KAPITEL 10
Der Brief hat auf mich die gleiche Wirkung wie das Fingerschnippen eines Hypnotiseurs: Ich zucke zusammen und sehe mich mit einem Schwindelgefühl um, als erwachte ich aus tiefer Trance. Ich betrachte Sue: ihre Hand, auf der noch der Abdruck meines Mundes ist. Ich betrachte die Kissen auf meinem Bett, auf denen noch die Dellen unserer beiden Köpfe zu sehen sind. Ich betrachte die Blumen in der Vase auf dem Tisch, das Feuer im Kamin. Es ist zu warm im Zimmer. Es ist zu warm im Zimmer und doch zittere ich, als fröre ich. Sie sieht es. Sie schaut mich an und weist mit dem Kopf auf das Blatt Papier in meiner Hand. »Gute Nachrichten, Miss?«, fragt sie. Es scheint, als habe der Brief auf sie den gleichen Effekt wie auf mich: denn ihre Stimme klingt hoch in meinem Ohr – schrecklich hoch –, und ihr Gesicht wirkt sehr scharfgeschnitten. Sie legt den Fingerhut fort, doch sie sieht mich unentwegt an. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen.
Richard kommt. Spürt sie es, so wie ich es spüre? Sie lässt sich nichts anmerken. Sie wirkt so unbefangen wie zuvor. Sie isst ein leichtes Mittagessen. Sie holt die Spielkarten meiner Mutter hervor und beginnt geduldig, die Karten für ein Solitärspiel auszulegen. Ich stehe vor dem Spiegel und sehe darin, wie sie nach einer Karte greift, sie aufnimmt und hinlegt, sie umdreht, eine weitere nimmt, bis zu den Königen hinauf, dann die Asse herauszieht … Ich betrachte mein Gesicht und denke darüber nach, was es zu dem meinen macht: die besondere Rundung der Wange, die Lippen, zu voll, zu prall, zu rosarot.
Schließlich sammelt sie die Karten wieder ein und sagt, wenn ich die Karten mischte und festhielte und mir etwas wünschte, dann würde sie für mich in den Karten lesen und mir die Zukunft voraussagen. Sie sagt es ohne augenscheinliche Ironie, und unwillkürlich zieht es mich an ihre Seite, und ich setze mich neben sie und mische die Karten unbeholfen, und sie nimmt sie und legt sie aus. »Diese Karten zeigen die Vergangenheit«, erklärt sie, »und diese die Gegenwart.« Ihre Augen weiten sich. Sie kommt mir mit einem Mal sehr jung vor. Einen Augenblick lang stecken wir die Köpfe zusammen und flüstern, was andere, ganz gewöhnliche Mädchen in ganz gewöhnlichen Salons oder Schulen oder Spülküchen bestimmt auch flüstern: Dies steht für einen jungen Mann, sehen Sie nur, auf einem Pferd. Dies steht für eine Reise. Dies ist die Karokönigin, sie steht für Reichtum –
Ich habe eine Brosche, die mit Brillanten besetzt ist. Plötzlich kommt sie mir in den Sinn. Ich stelle mir vor, wie Sue die Edelsteine voller Besitzerstolz anhaucht und ihren Wert schätzt …
Letztlich sind wir aber keine gewöhnlichen Mädchen in einem gewöhnlichen Salon, und sie interessiert sich nur insofern für mein Vermögen, als sie annimmt, es werde einmal das ihre. Ihre Augen verengen sich wieder. Ihre Stimme erhebt sich aus dem Flüstern und klingt nur noch frech. Ich rücke von ihr ab, während sie die Karten wieder einsammelt, sie in ihrer Hand umdreht und ein verärgertes Gesicht zieht. Sie hat eine der Karten fallenlassen, es aber noch nicht bemerkt. Es ist die Herz Zwei. Ich stelle meinen Absatz darauf, wobei ich mir vorstelle, eines der aufgemalten roten Herzen sei mein eigenes, und trete die Karte in den Teppich.
Sue findet die Karte, als ich aufgestanden bin, und versucht den Knick zu glätten, dann legt sie Patiencen, ebenso verbissen wie zuvor.
Ich schaue wieder auf ihre Hände. Sie sind weißer geworden und um die Nägel herum verheilt. Sie sind klein, und in Handschuhen werden sie noch kleiner wirken und aussehen wie meine. Es muss getan werden. Ich hätte es schon früher tun sollen. Richard kommt, und das Gefühl, meinen Pflichten nicht nachgekommen zu sein, überfällt mich: ein panisches Gefühl, dass Stunden, Tage – dunkle, sich windende Fische der Zeit – mir durch die Hände geglitten sind, ohne dass ich zugefasst hätte. Ich verbringe die Nacht in größter Sorge. Als wir dann aufstehen und Sue mich anzieht, zupfe ich an den Rüschen am Ärmel ihres Kleides herum.
»Hast du kein anderes Kleid«, frage ich, »als dieses schlichte braune Ding, das du unentwegt trägst?«
Sie verneint. Also nehme ich ein Samtkleid aus meinem Schrank und lasse sie es anprobieren. Unwillig entblößt sie die Arme, tritt aus dem Rock und wendet sich aus einer gewissen Scham heraus ab. Das Kleid ist zu eng. Ich zerre an den Häkchen. Ich ordne die Stoffalten um ihre Hüften, dann gehe ich zu meiner Schatulle, nehme eine Brosche heraus – die Brillantbrosche – und stecke sie vorsichtig über ihrem Herzen fest.
Dann stelle ich sie vor den Spiegel.
Margaret kommt herein und hält Sue für mich.
