens komme. Verbrenne dies, bist du so gut?

Ich habe mich selbst für ebenso kaltblütig gehalten wie ihn. Ich bin es nicht, ich bin es nicht, ich spüre, wie sie mich ansieht – genau wie er es beschreibt! – und mir wird angst und bange. Ich stehe da mit dem Brief in der Hand, und dann wird mir plötzlich bewusst, dass ich bereits viel zu lange reglos hier stehe. Sollte sie ihn gesehen haben –! Ich falte das Blatt, einmal, zweimal, dreimal – schließlich lässt es sich nicht mehr falten. Ich weiß noch nicht, dass sie nicht lesen und nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben kann. Als ich das erfahre, lache ich auf vor schrecklicher Erleichterung. Aber ich kann es kaum glauben. »Du kannst nicht lesen?«, frage ich. »Nicht ein Wort, nicht einen Buchstaben?« Ich reiche ihr ein Buch. Sie will es nicht nehmen, und als sie es dann doch tut, schlägt sie es auf, blättert eine Seite um, schaut angestrengt auf die Schrift – aber alles auf eine Weise, die ganz verkehrt ist, unbeschreiblich ängstlich und verquer und dabei zu unterschwellig, als dass sie es vortäuschen könnte. Schließlich wird sie rot.

Da nehme ich ihr das Buch wieder ab. »Es tut mir leid«, sage ich. Doch es tut mir nicht leid, ich bin bloß verblüfft. Nicht lesen zu können! Es erscheint mir wie eine fabelhafte Insuffizienz – wie die Unfähigkeit eines Märtyrers oder Heiligen, Schmerz zu empfinden.

Die Uhr schlägt acht und ruft mich zu meinem Onkel. An der Tür halte ich inne. Schließlich muss ich noch errötend eine Bemerkung über Richard fallenlassen. Ich sage, was von mir erwartet wird, und ihr Blick wird, wie er es sollte, zunächst verschlagen und dann wieder ganz klar. Sie sagt mir, wie liebenswürdig er ist. Sie sagt es – abermals –, als glaube sie selbst daran. Vielleicht tut sie das. Vielleicht misst man dort, wo sie herkommt, Liebenswürdigkeit mit einem anderen Maß. Ich spürte die Ecken und Kanten des gefalteten Briefchens, das er mir durch ihre Hand geschickt hat, in der Tasche meines Rockes.

Was sie tut, als sie allein in meinen Zimmer ist, weiß ich nicht, aber ich stelle mir vor, wie sie meine seidenen Kleider betastet, meine Stiefel anprobiert, meine Handschuhe, meine Schärpen. Betrachtet sie meinen Schmuck mit einer Lupe? Vielleicht schmiedet sie bereits Pläne, was sie damit anfangen wird, wenn er erst ihr gehört: Diese Brosche behält sie, aus jener bricht sie die Steine heraus, um sie zu verkaufen, den goldenen Ring, der meinem Vater gehört hat, gibt sie ihrem Liebsten …

»Du bist zerstreut, Maud«, sagt mein Onkel. »Gibt es eine andere Beschäftigung, der du lieber nachgehen würdest?«

»Nein, Sir«, erwidere ich.

»Vielleicht tust du dein bisschen Arbeit nur unwillig. Vielleicht wünschst du dir ja, ich hätte dich damals im Irrenhaus gelassen. Vergib mir: Ich hatte angenommen, ich würde dir einen guten Dienst erweisen, als ich dich von dort wegholte. Vielleicht würdest du lieber unter Wahnsinnigen leben als unter Büchern? Hm?«

»Nein, Onkel.«

Er hält inne. Ich nehme an, er wird sich wieder seinen Aufzeichnungen zuwenden. Aber er redet weiter.

»Es wäre ein Leichtes, Mrs. Stiles herzurufen und dich von ihr zurückbringen zu lassen. Bist du ganz sicher, dass du nicht möchtest, dass ich das tue? Soll ich nach William Inker und dem Einspänner schicken lassen?« Während er spricht, beugt er sich vor und betrachtet mich eingehend, wobei seine schwachen Augen wütend hinter den schützenden Brillengläsern funkeln. Dann hält er wieder inne und lächelt beinahe. »Was würden sie wohl dort in der Anstalt mit dir anfangen? Mit all deinem Wissen?«

Er sagt es ganz langsam, dann murmelt er die Frage noch einmal, als sei sie ein Keks, von dem noch ein paar Krümel unter seiner Zunge kleben. Ich gebe keine Antwort, sondern senke nur den Blick, bis sein Unmut sich gelegt hat und er sich wieder den Blättern auf seinem Schreibtisch zuwendet.

»Soso. Die peitschenden Putzmacherinnen. Lies mir den zweiten Band vor, mit der gesamten Interpunktion, und gib Acht – die Paginierung ist uneinheitlich. Ich schreibe die Reihenfolge hier auf.«

Aus diesem Buch lese ich gerade, als Susan herkommt, um mich zurück zu meinem kleinen Salon zu begleiten. Sie bleibt an der Tür stehen, betrachtet die Wände voller Bücher, die übermalten Fenster. Sie steht unschlüssig bei dem erhobenen Zeigefinger, den mein Onkel als Grenze der Unschuld in Briar hat einsetzen lassen, ebenso wie ich einmal dort stand. Und wie ich damals sieht sie ihn in ihrer Unschuld nicht einmal und versucht, ihn zu überschreiten. Ich muss sie daran hindern, noch dringlicher als mein Onkel! Und während er zetert und schreit, gehe ich behutsam zu ihr hin und lege ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckt vor dieser Berührung zurück.

Ich sage: »Hab keine Angst, Susan.« Ich zeige ihr die Messinghand im Boden. Mir war entfallen, dass es eigentlich ganz gleich war, was sie dort sah, denn für sie ist es ohnehin alles bloß Tinte auf Papier. Als es mir wieder einfällt, bin ich voller Erstaunen – und dann erfüllt mich eine gehässige Art von Neid. Ich muss meine Hand von ihrem Arm nehmen, aus Angst, ich könnte sie kneifen.

Auf dem Weg in mein Zimmer frage ich sie, was sie über meinen Onkel denkt.

Sie glaubt, er arbeite an der Zusammenstellung einer Enzyklopädie.

Gemeinsam sitzen wir bei einem leichten Mittagessen. Ich habe keinen Appetit und reiche meinen Teller an sie weiter. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und sehe zu, wie sie mit dem Daumen am Rand des Porzellans entlangfährt und das Webmuster der Serviette bewundert, die sie über ihre Knie breitet. Sie wirkt wie ein Auktionator, ein Makler: Sie hält jedes Stück des Essbestecks in der Hand, als schätze sie den Wert des Metalls, aus dem es geschmiedet ist. Sie isst drei Eier, löffelt sie rasch aus und stopft sie sich säuberlich in den Mund. Sie erschaudert nicht vor den nachgebenden Eidottern, sie denkt, wenn sie schluckt, nicht darüber nach, wie sich ihr eigener Schlund um das Fleisch schließt. Sie wischt sich die Lippen mit den Fingern, leckt mit der Zungenspitze über einen Fleck auf ihren Fingerknöcheln, dann schluckt sie wieder.

Du bist nach Briar gekommen, denke ich, um mich zu verschlingen. Wobei ich natürlich genau das möchte. Es ist eine Notwendigkeit; sie muss es tun. Und schon jetzt glaube ich spüren zu können, wie ich mein Leben davonfliegen lasse. Ich lasse es so leichtherzig davonfliegen wie ein brennender Docht den Rauch, der das schützende Glas blind werden lässt; wie Spinnen ihre silbernen Fäden fliegen lassen, in denen sie taumelnde Motten einwickeln. Ich stelle mir vor, wie es sich eng um sie legt. Sie weiß es nicht. Sie wird es nicht wissen, bis es zu spät ist – bis sie sich umschaut und erkennt, wie es sie eingekleidet und verändert hat, sie mir ähnlich gemacht hat. Fürs Erste ist Susan nur müde, rastlos, gelangweilt: Ich gehe mit ihr in den Park, und sie folgt mir mit bleiernem Schritt. Wir sitzen beisammen und nähen, und sie gähnt und reibt sich die Augen und starrt ins Leere. Sie kaut an ihren Fingernägeln – bis sie merkt, dass ich sie dabei beobachte. Kurz darauf zieht sie eine Haarsträhne aus ihrer Frisur und beißt auf deren Spitze herum.

»Du denkst an London«, sage ich.

Sie hebt den Kopf. »London, Miss?«

Ich nicke. »Was tun die Damen dort zu dieser Tageszeit?«

»Die Damen, Miss?«

»Damen wie ich.«

Sie schaut sich um. Dann, nach einem Augenblick: »Besuche machen, Miss?«

»Besuche?«

»Bei anderen Damen?«

»Ah.«

Sie weiß es nicht. Sie erfindet es. Ich bin ganz sicher, dass sie es erfindet! Doch ganz gleich, ich denke über ihre Worte nach, und mein Herz pocht plötzlich heftig. Damen, habe ich gesagt, wie ich. Doch es gibt keine Damen wie mich, und einen Augenblick lang habe ich ein klares, erschreckendes Bild vor Augen: ich in London, allein, ohne Besuch –

Doch allein und ohne Besuch bin ich jetzt. Und dort wird Richard bei mir sein; Richard wird mir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Richard will ein Haus für uns mieten, mit Räumen, mit Türen, die man abschließen kann –

»Ist Ihnen kalt, Miss?«, fragt sie. Vielleicht habe ich gezittert. Sie steht auf und bringt mir ein Schultertuch. Ich schaue zu, wie sie geht. Sie läuft diagonal über den Teppich – ohne auf das Muster, die Linien und Rauten und Quadrate zu ihren Füßen zu achten.