Ich habe mich an Sue gewöhnt, an ihre Lebendigkeit, ihre Wärme, ihre Eigenheiten. Sie ist nicht mehr das leichtgläubige Mädchen aus einer schurkischen Intrige – nicht Suky Tawdry –, sondern ein Mädchen mit einer Geschichte, mit Vorlieben und Abneigungen. Nun sehe ich mit einem Mal, wie ähnlich sie mir werden wird, im Gesicht und in der Figur, und es ist, als verstünde ich zum ersten Mal, was Richard und ich zu tun beabsichtigen. Ich lehne die Stirn gegen den Bettpfosten und beobachte, wie sie sich selbst mit wachsender Zufriedenheit betrachtet, sich ein wenig nach links, ein wenig nach recht dreht, die Knitterfalten aus dem Rock streicht und ihren Körper ein wenig behaglicher in den Säumen des Kleides zurechtrückt. »Wenn mein Tantchen mich sehen könnte!«, ruft sie zart errötend. Und da denke ich darüber nach, wer wohl in dem düsteren Diebesversteck in London auf sie wartet: die Tante, die Mutter oder die Großmutter. Ich denke daran, wie ruhelos sie wohl sein muss, während sie die Tage zählt, die ihre kleine Trickdiebin noch wegen gefährlicher Geschäfte weit fort von zu Hause verbringen muss. Ich stelle mir vor, wie sie, während sie wartet, irgendeine Kleinigkeit von Sue hervorholt – eine Schärpe, eine Halskette, ein billiges Armband mit kleinen Glücksbringern – und sie in den Händen um- und umdreht …
Sie wird sie in alle Ewigkeit umdrehen, auch wenn sie es noch nicht weiß. Ebenso wenig wie Sue vermutet, dass das letzte Mal, als sie die harte Wange ihrer Tante küsste, es das letzte Mal in ihrem ganzen Leben sein würde.
Ich denke darüber nach und werde von einem Gefühl gepackt, das wohl Mitleid sein muss. Es ist drückend, schmerzhaft, überraschend: Ich empfinde es und fürchte mich. Fürchte mich davor, welchen Preis ich wohl für meine Zukunft zahlen muss. Fürchte mich vor dieser Zukunft selbst und vor den unbekannten, unbeherrschbaren Gefühlen, die mich überkommen könnten.
Sue weiß das nicht. Und Richard darf es auch nicht wissen. Er kommt an jenem Nachmittag – er kommt wie in jenen Tagen, als Agnes noch da war. Er nimmt meine Hand, schaut mir tief in die Augen, verbeugt sich, um meine Fingerknöchel zu küssen. »Miss Lilly«, sagt er in zärtlichem Ton. Er ist dunkel gekleidet, adrett, und doch trägt er seine Tollkühnheit, sein Selbstbewusstsein wie ein schillerndes Gewand, wie Wirbel aus bunter Farbe oder Parfum. Ich spüre die Hitze seines Mundes selbst durch meine Handschuhe hindurch. Dann dreht er sich zu Sue um, und sie macht einen Knicks. Das steife Kleid mit dem Schnürmieder ist jedoch nicht gedacht, darin zu knicksen: Sie geht unbeholfen in die Knie, die Rüschen des Rockes geraten durcheinander, es scheint, als schüttelten sie sich. Ihr steigt das Blut zu Kopf. Ich sehe sein Lächeln, als er es bemerkt. Doch ich sehe auch, dass er das Kleid bemerkt und vielleicht auch, wie weiß ihre Finger geworden sind.
»Ich hätte sie beinahe für eine Dame gehalten«, sagt er zu mir. Er geht zu Sue hinüber. Er wirkt groß und dunkler denn je, wie ein Bär. Und sie wirkt ganz zierlich. Er nimmt ihre Hand, seine Finger gleiten über ihre: Auch sie wirken groß, sein Daumen reicht fast bis an ihr Handgelenk. Er sagt: »Ich hoffe, du erweist dich deiner neuen Herrin als gutes Mädchen.«
Sie starrt auf den Boden. »Das hoffe ich auch, Sir.«
Ich mache einen Schritt auf sie zu. »Sie ist ein sehr gutes Mädchen«, sage ich. »Wirklich ein sehr gutes Mädchen.« Doch meine Worte klingen zu hastig, zu unsicher.
Richard wirft mir einen vielsagenden Blick zu, nimmt seinen Daumen fort. »Natürlich«, sagt er galant, »sie kann ja gar nicht anders – kein Mädchen könnte anders sein als gut, Miss Lilly – mit Ihnen zum Vorbild.«
»Sie sind zu freundlich«, sage ich.
»Kein Gentleman könnte anders«, murmelt er, »wenn er zu Ihnen freundlich sein darf.«
Er schaut mich unverwandt an. Er hat mich auserwählt, in mir Übereinstimmungen gefunden, er beabsichtigt, mich Briar unversehrt aus dem Herzen zu reißen. Und ich wäre nicht ich selbst, wäre nicht die Nichte meines Onkels, könnte ich den Blick, den er mir jetzt zuwirft, ungerührt erwidern, ohne in meiner eigenen Brust zu spüren, wie sich, dunkel und schrecklich, eine Art von Erregung ausbreitet. Das Gefühl ist überwältigend, und beinahe wird mir schwindelig. Ich lächele, doch das Lächeln ist aufgesetzt.