Ich schaue ihr zu und beobachte sie. Ich kann mich gar nicht satt daran sehen, wie leicht ihr die alltäglichen Dinge von der Hand gehen. Um sieben Uhr macht sie mich für das Abendessen mit meinem Onkel zurecht. Um zehn Uhr bringt sie mich zu Bett. Danach steht sie in ihrem Zimmer, und ich höre sie seufzen, und ich hebe den Kopf und sehe, wie sie sich streckt und matt zusammensinkt. Im Schein ihrer Kerze sehe ich sie ganz deutlich, doch ich selbst liege im Dunkeln verborgen. Leise geht sie an der Tür vorbei und wieder und wieder – sie bückt sich und hebt ein heruntergefallenes Spitzenband auf – sie nimmt ihren Umhang und bürstet den Schmutz aus seinem Saum. Sie kniet nicht nieder, um zu beten, wie Agnes es getan hat. Sie setzt sich auf ihr Bett, außer Sicht, und hebt die Füße: Ich kann die Spitze eines Schuhs sehen, den sie gegen den Hacken des anderen drückt, um ihn sich vom Fuß zu streifen. Dann steht sie auf, knöpft ihr Kleid auf, lässt es fallen und tritt unbeholfen aus dem Rock heraus. Sie löst ihr Korsett, reibt sich die Taille, seufzt wieder. Nun geht sie fort. Ich hebe den Kopf und folge ihr mit den Augen. Sie kommt in ihrem Nachthemd zurück – zitternd. Ich zittere aus Mitgefühl. Sie gähnt. Ich gähne ebenfalls. Sie streckt sich – genießt das Strecken – freut sich auf den baldigen Schlummer! Nun dreht sie sich um, löscht ihr Licht, klettert ins Bett – wird warm, nehme ich an, und sie schläft ein …

Sie schläft in einer gewissen Unschuld. Das habe ich auch einmal getan. Ich warte einen Augenblick, dann nehme ich das Bild meiner Mutter heraus und halte es dicht an meinen Mund.

Das ist sie, wispere ich. Das ist sie. Nun ist sie deine Tochter!

Wie mühelos es scheint! Doch als ich das Gesicht meiner Mutter weggeschlossen habe, liege ich schlaflos da. Die Uhr meines Onkels erschauert und schlägt. Im Park schreit ein Tier, es klingt wie ein kleines Kind. Ich schließe die Augen und denke, woran ich seit vielen Jahren nicht mehr so lebhaft gedacht habe – an das Irrenhaus, mein erstes Zuhause. An die Frauen mit den verstörten Augen, die Verrückten, und an die Wärterinnen. Ich kann mich an das Zimmer der Wärterinnen erinnern, an die Matten aus Kokosfasern, an den Sinnspruch auf der weißgekalkten Wand: Mein Brot ist, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat. Ich kann mich an eine Treppe zum Dachboden erinnern, daran, auf dem Dach entlanggegangen zu sein, an das weiche Blei unter meinen Fingernägeln, den entsetzlich steilen Abgrund –

Über diesem Gedanken muss ich wohl eingeschlafen und in die tiefsten Schichten der Nacht eingetaucht sein. Doch dann erwache ich – oder vielmehr, ich erwache nicht ganz, kann mich nicht ganz aus dem Sog der Dunkelheit befreien. Denn als ich die Augen öffne, bin ich konfus. Grauen erfüllt mich. Ich sehe meine Gestalt im Bett an, und sie scheint sich zu verwandeln und ganz absonderlich zu sein – mal riesig, dann wieder klein, dann von Lücken durchbrochen, und ich weiß nicht mehr, wie alt ich bin. Ich fange an zu beben. Ich rufe. Ich rufe nach Agnes. Ich habe völlig vergessen, dass sie fort ist. Ich habe Richard Rivers vergessen und all unsere Ränke. Ich rufe nach Agnes, und es scheint, als komme sie zu mir. Doch sie kommt, um mir mein Licht fortzunehmen. Ich bin überzeugt, dass sie das tut, um mich zu bestrafen. »Nimm nicht das Licht fort!«, flehe ich. Doch sie nimmt es mit, sie lässt mich allein in der grauenvollen Dunkelheit, und ich höre Türen quietschen und Füße jenseits des Vorhangs tappen. Es kommt mir vor, als würde sehr viel Zeit vergehen, bevor das Licht zurückkehrt. Doch als Agnes es hebt und mein Gesicht sieht, schreit sie auf.

»Sieh mich nicht an!«, rufe ich. Und dann: »Lass mich nicht allein!« Denn ich habe das Gefühl, bliebe sie nur da, dann würde eine große Gefahr, etwas ganz Grässliches – was, weiß ich nicht, ich kann es nicht benennen – abgewendet, und ich – oder sie – wäre gerettet. Ich berge mein Gesicht an ihrem Hals und ergreife ihre Hand. Doch ihre Hand ist blass, nicht sommersprossig. Ich schaue sie an und erkenne sie nicht.