Sue legt den Kopf schief. Glaubt sie, ich lächele meinen Liebsten an? Dieser Gedanke macht mein Lächeln noch verkrampfter, und mein Hals beginnt zu schmerzen. Ich weiche ihrem Blick aus und auch seinem. Richard geht, winkt sie dann jedoch zu sich, und sie stehen einen Augenblick murmelnd zusammen an der Tür. Er gibt ihr eine Münze – ich sehe sie goldgelb aufblitzen –, er drückt sie ihr in die Hand, schließt ihre Finger darum. Seine Fingernägel zeichnen sich braun gegen das frische Rosa ihrer Hand ab. Sie versucht sich an einem weiteren ungelenken Knicks.
Nun ist mein Lächeln so starr wie die Grimasse auf dem Gesicht einer Leiche. Als Sue sich wieder umdreht, bringe ich es nicht über mich, sie anzusehen. Ich gehe in mein Ankleidezimmer und schließe die Tür, werfe mich bäuchlings aufs Bett, und ein Lachen packt und schüttelt mich – ein grässliches Lachen, das lautlos durch mich hindurchströmt wie schmutziges Wasser. Ich bebe und bebe und irgendwann liege ich dann endlich still.
»Wie finden Sie Ihr neues Mädchen, Miss Lilly?«, fragt Richard mich beim Abendessen, die Augen auf seinen Teller gerichtet. Er ist dabei, vorsichtig das Fleisch von den Gräten eines Fisches zu lösen; die Gräten sind so bleich und fein, dass sie fast durchschimmernd sind, und das Fleisch ist mit einer langsam fest werdenden Schicht aus Butter und Soße bedeckt. Unser Essen kommt im Winter stets kalt auf den Tisch. Im Sommer ist es zu heiß.
Ich sage: »Sehr … folgsam, Mr. Rivers.«
»Glauben Sie, dass sie für Ihre Zwecke geeignet ist?«
»Ich glaube ja.«
»Sie haben also keinen Anlass zur Klage über meine Empfehlung?«
»Nein.«
»Nun, ich bin erleichtert, das zu hören.«
Er sagt stets zu viel, nur um seines Vergnügens willen. Mein Onkel beobachtet uns argwöhnisch. »Worum geht es?«, fragte er nun.
Ich wische mir den Mund. »Um meine neue Zofe, Onkel«, antworte ich. »Miss Smith, die anstelle von Miss Fee gekommen ist. Du hast sie schon des Öfteren gesehen.«
»Wohl eher gehört, wie sie mit den Sohlen ihrer Stiefel gegen die Tür meiner Bibliothek tritt. Was ist mit ihr?«
»Sie ist auf Mr. Rivers’ Empfehlung zu mir gekommen. Er hat sie in London auf der Suche nach einer Stellung angetroffen und die Freundlichkeit besessen, an mich zu denken.«
Mein Onkel bewegt seine Zunge. »Hat er das?«, sagt er langsam. Er sieht von mir zu Richard, von Richard wieder zurück zu mir, das Kinn ein wenig angehoben, als würde er dunkle Schwingungen empfangen. »Miss Smith, sagst du?«
»Miss Smith«, wiederhole ich unbeirrt, »die anstelle von Miss Fee gekommen ist.« Ich säubere mein Besteck. »Miss Fee, die Katholin.«
»Die Katholin! Ha!« Erregt wendet er sich wieder seinem eigenen Fleisch zu. »Also, Rivers«, sagt er dabei.
»Sir?«
»Ich fordere Sie auf – ich fordere Sie allen Ernstes dazu auf, Sir! –, mir irgendeine Institution zu nennen, welche die abscheulichen Akte der Lüsternheit so genährt hat wie die römisch-katholische Kirche …«
Er sieht mich das ganze Abendessen hindurch nicht mehr an. Dann lässt er mich eine Stunde lang aus einem alten Text lesen: Der Nonnen Klage gegen die Mönche.
Richard sitzt vollkommen reglos da und hört mir zu. Doch als ich geendet habe und mich erhebe, um hinauszugehen, da springt auch er auf: »Gestatten Sie«, sagt er. Wir gehen den kurzen Weg zur Tür zusammen. Mein Onkel hebt nicht einmal den Kopf, sein Blick ist auf seine tintenverschmierten Hände geheftet. Er hat ein kleines Messer mit Perlmuttgriff in der Hand, dessen Klinge so oft gewetzt wurde, dass sie fast die Form eines Halbmondes hat, und mit diesem schält er einen Apfel – einer jener trockenen, bitteren kleinen Äpfel, die im Obstgarten von Briar wachsen.
Richard vergewissert sich, dass er uns nicht beobachtet, dann sieht er mir geradewegs in die Augen. Sein Ton bleibt jedoch höflich. »Ich muss Sie fragen«, sagt er, »ob Sie unseren Zeichenunterricht fortsetzen möchten, nun, da ich zurück bin. Ich hoffe, das möchten Sie.« Er wartet. Ich gebe keine Antwort. »Soll ich morgen wie gewöhnlich zu Ihnen kommen?« Wieder wartet er. Er hat die Hand auf die Türklinke gelegt und die Tür geöffnet – allerdings nicht weit genug, als dass ich hinausgehen könnte. Er öffnet sie auch nicht weiter, als er sieht, dass ich an ihm vorbeigehen will. Stattdessen nimmt sein Gesicht einen verwunderten Ausdruck an. »Sie dürfen nicht so schüchtern sein«, erklärt er. Er meint aber: Du darfst nicht so schwach sein. »Das sind Sie doch nicht, oder doch?«
Ich schüttele den Kopf.
»Also gut. Ich werde also zur gewohnten Zeit kommen. Sie müssen mir zeigen, woran Sie gearbeitet haben, während ich fort war. Ich nehme an, mit ein wenig mehr Einsatz – nun, wer weiß? Vielleicht sind wir bald soweit, Ihren Onkel mit den Früchten unserer Lehrstunden überraschen zu können. Was meinen Sie? Sollen wir sagen, noch zwei Wochen? Zwei Wochen, oder höchstens drei?«
Wieder spüre ich seinen Wagemut und seine Kühnheit, spüre, wie mein Blut aufwallt und mich ebenso kühn macht. Doch darunter oder dahinter steigt etwas auf, ein Schwächegefühl, ein Flattern – eine Art panischer Schrecken. Er wartet auf meine Entgegnung, und das Flattern wird heftiger. Wir haben unser Komplott sorgfältig geschmiedet. Wir haben bereits eine abscheuliche Tat begangen, und damit die Weichen für eine weitere gestellt. Ich weiß, was jetzt noch alles zu tun ist. Ich weiß, dass ich den Anschein erwecken muss, ihn zu lieben, den Anschein erwecken muss, dass er mich gewonnen hat und ich es dann Sue eingestehen muss. Wie leicht das doch sein sollte! Wie ich es herbeigesehnt habe! Wie ich die Mauern um das Anwesen meines Onkels angestarrt und mir gewünscht habe, sie mögen sich teilen und mich freilassen! Doch nun, da der Tag meiner Flucht nahe ist, zaudere ich und wage nicht zu sagen, warum. Ich schaue wieder auf die Hände meines Onkels, auf das Perlmutt, auf den Apfel, der sich vom Messer die Haut abstreifen lässt.
»Sagen wir drei Wochen – vielleicht auch länger«, erwidere ich schließlich. »Vielleicht auch länger, wenn ich das Gefühl habe, ich brauche noch mehr Zeit.«
Ein Anflug von Irritation oder Ärger huscht über sein Gesicht, doch als er spricht, gibt er seiner Stimme einen ganz sanften Klang. »Sie sind schüchtern. Sie haben mehr Talent als Sie preisgeben. Drei Wochen werden ausreichen, das versichere ich Ihnen.«
Endlich öffnet er doch die Tür und verbeugt sich, als ich an ihm vorbei hinausgehe. Und obgleich ich mich nicht umdrehe, weiß ich, dass er an der Tür verweilt und mir zusieht, wie ich die Treppe hinaufsteige – so sehr um meine Sicherheit besorgt wie alle anderen Freunde meines Onkels.
Richard wird bald noch mehr Sorge an den Tag legen. Doch fürs Erste kehren die Tage in ihre altvertrauten Bahnen zurück. Er verbringt den Morgen mit seiner Arbeit an den Drucken, dann kommt er zu mir, um mich im Zeichnen zu unterweisen – um in meiner Nähe zu sein, um mir Blicke zuzuwerfen und mir zuzuflüstern, mich feierlich und demonstrativ zu umwerben, während ich Farbe auf den Karton tupfe.
Die Tage kehren in ihr altvertrautes Muster zurück – außer dass dort, wo zuvor Agnes war, nun Sue ist.
Und Sue ist nicht wie Agnes. Sie weiß mehr. Sie weiß um ihren eigenen Wert und ihren Zweck. Sie weiß, dass sie zuhören und achtgeben muss, um sich zu vergewissern, dass Mr. Rivers nicht zu nah an ihre Herrin herankommt oder zu vertraulich mit ihr spricht. Doch sie weiß auch, dass sie, wenn er nahe heranrückt, den Kopf abwenden und das Flüstern überhören soll. Sie wendet auch den Kopf ab, ich sehe, wie sie das tut, aber ich sehe auch, wie sie uns aus den Augenwinkeln verstohlene Blicke zuwirft – wie sie unsere Ebenbilder im Spiegel über dem Kamin und in den Fensterscheiben beäugt – ja, sogar unsere Schatten! Das Zimmer, in dem ich so viele Stunden der Gefangenschaft verbracht habe – ich kenne es so gut wie Gefangene ihre Zelle –, dieses Zimmer kommt mir jetzt gänzlich verändert vor. Es scheint voller glänzender Oberflächen, und jede davon ist eines ihrer Augen.
Wenn jene Augen meinen begegnen, sind sie verschleiert und schuldlos. Doch wenn sie Richards Augen begegnen, sehe ich, wie sie wissende oder einvernehmliche Blicke tauschen, und dann kann ich Sue nicht mehr ansehen.
Denn obschon sie natürlich viel weiß, ist das Wissen, das sie hat, doch bloß ein falsches Wissen, und somit wertlos. Und ihre Befriedigung dabei, es für sich zu behalten – das zu bewahren, was sie für ein Geheimnis hält –, ist mir zuwider. Sie weiß nicht, dass sie der Dreh- und Angelpunkt unseres gesamten Plans ist. Sie glaubt, ich sei dieser Punkt. Sie hat keine Ahnung, dass Richard, indem er mich zu verspotten scheint, tatsächlich sie verspottet: dass er, nachdem er sich heimlich zu ihr umgedreht hat, ihr vielleicht zugelächelt, ihr vielleicht eine Grimasse geschnitten hat, sich zu mir umdreht und in Wirklichkeit mir zulächelt und mir vielsagende Grimassen schneidet.
Fühlte ich mich, wenn er Agnes peinigte, noch zu eigenen kleinen Grausamkeiten angestachelt, so verliere ich nun beinahe die Nerven. Dass ich mir Sues Anwesenheit so bewusst bin, schärft nur das Bewusstsein meiner selbst – macht mich mal verwegen, so wie Richard manchmal verwegen ist, wenn er unsere gespielte Leidenschaft maßlos übertrieben zur Schau stellt, mal bedächtig und wachsam, zögerlich fast. Eine Stunde lang bin ich mutig – oder unterwürfig oder spröde –, und dann, in den letzten Minuten seines Aufenthalts bei mir, beginne ich zu beben. Die Bewegung meiner Glieder verrät mich, mein Blut, mein Atem. Ich nehme an, sie hält es für ein Zeichen von Liebe.