Mit einer mir fremden Stimme sagt sie: »Ich bin Sue, Miss. Bloß Sue. Sehen Sie mich? Sie haben geträumt.«

»Geträumt?«

Sie berührt meine Wange. Sie streicht mein Haar zurück – nicht wie Agnes, aber wie – wie niemand. Wieder sagt sie: »Ich bin es, Miss, Sue. Agnes hatte Scharlach und ist zurück nach Cork gegangen. Sie müssen sich jetzt hinlegen oder Sie werden sich erkälten. Sie dürfen doch nicht krank werden.«

Einen Moment lang schwimme ich noch in schwarzer Konfusion, dann weicht der Traum mit einem Mal von mir, und ich erkenne sie, und ich erkenne mich – kenne meine Vergangenheit, meine Gegenwart, meine ungewisse Zukunft. Sie ist eine Fremde für mich, und doch ein Teil des Ganzen.

»Verlass mich nicht, Sue!«, sage ich.

Ich spüre, wie sie zögert. Als sie sich mir entziehen will, packe ich sie noch fester. Doch sie hat sich nur bewegt, um über mich hinwegzusteigen, und sie kriecht unter die Decke und liegt neben mir, den Arm um mich geschlungen, den Mund an meinem Haar.

Ihr ist kalt, und wegen ihr wird auch mir kalt. Ich zittere, doch bald liege ich ganz still. »So«, sagt sie da. Sie murmelt es. Ich spüre ihren Atem und tief an meinem Wangenknochen das Brummen ihrer Stimme. »So ist’s gut. Nun schlafen Sie – nicht wahr? Braves Mädchen.«

Braves Mädchen, sagt sie. Wie lange ist es schon her, seit in Briar jemand geglaubt hat, ich sei ein braves Mädchen? Doch sie glaubt es. Sie muss daran glauben, damit unser Plan gelingen kann. Ich muss ein braves Mädchen sein, liebenswürdig und naiv. Heißt es nicht, jemand, der brav und anständig ist, habe ein goldenes Herz? Ich bin also wie Gold für sie. Sie ist hergekommen, mich in den Ruin zu stürzen, doch noch ist es nicht soweit. Fürs Erste muss sie mich bewachen, mich heil und gesund erhalten, wie einen Schatz von Münzen, den sie am Ende zu verschleudern gedenkt –

Ich weiß es, aber ich kann es nicht empfinden. Ich schlafe in ihren Armen, traumlos und ruhig, und als ich erwache, fühle ich mich warm und geborgen in ihrer Nähe. Sie rückt ab, als sie spürt, dass ich mich rege. Sie reibt sich die Augen. Ihr Haar ist offen und mischt sich mit meinem. Ihr Gesicht hat im Schlaf fast all seine Schärfe verloren. Ihre Stirn ist glatt, die Wimpern puderig, ihr Blick, als er meinem begegnet, ganz klar, frei von Spott oder Arglist … Sie lächelt. Sie gähnt. Sie steht auf. Die Decke hebt sich und senkt sich wieder, und säuerliche Wärme strömt heraus. Ich liege da, und die Ereignisse der Nacht fallen mir wieder ein. Irgendein Gefühl – Scham oder panische Angst – umflattert mein Herz. Ich lege die Hand auf die Stelle, an der sie gelegen hat, und es fühlt sich kühl an.

Sie ist anders zu mir. Sie ist selbstsicherer, freundlicher. Margaret bringt Wasser herein, und Susan füllt eine Schale für mich. »Bereit, Miss?«, fragt sie. »Benutzen sie es lieber rasch.« Sie befeuchtet ein Tuch und wringt es aus, und als ich aufstehe und mich entkleide, fährt sie mir damit unaufgefordert durch das Gesicht und unter die Achseln. In ihren Augen bin ich zu einem Kind geworden. Auf ihr Geheiß muss ich mich hinsetzen, damit sie mir das Haar bürsten kann. Tadelnd sagt sie: »Was für ein Gewirr! Der Kniff besteht darin, ganz unten anzufangen …«

Agnes hat mich immer mit flinken, unruhigen Fingern gewaschen und angekleidet und ist jedes Mal zusammengezuckt, wenn der Kamm sich verfing. Einmal habe ich sie mit einem Pantoffel geschlagen – so fest, dass sie blutete. Nun sitze ich geduldig da, die Augen auf mein Gesicht im Spiegel gerichtet, und lasse mir von Susan – Sue nannte sie sich selbst in der letzten Nacht – die Knoten aus dem Haar kämmen …

Braves Mädchen.