Richard weiß, es ist ein Zeichen von Schwäche. Die Tage kriechen nur so dahin. Die erste Woche vergeht, und die zweite beginnt. Ich spüre seine Verwirrung, spüre die Last seiner Erwartungen: Ich fühle, wie sie sich sammeln, sich stetig im Kreise drehen, sauer werden. Er betrachtet meine Arbeit und fängt an den Kopf zu schütteln.
»Ich fürchte, Miss Lilly«, sagt er nicht nur einmal, »Ihnen mangelt es noch an Disziplin. Ich dachte, Ihre Pinselstriche seien entschiedener als diese hier. Ich bin mir ganz sicher, dass Ihre Pinselstriche noch vor einem Monat entschiedener waren. Sagen Sie mir nicht, Sie hätten während meiner kurzen Abwesenheit alles vergessen, was ich Ihnen beigebracht habe. Nach all meinen Mühen! Es gibt etwas, das ein Künstler bei der Ausübung seiner Tätigkeit unter allen Umständen vermeiden sollte, und das ist die Unschlüssigkeit. Denn Unschlüssigkeit führt zu Schwäche, und durch Schwäche sind schon bedeutendere Vorhaben als unseres gescheitert. Verstehen Sie? Verstehen Sie mich?«
Ich gebe keine Antwort. Er geht, und ich bleibe an meinem Platz sitzen. Sue tritt an meine Seite.
»Geben Sie nichts darauf, Miss«, sagt sie besänftigend, »wenn Mr. Rivers unerfreuliche Dinge über Ihre Bilder zu sagen scheint. Sie haben die Birnen wirklich sehr lebensnah gemalt.«
»Meinst du wirklich, Sue?«
Sie nickt. Ich sehe ihr ins Gesicht – in das Auge mit dem einzelnen braunen Fleck. Dann betrachte ich die formlosen Farbkleckse, die ich auf den Karton getupft habe.
»Es ist ein erbärmliches Gepinsel, Sue«, sage ich.
Sie legt ihre Hand auf meine. »Na ja«, erwidert sie, »aber Sie lernen doch immer mehr dazu.«
Ich lerne tatsächlich, aber nicht schnell genug. Irgendwann schlägt Richard vor, im Park spazieren zu gehen.
»Wir müssen jetzt aus der Natur heraus arbeiten«, verkündet er.
»Das möchte ich lieber nicht«, widersetze ich mich. Ich habe meine Pfade, die ich gern mit Sue an meiner Seite gehe. Ich fürchte, wenn ich sie mit ihm gehe, wird er sie mir vergällen. »Das möchte ich lieber nicht«, sage ich abermals.
Er runzelt die Stirn, dann lächelt er. »Als Ihr Lehrer«, beharrt er, »muss ich darauf bestehen.«
Ich hoffe auf Regen. Doch obgleich der Himmel über Briar den ganzen Winter hindurch grau gewesen ist – sieben ganze Jahre grau gewesen ist, wie es mir scheint –, klart er nun für ihn auf. Nur ein schneller, sanfter Wind ist da, der mir um die Knöchel weht – die mein Rock nicht bedeckt –, als Mr. Way die Tür aufzerrt.
»Vielen Dank, Mr. Way«, sagt Richard und bietet mir seinen Arm. Er trägt einen recht flachen schwarzen Hut, einen dunklen Wollmantel und lavendelfarbene Handschuhe. Mr. Way bemerkt die Handschuhe, dann sieht er mich mit einem Blick an, in dem eine gewisse Zufriedenheit liegt, eine Art Verachtung.
Hältst dich wohl für eine Dame, was?, hat er an dem Tag zu mir gesagt, als er mich, die ich wild um mich trat, ins Eishaus schleppte. Das werden wir ja noch sehen.
Mit Richard will ich partout nicht den Weg zum Eishaus gehen. Ich schlage einen anderen Pfad ein – einen längeren, angenehmeren Pfad, der rings um das Anwesen meines Onkels herum und eine Anhöhe hinaufführt, von wo aus man die Rückseite des Hauses überblickt, die Ställe, das Wäldchen und die Kapelle. Ich kenne die Aussicht viel zu gut, als dass ich sie noch betrachten wollte, und so richte ich die Augen beim Gehen auf den Boden. Richard führt mich am Arm, und Sue folgt uns – zunächst hält sie sich dicht hinter uns, doch dann fällt sie zurück, als er eine flottere Gangart vorlegt. Wir sprechen nicht miteinander, doch er zieht mich dicht an sich heran. Mein Rock steht merkwürdig zur Seite ab.