Als sie fertig ist, sage ich: »Danke, Sue.«

Das sage ich oft in den folgenden Tagen und Nächten. Zu Agnes habe ich es nie gesagt. »Danke, Sue.« »Ja, Sue«, wenn sie mich bittet, mich zu setzen oder aufzustehen, einen Arm oder ein Bein zu heben. »Nein, Sue«, wenn sie fürchtet, mein Kleid könne mich kneifen.

Nein, mir ist nicht kalt. – Aber sie mustert mich gerne, wenn wir zusammen spazieren gehen, um sich zu vergewissern. Sie zieht meinen Umhang am Hals etwas enger zusammen, um mich vor Zugluft zu schützen. Nein, meine Stiefel werden nicht feucht vom Tau. – Aber sie fährt mit dem Finger zwischen meinen bestrumpften Knöchel und das Leder des Schuhs, nur der Vorsicht halber. Ich darf mich um keinen Preis erkälten. Ich darf mich nicht verausgaben. »Glauben Sie nicht, der Spaziergang war lang genug, Miss?« Ich darf nicht krank werden. »Hier steht noch Ihr ganzes Frühstück, Sie haben es nicht angerührt. Möchten Sie nicht ein bisschen davon essen?« Ich darf nicht zu dünn werden. Ich bin eine Gans, die gut genährt sein muss, damit es sich lohnt, sie zu schlachten.

Doch obgleich sie das nicht weiß, ist sie es natürlich, die gut genährt sein muss – sie, die mit der Zeit lernen wird, zu schlafen, zu essen, aufzustehen, sich anzuziehen, spazieren zu gehen, alles nach einem bestimmten Muster, im Takt vorgegebener Zeiten und Glockenschläge. Sie glaubt, mir meinen Willen zu lassen. Sie glaubt, mich zu bedauern! Sie lernt die Sitten des Hauses und versteht dabei nicht, dass eben jene Gewohnheiten und Gegebenheiten, die mich heute binden, schon bald sie binden werden. Sie binden werden in marokkanisches Leder oder Kalbsleder … Ich habe mir angewöhnt, mich als eine Art Buch zu betrachten. Und nun fühle ich mich wirklich wie ein Buch, so wie Bücher wohl auf sie wirken müssen: Sie sieht mich mit ihren unbelesenen Augen an, sieht die Form, begreift aber nicht die Bedeutung des Geschriebenen. Sie bemerkt meine weiße Haut – »Sie sind aber blass!« –, aber nicht das pulsierende, verdorbene Blut darunter.

Ich sollte es nicht tun. Aber ich kann nicht anders. Die Vorstellung ist einfach unwiderstehlich für mich – ihre Vorstellung von mir als einer Unschuld vom Lande, einem Opfer der Umstände, anfällig für Alpträume. Die Alpträume bleiben aus, seit sie an meiner Seite schläft, und so finde ich immer wieder Wege, sie in mein Bett zu locken, eine zweite Nacht und eine dritte. Schließlich wird es ihr zur Gewohnheit. Zunächst halte ich sie für argwöhnisch, doch es sind nur der Betthimmel und die Vorhänge, die ihr Sorge bereiten. Jedes Mal steht sie da, die Kerze in der erhobenen Hand, und lugt in die Falten des Stoffes. »Denken Sie nicht«, sagt sie, »an die Motten und Spinnen, Miss, die dort oben sein könnten und nur darauf warten, sich herabfallen zu lassen?« Sie packt einen der Bettpfosten und rüttelt daran: In einer Staubwolke purzelt ein einzelner Käfer herab.

Als sie sich einmal daran gewöhnt hat, liegt sie jedoch ganz behaglich da. Und so hübsch und ruhig wie sie sich zurechtlegt, schließe ich, dass sie daran gewöhnt sein muss, das Bett mit jemandem zu teilen, und ich frage mich, mit wem wohl.

»Hast du Schwestern, Sue?«, frage ich sie einmal, vielleicht eine Woche nach ihrer Ankunft. Wir gehen am Fluss spazieren.

»Nein, Miss.«

»Brüder?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortet sie.

»Und du bist – wie ich – ganz allein aufgewachsen?«

»Nun ja, Miss, ganz allein wohl nicht … sozusagen mit Cousins und Cousinen rings umher.«

»Cousins und Cousinen. Du meinst, die Kinder deiner Tante?«

»Meiner Tante?« Sie schaut verständnislos.

»Deiner Tante, Mr. Rivers’ Kindermädchen.«

»Ach so!« Sie blinzelt. »Ja, Miss. Ganz genau …«

Sie wendet sich ab, und ihr Blick geht ins Leere. Sie denkt an ihr Zuhause. Ich versuche, es mir auszumalen. Ich versuche, mir ihre Cousins und Cousinen vorzustellen: raubeinige Jungs und Mädchen mit scharfkantigen Gesichtszügen wie ihren und langen Fingern – Sues Finger jedoch sind stumpf, obwohl ihre Zunge – manchmal, wenn sie mein Haar hochsteckt oder die Stirn runzelt über rutschende Bänder, sieht man sie – sehr spitz ist. Ich sehe zu, wie sie seufzt.

»Mach dir nichts draus«, sage ich – wie jede freundliche Herrin mit einer unglücklichen Zofe. »Sieh nur den Kahn dort. Du kannst ihm deine Grüße mitschicken. Wir können beide unsere Grüße nach London schicken.« Nach London, denke ich wieder, etwas finsterer. Richard ist dort. In einem Monat werde auch ich dort sein. »Die Themse wird sie mitnehmen, wenn schon nicht das Boot.«

Sie sieht jedoch nicht den Kahn an, sondern mich. »Die Themse?«

»Der Fluss«, erwidere ich. »Dieser Fluss dort.«

»Dieses armselige Rinnsal soll die Themse sein? O nein, Miss.« Sie lacht verunsichert. »Die Themse ist sehr breit« – sie breitet die Arme aus –, »und dieser Bach ist sehr klein. Verstehen Sie?«

Worauf ich erwidere, dass ich schon immer angenommen habe, Flüsse müssten breiter werden, je weiter sie fließen.

Sie schüttelt den Kopf. »Dieses Rinnsal?«, sagt sie abermals. »Also, das Wasser, das bei uns aus dem Hahn fließt, ist lebendiger als das hier. Dort, Miss! Schauen Sie dort!« Der Kahn fährt an uns vorüber. An seinem Heck steht in großen Lettern ROTHERHITHE, doch Sue zeigt nicht darauf, sondern auf den Schwall von Öl im Kielwasser, der sich aus dem stotternden Motor ergießt. »Sehen Sie das?«, ruft sie aufgeregt. »So sieht die Themse aus. So sieht die Themse aus – an jedem Tag des Jahres. Sehen Sie nur all die Farben. Tausend verschiedene Farben …«

Sie lächelt. Wenn sie lächelt, ist sie beinahe hübsch. Dann verdünnt sich der Ölschwall, das Wasser färbt sich braun, und ihr Lächeln verblasst, und sie sieht wieder aus wie eine gewöhnliche Diebin.

Sie müssen verstehen, ich bin entschlossen, Sue zu verachten. Denn wie sonst wäre ich in der Lage zu tun, was ich tun muss? Wie sonst könnte ich sie täuschen und ihr Leid zufügen? Es ist nur so, dass wir so lange in dieser Abgeschiedenheit zusammenhocken. Wir werden einander zwangsläufig vertraut. Und Sues Vorstellung von Vertrautheit ist anders als die von Agnes oder überhaupt anderer Zofen. Sie ist zu frank, zu ungezwungen, zu frei. Sie gähnt freimütig, sie steht nicht gerade. Sie reibt an Schrunden und Schrammen. Sie sitzt da und pult an einem verschorften Schnitt auf ihren Fingerknöcheln herum, während ich nähe. Dann fragt sie mich: »Haben Sie mal eine Nadel für mich, Miss?«, und wenn ich ihr die Nadel aus meinem Nähkästchen reiche, bringt sie zehn Minuten damit zu, mit ihr in der Haut auf ihrem Handrücken herumzustochern. Dann gibt sie mir die Nadel zurück.

Aber sie gibt sie mir stets so zurück, dass die Spitze von meinen weichen Fingern fort zeigt. »Tun Sie sich nicht weh«, sagt sie dann immer – so schlicht, so freundlich, dass ich ganz vergesse, dass sie mich nur um Richards willen behütet. Ich glaube, auch sie vergisst es manchmal.

Eines Tages nimmt sie während eines Spaziergangs meinen Arm. Für sie ist das nichts Ungewöhnliches, doch ich spüre den Schrecken wie eine Ohrfeige. Ein andermal, als wir eine Weile dagesessen haben, klage ich, dass meine Füße kalt geworden seien. Sie kniet nieder, schnürt meine Pantoffeln auf, nimmt meine Füße, hält und reibt sie – schließlich beugt sie den Kopf darüber und bläst mir ihren warmen Atem auf die Zehen. Sie fängt an, mich nach ihrem Geschmack zu kleiden. Sie verändert kleine Details an meinen Kleidern, meinem Haar, in meinen Zimmern. Sie bringt Blumen herein: Sie wirft die aufgerollten Blätter, die in einer Vase auf dem Tisch in meinem Salon stehen, fort, und sie entdeckt Primeln in den Hecken im Park meines Onkels, die sie an deren Stelle dort platziert. »Natürlich bekommt man hier auf dem Land nicht solche Blumen wie in London«, erklärt sie, als sie den Strauß in der Glasvase arrangiert, »aber diese sind doch auch ganz hübsch, nicht wahr?«

Sie sagt Margaret, Mr. Way solle mehr Kohlen für mein Kaminfeuer heranschleppen. Es ist so einfach! Und doch ist bisher niemand, nicht einmal ich selbst auf die Idee gekommen, und so habe ich sieben Winter hindurch gefroren. Die Wärme lässt die Fenster beschlagen. Sue steht gerne davor und malt Kringel und Herzen und Spiralen auf die Scheiben.