Ich versuche, mich Richard zu entziehen, doch das lässt er nicht zu. Schließlich sage ich: »Du brauchst mich nicht so festzuhalten.«
Er lächelt. »Wir müssen doch überzeugend wirken.«
»Du brauchst mich nicht so fest zu packen. Gibt es irgendetwas zu flüstern, das ich noch nicht weiß?«
Er wirft einen raschen Blick über die Schulter. »Sie fände es gewiss eigenartig, wenn ich mir diese Gelegenheit, dir nahe zu sein, entgehen ließe. Jeder fände das eigenartig.«
»Sie weiß, dass du mich nicht liebst. Also müssen wir auch nicht so tun, als seiest du ganz vernarrt in mich.«
»Sollte ein Gentleman denn im Frühling nicht vernarrt sein dürfen, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet?« Er legt den Kopf in den Nacken. »Sieh dir nur den Himmel an, Maud. Sieh nur, wie ekelerregend blau er ist. So blau –« er hebt die Hand –, »dass er sich mit meinen Handschuhen beißt. Da hast du die Natur. Keinen Sinn für Mode. Der Himmel über London jedenfalls hat bessere Manieren: Er ist wie die Wand einer Schneiderei: von einer ewig grauen Eintönigkeit.« Wieder lächelt er, und zieht mich näher an sich. »Doch das wirst du natürlich bald selbst feststellen können.«
Ich versuche, mir mich in einer Schneiderei vorzustellen. Das erinnert mich an Szenen aus Die peitschenden Putzmacherinnen. Ich drehe mich um und werfe, wie er, einen kurzen Blick auf Sue. Sie betrachtet die Wölbung meines Rockes an seinem Bein und verzieht dabei das Gesicht zu einer Grimasse, die ich als Ausdruck der Zufriedenheit deute. Wieder versuche ich, mich ihm zu entziehen, und wieder hält er mich fest. Ich sage: »Würdest du mich bitte loslassen?« Und als er es nicht tut: »Dann muss ich also annehmen, da du weißt, dass ich nicht erdrückt werden möchte, dass es dir Freude bereitet, mich zu quälen.«
Er sieht mir in die Augen. »Ich bin wie jeder andere Mann besessen von dem, was ich nicht haben kann. Du solltest den Tag unserer Vereinigung möglichst schnell herbeiführen. Ich glaube, danach wirst du feststellen können, dass meine Begeisterung rasch abkühlen wird.«
Darauf erwidere ich nichts. Wir gehen weiter, und schließlich lässt er mich los und legt seine Hände schützend um seine Zigarette, um diese anzuzünden. Wieder schaue ich Sue an. Der Weg schlängelt sich eine Anhöhe hinauf, die Brise ist stärker geworden, und ein paar Strähnen ihres braunen Haars haben sich aus ihrer Schute gelöst und wehen ihr ums Gesicht. Sie trägt unsere Taschen und Körbe und hat keine Hand frei, sie wieder darunterzuschieben. Ihr Umhang flattert um sie herum wie ein Segel.
»Kommt sie zurecht?«, fragt Richard und zieht an seiner Zigarette.
Ich wende mich wieder nach vorn. »Ich denke schon.«
»Jedenfalls ist sie kräftiger als Agnes. Arme Agnes! Ich frage mich, wie es ihr wohl ergangen ist?« Wieder packt er meinen Arm und lacht. Ich antworte nicht, und sein Lachen verebbt. »Komm schon, Maud«, sagt er in kühlerem Ton, »stell dich nicht an wie eine alte Jungfer. Was ist nur mit dir geschehen?«
»Nichts ist mit mir geschehen.«
Eingehend betrachtet er mein Profil. »Weshalb lässt du uns dann warten? Alles ist da. Alles ist bereit. Ich habe uns ein Haus in London gemietet. Ein Haus in London ist nicht gerade billig, Maud …«
Ich gehe schweigend weiter und bin mir seines Blickes bewusst. Wieder zieht er mich ganz dicht an sich. »Du hast doch nicht etwa einen Sinneswandel durchgemacht? Oder doch?«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Und doch zögerst du es hinaus. Warum?« Ich gebe keine Antwort. »Maud, ich frage dich noch einmal: Irgendetwas muss geschehen sein, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Was ist geschehen?«
»Nichts ist geschehen«, erwidere ich.
»Nichts?«
»Nichts außer dem, was wir beabsichtigt hatten.«
»Und du weißt, was jetzt getan werden muss?«
»Selbstverständlich.«
»Dann tue es auch! Benimm dich wie ein verliebtes Mädchen. Lächele, erröte, sei albern.«
»Tue ich das denn nicht?«
»Das tust du – doch dann verdirbst du wieder alles mit einer Grimasse oder indem du zurückzuckst. Sieh dich doch mal an! Schmiege dich an meinen Arm, verdammt! Es wird dich schon nicht umbringen, wenn meine Hand auf deiner liegt. Es tut mir leid.« Ich bin bei seinen Worten erstarrt. »Es tut mir leid, Maud.«
»Lass meinen Arm los«, sage ich.
Wir gehen weiter, Seite an Seite, wortlos. Sue trottet hinterdrein – ich höre ihre Atemzüge, die wie Seufzer klingen. Richard wirft den Zigarettenstummel auf den Boden, reißt einen langen Grasstängel aus und beginnt damit auf seine Stiefel einzuschlagen. »Wie widerwärtig rot diese Erde ist!«, murrt er. »Aber was für ein außerordentliches Vergnügen für den kleinen Charles …« Er lächelt still. Dann bleibt sein Fuß an einem Feuerstein hängen, und er stolpert. Er stößt ein paar Flüche aus. Dann richtet er sich wieder auf und mustert mich. »Wie ich sehe, bist du leichtfüßiger als ich. Das gefällt dir, hm? Du kannst auch in London so spazieren gehen. In den Parks und auf der Heide. Wusstest du das? Oder du könntest beschließen, nie wieder zu Fuß zu gehen – du könntest Kutschen mieten, Sänften, Männer, die dich umherfahren und -tragen –«
»Ich weiß, was ich alles tun kann.«
»Ach ja? Tatsächlich?« Er steckt den Grasstängel in den Mund und wirkt nachdenklich. »Das wundert mich. Du fürchtest dich, glaube ich. Wovor? Vor dem Alleinsein? Ist es das? Du brauchst die Einsamkeit nicht zu fürchten, Maud, solange du reich bist.«
»Du glaubst, ich fürchtete die Einsamkeit?«, entgegne ich. Wir sind nahe an der Mauer, die den Park meines Onkels umgibt. Sie ist hoch, grau und staubtrocken. »Ich fürchte mich vor nichts, gar nichts.«
Er wirft den Stängel fort und nimmt meinen Arm. »Warum«, fragt er, »hältst du uns dann hier fest und lässt uns so unerträglich lange warten?«
Ich antworte nicht. Wir sind langsamer geworden. Nun hören wir Sue hinter uns, die noch immer schwer atmet, und wir gehen etwas schneller. Als Richard dann weiterredet, schlägt er einen anderen Ton an.