Einmal begleitet sie mich zurück vom Zimmer meines Onkels, und auf dem Esstisch sind Spielkarten ausgebreitet. Die Karten gehörten meiner Mutter, vermute ich, denn dies waren ihre Zimmer, und sie sind voll von ihren Sachen. Einen Moment lang beunruhigt mich die Vorstellung, dass meine Mutter tatsächlich hier war – hier umherging, hier saß und die farbigen Karten auf dem Tischtuch ausbreitete. Meine Mutter, noch unverheiratet, noch bei Sinnen – vielleicht stützt sie das Kinn müßig in die Hand, vielleicht seufzt sie – und wartet, wartet …

Ich nehme eine Karte auf. Sie gleitet mir durch die Handschuhe. Aber in Sues Händen verwandelt sich das Kartenspiel: Sie sammelt die Karten ein und sortiert sie, mischt und teilt sie aus, geschickt und behände. Und das Gold und das Rot leuchten lebhaft zwischen ihren Fingern auf wie Juwelen. Natürlich ist sie erstaunt, als sie erfährt, dass ich keinerlei Kartenspiele kenne, und sogleich muss ich mich hinsetzen, damit sie es mir beibringen kann. Bei ihren Spielen zählen Glück und einfache Taktik, doch sie spielt ernsthaft, fast begierig – sie legt den Kopf schief und kneift die Augen zusammen, wenn sie ihre aufgefächerten Karten betrachtet. Wenn ich des Spielens überdrüssig werde, spielt sie allein – oder sie stellt die Karten auf die Kanten und lehnt sie aneinander und errichtet ein stetig wachsendes Gebilde – eine Art Pyramide aus Karten – wobei sie für die oberste Spitze stets einen König und eine Dame aufhebt.

»Sehen Sie her«, sagt sie dann, wenn sie fertig ist. »Sehen Sie her, Miss. Sehen Sie?« Dann löst sie eine Karte aus dem Fundament der Pyramide, und während das ganze Gebäude in sich zusammenfällt, lacht sie.

Sie lacht. Es klingt fehl am Platze hier in Briar, so wie es in einem Gefängnis oder in einer Kirche fehl am Platze wäre. Manchmal singt sie auch. Einmal sprechen wir über das Tanzen. Sie steht auf und rafft ihren Rock, um mir die Schritte zu zeigen. Dann zieht sie mich auf die Füße und dreht und dreht mich im Kreis herum, und dort, wo sie sich gegen mich drückt, spüre ich das immer raschere Pochen ihres Herzens – ich spüre, wie es von ihr auf mich überspringt und zu meinem wird.

Dann lasse ich mir von ihr einen Zahn mit einem silbernen Fingerhut glätten.

»Lassen Sie mich mal sehen«, sagt sie. Sie hat gemerkt, wie ich mir die Wange reibe. »Kommen Sie ins Licht.«

Ich stehe am Fenster und lege den Kopf in den Nacken. Ihre Hand ist warm, ihr Atem – in dem man die Hefe des Biers riechen kann – ebenso. Sie steckt mir den Finger in den Mund und betastet meinen Gaumen.

»Also, der ist ja spitzer –«, sagt sie und zieht die Hand zurück, »spitzer als –«

»Als der Giftzahn einer Schlange, Sue?«

»Als eine Nadel, wollte ich sagen, Miss.« Sie sieht sich um. »Haben Schlangen Zähne, Miss?«

»Müssen sie wohl, da sie ja angeblich beißen.«

»Das stimmt«, erwidert sie zerstreut. »Ich hatte sie mir bloß zahnloser vorgestellt …«

Sie ist in mein Ankleidezimmer gegangen. Durch die offene Tür sehe ich das Bett und darunter, weit nach hinten geschoben, den Nachttopf. Sie hat mich mehr als einmal ermahnt, Porzellan könne unter den Zehen zerbrechen, wenn man unachtsam aus dem Bett steige, und davon könne man lahm werden. Sie hat mich zur Vorsicht gemahnt und gesagt, ich solle mich davor hüten, mit bloßen Füßen auf Haare zu treten, da Haare wie Würmer in die Haut eindringen und sich hineinfressen können, und ich solle mir die Wimpern nicht mit verunreinigtem Rizinusöl färben und nicht – um mich zu verstecken oder auf der Flucht – leichtsinnig auf Schornsteine klettern. Nun durchstöbert sie die Dinge auf meiner Frisierkommode und sagt nichts mehr. Ich warte, dann rufe ich nach ihr.