»Du hast vorhin von Qualen gesprochen. Die Wahrheit ist jedoch, dass du dich selbst gerne quälst, indem du den Zeitpunkt hinausschiebst.«
Ich zucke die Schultern, als kümmerte es mich nicht, doch ich bin nicht unbekümmert. »Mein Onkel hat einmal etwas ganz Ähnliches zu mir gesagt«, erwidere ich. »Das war, bevor ich so wurde wie er. Für mich ist Warten nun keine Qual mehr. Ich bin daran gewöhnt.«
»Ich aber nicht«, erwidert er. »Und ich verspüre auch nicht den Wunsch, mich in dieser Kunst unterweisen zu lassen, weder von dir noch von sonst jemandem. Ich habe in der Vergangenheit durch Warten schon zu viel verloren. Inzwischen bin ich sehr geschickt darin, die Ereignisse so zu beeinflussen, dass sie meinen Bedürfnissen entgegenkommen. Das habe ich gelernt, während du Geduld gelernt hast. Verstehst du mich, Maud?«
Ich wende den Kopf ab und schließe halb die Augen. »Ich möchte dich nicht verstehen«, antworte ich müde. »Ich wollte, du würdest überhaupt nicht reden.«
»Ich werde so lange reden, bis du hörst.«
»Bis ich was höre?«
»Das.« Er kommt mit dem Mund ganz nah an mein Gesicht. Sein Bart, seine Lippen, sein Atem riechen nach Rauch wie ein Teufel. Er sagt: »Denk an unseren Kontrakt. Denk daran, wie wir ihn geschlossen haben. Denk daran, wie ich zum ersten Mal zu dir gekommen bin. Ich kam nicht gerade wie ein Gentleman und hatte nicht viel zu verlieren – im Gegensatz zu Ihnen, Miss Lilly, die mich allein empfangen hat, um Mitternacht in ihrem Zimmer …« Er geht einen Schritt zurück. »Ich nehme an, dein guter Ruf ist einiges wert, selbst hier. Ich fürchte, das ist bei jungen Damen immer der Fall. Aber das wusstest du natürlich auch, als du mich empfangen hast.«
In seiner Stimme schwingt ein schneidender Unterton mit, den ich noch nie zuvor gehört habe. Auf einmal gehen wir in eine andere Richtung: Als ich einen Blick auf sein Gesicht werfe, steht die Sonne hinter ihm, und sein Gesicht ist voller Schatten, so dass ich seinen Ausdruck nicht ausmachen kann.
Vorsichtig sage ich: »Du bezeichnest mich als Dame, doch das bin ich wohl kaum.«
»Dein Onkel hält dich gewiss dafür. Würde ihm der Gedanke gefallen, du seiest ein für alle Male verdorben?«
»Er selbst hat mich verdorben!«
»Dann wird es ihm wohl kaum gefallen, wenn ein anderer Mann sein Werk fortsetzt. Ich spreche selbstverständlich nur von dem, was er als erwiesen annehmen wird.«
Ich entferne mich ein wenig von ihm. »Du missverstehst ihn vollkommen. Er sieht mich als eine Art Maschine zum Lesen und Kopieren von Texten.«
»Umso schlimmer. Es wird ihm nicht gefallen, wenn die Maschine ausfällt. Was, wenn er sich ihrer entledigt und sich eine neue beschafft?«
Nun spüre ich, wie mir das Blut in den Schläfen pocht. Ich reibe mir die Augen. »Sei nicht so lästig, Richard. Sich ihrer entledigen. Wie denn?«
»Na, indem er sie nach Hause zurückschickt …«
Mein Herz scheint einen Schlag auszusetzen und dann schneller weiterzuschlagen. Ich nehme die Finger von den Augen, doch wieder hat er die Sonne im Rücken, und ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Ich sage leise: »Im Irrenhaus würde ich dir nichts nützen.«
»Du nützt mir auch jetzt nichts, wo du alles hinauszögerst! Gib acht, dass ich dieses Spielchens nicht überdrüssig werde. Dann wäre ich nicht mehr so freundlich zu dir.«
»Dies nennst du also Freundlichkeit?«, entgegne ich.
Er schüttelt den Kopf. Endlich kommen wir in den Schatten, und ich kann seinen Gesichtsausdruck ausmachen: Er ist aufrichtig, amüsiert, erstaunt. Er sagt: »Dies ist ein abscheuliches Schurkenstück, Maud. Wann habe ich es je anders bezeichnet?«
Wir bleiben stehen, dicht beieinander wie ein Liebespaar. Seine Stimme klingt wieder heiterer, doch sein Blick ist hart. Zum ersten Mal spüre ich, wie es wäre, vor ihm Angst haben zu müssen.