»Kennst du niemanden, der an einem Schlangenbiss gestorben ist, Sue?«

»An einem Schlangenbiss, Miss?« Mit gerunzelter Stirn erscheint sie wieder. »In London? Meinen Sie vielleicht im Zoo?«

»Na ja, womöglich im Zoo.«

»Kann ich nicht behaupten.«

»Merkwürdig. Ich war mir ganz sicher, du würdest jemanden kennen.«

Ich lächele, obgleich sie keine Miene verzieht. Dann zeigt sie mir, was sie in der Hand hat: einen Fingerhut. Da verstehe ich erst, was sie vorhat, und womöglich schaue ich sie zweifelnd an.

»Es tut nicht weh«, versichert sie, als sie mein Gesicht sieht.

»Bist du sicher?«

»Ja, Miss. Wenn ich Ihnen weh tue, dürfen Sie schreien, und dann höre ich auf.«

Es tut nicht weh, und ich schreie auch nicht. Aber es sorgt für ein seltsames Gewirr von Empfindungen: das Reiben des Metalls, der Druck ihrer Hand, die meinen Kiefer hält, ihr sanfter Atem. Während sie den Zahn betrachtet, an dem sie feilt, kann ich nirgendwo anders hinschauen als in ihr Gesicht, und so schaue ich ihr in die Augen: in dem einen ist, wie mir jetzt erst auffällt, ein Fleck in einem dunkleren Braunton, fast schon Schwarz. Ich betrachte ihr glattes Kinn, ihr hübsches Ohr mit dem durchstochenen Ohrläppchen, an dem sie Kreolen und andere Ohrgehänge tragen kann. »Wie durchsticht man die?«, habe ich sie einmal gefragt, bin ganz nahe herangetreten und habe die kleinen Grübchen in der zarten Haut mit den Fingerspitzen berührt. »Na, mit einer Nadel, Miss«, hat sie geantwortet, »und einem Stückchen Eis …« Der Fingerhut schabt weiter. Sie lächelt. »Meine Tante macht das so bei den ganz kleinen Kindern«, sagt sie, während sie weiterfeilt. »Vermutlich hat sie das auch bei mir gemacht. Fast fertig! Ha!« Sie schmirgelt etwas langsamer, dann hält sie inne und betastet den Zahn. Dann reibt sie weiter. »Natürlich eine schwierige Sache bei einem Säugling. Denn wenn man mit dem Fingerhut abrutscht – na ja. Ich weiß von einigen, die auf diese Weise verloren gingen.«

Ich weiß nicht, ob sie Fingerhüte meint oder Säuglinge. Ihre Finger und meine Lippen werden langsam feucht. Ich schlucke. Ich schlucke noch einmal. Meine Zunge hebt sich und drückt gegen ihre Hand. Ihre Hand scheint mit einem Mal viel zu groß, viel zu sonderbar, und ich denke an das angelaufene Silber – ich glaube, mein Atem hat den Belag nassgemacht und nun läuft er herunter, ich glaube, ich kann ihn schmecken. Hätte sie den Zahn noch ein wenig länger bearbeitet, hätte ich womöglich eine Angstattacke erlitten. Doch nun wird das Reiben des Fingerhuts abermals langsamer, und bald hört es ganz auf. Wieder probiert sie mit ihrem Daumen, hält meinen Kiefer noch einen Augenblick fest, und dann tritt sie zurück.

Als sie mich loslässt, habe ich zunächst ganz weiche Knie. So fest hat sie mich gehalten und so lange, dass die kalte Luft mich wie ein Schlag ins Gesicht trifft, als sie ihre Hand fortnimmt. Ich schlucke, dann fahre ich mit der Zunge über den abgeschmirgelten Zahn. Ich wische mir über die Lippen. Ich sehe ihre Hand: Ihre Knöchel haben rote und weiße Abdrücke von meinem Mund, auch auf ihrem Finger sind Abdrücke, und der Fingerhut steckt noch darauf. Das Silber strahlt – es ist nicht angelaufen, ganz und gar nicht. Was ich gekostet habe, oder mir eingebildet habe zu kosten, war ihr Geschmack, sonst nichts.

Darf eine Dame die Finger ihrer Zofe kosten? In den Büchern meines Onkels darf sie es. Der Gedanke treibt mir die Röte auf die Wangen.

Als ich so dastehe und peinlich berührt spüre, wie mir das Blut in die Wangen steigt, kommt eines der Mädchen an die Tür, einen Brief von Richard in der Hand. Ich habe vergessen, ihn zu erwarten. Ich habe vergessen, an unseren Plan zu denken, an unsere Flucht, unsere Hochzeit, das drohend emporragende Tor der Irrenanstalt. Ich habe vergessen, an ihn zu denken. Jetzt aber muss ich an ihn denken. Ich nehme den Brief und breche mit zitternden Händen das Siegel.

Bist Du ebenso ungeduldig wie ich?, schreibt er. Ich weiß, dass Du es bist. Ist sie jetzt bei Dir? Siehst Du ihr Gesicht? Mach ein glückliches Gesicht. Lächele, kichere, all das. Unser Warten ist vorüber. Meine Geschäfte in London sind erledigt, und ich komme!