Er dreht sich um und ruft nach Sue. »Jetzt ist es nicht mehr weit, Suky! Wir sind fast da, glaube ich.« Mir murmelt er zu: »Ich brauche ein paar Minuten mit ihr allein.«
»Um dich ihrer Loyalität zu vergewissern«, sage ich. »Wie du es bei mir getan hast.«
»Das habe ich bereits erledigt«, entgegnet er selbstzufrieden. »Und sie steht wenigstens zu ihrem Wort. Was?« Ich bin erschauert. Oder mein Gesichtsausdruck hat sich verändert. »Du denkst doch nicht, sie habe Gewissensbisse? Maud? Du glaubst doch nicht, sie zeige Schwäche oder spiele falsch? Zögerst du deshalb?« Ich schüttele den Kopf. »Nun«, fährt er fort, »ein Grund mehr für mich, sie zu treffen und herauszufinden, wie wir ihrer Meinung nach vorankommen. Lass sie morgen oder übermorgen zu mir kommen. Lass dir was einfallen, ja? Stell es schlau an.«
Er legt seinen vom Rauch verfärbten Finger an den Mund. Sue kommt heran und bleibt zum Verschnaufen neben mir stehen. Sie ist ganz rot vom Tragen der Taschen. Ihr Umhang flattert noch immer, ihr Haar weht noch immer, und ich wünsche mir mehr als alles andere, sie an mich zu ziehen, sie zu berühren und alles in Ordnung zu bringen. Ich glaube, fast tue ich es, fast strecke ich den Arm nach ihr aus. Doch dann wird mir bewusst, dass Richard da steht und mich mit scharfem, abschätzendem Blick anschaut. Ich verschränke die Arme und wende mich ab.
Am nächsten Morgen schicke ich sie mit einer Kohle aus dem Feuer zu ihm hinunter, damit er sich seine Zigarette daran anzünden kann. Und ich stehe da, die Stirn an das Fenster meines Ankleidezimmers gelehnt, und sehe zu, wie die beiden miteinander tuscheln. Sie hält den Kopf von mir abgewendet, doch als sie wieder geht, schaut er hinauf und erwidert meinen Blick, wie er es einmal zuvor schon in der Dunkelheit getan hat. Denke an unseren Kontrakt, scheint er wieder zu sagen. Dann lässt er seine Zigarette fallen und zertritt sie energisch. Dann klopft er sich die klebrige rote Erde von den Schuhen.
Danach spüre ich den wachsenden Druck unseres Komplotts, wie Menschen wohl spüren, wenn eine angehaltene Maschine unter Hochspannung steht, ein gebändigtes wildes Tier sich loszureißen droht oder ein tropischer Sturm sich zusammenbraut. Jeden Tag, wenn ich aufwache, denke ich: Heute werde ich es tun! Heute werde ich den Bolzen lösen und den Motor entfesseln, das wilde Tier losbinden, die heranbrausenden Wolken durchstoßen! Heute werde ich ihn um meine Hand anhalten lassen –
Doch ich tue es nicht. Ich sehe Sue an, und stets zieht etwas herauf, eine Art Schatten, eine Art Dunkelheit – eine panische Angst, wie ich vermute, schlicht und ergreifend Furcht – ein Erbeben, ein Fallen – als stürze man in den sauren Rachen des Wahnsinns –
Der Wahnsinn, die Krankheit meiner Mutter, beginnt nun vielleicht sich langsam auch in mir auszubreiten! Dieser Gedanke ängstigt mich noch viel mehr. Ein oder zwei Tage lang nehme ich mehr von meinen Tropfen: Sie beruhigen mich, doch sie verändern mich auch. Mein Onkel bemerkt es.
»Du wirst so unbeholfen«, stellt er eines Morgens fest. Ich habe ein Buch falsch angefasst. »Glaubst du, ich ließe dich Tag für Tag in meine Bibliothek kommen, damit du dich an ihr vergehst?«
»Nein, Onkel.«
»Was? Murmelst du etwas?«
»Nein, Sir.«
Er befeuchtet und schürzt die Lippen und betrachtet mich eingehender. Als er wieder spricht, klingt seine Stimme fremd.
»Wie alt bist du jetzt?«, fragt er. Ich bin verblüfft und zögere. »Spiel hier nicht die Spröde, Fräulein! Wie alt bist du? Sechzehn? Siebzehn? Da kannst du ruhig staunen. Glaubst du, ich bemerke nicht, wie die Jahre vergehen, bloß weil ich ein Mann der Bücher bin? Hm?«
»Ich bin siebzehn, Onkel.«
»Siebzehn. Ein schwieriges Alter, wenn wir unseren Büchern Glauben schenken dürfen.«
»Ja, Sir.«
»Maud, denk nur stets daran: Deine Aufgabe ist nicht der Glaube, sondern das Studium. Denk auch daran: Du bist kein so großes Mädchen, als dass ich nicht Mrs. Stiles herrufen würde, damit sie dich festhält, während ich dir eine Tracht Prügel verpasse. Hm? Denkst du daran? Tust du das?«
»Ja, Sir.«
Es scheint mir jedoch, als müsste ich an zu viele Dinge denken. Mein Gesicht, meine Gelenke schmerzen von der Anstrengung, Mienen und Posen vorzuspielen. Ich kann nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, welche meiner Taten, ja selbst welche meiner Gefühle wahr sind und welche nur vorgetäuscht. Richard behält mich noch immer genau im Auge. Ich meide seinen Blick. Er ist leichtsinnig, er neckt und bedroht mich: Ich ziehe es vor, ihn nicht zu verstehen. Vielleicht bin ich ja doch schwach. Vielleicht bereitet es mir ja tatsächlich, wie er und mein Onkel annehmen, Vergnügen, mich und andere zu quälen. Jedenfalls ist es jetzt wirklich eine Qual für mich, während des Unterrichts neben ihm zu sitzen, während des Abendessens neben ihm zu sitzen und ihm anschließend aus den Büchern meines Onkels vorzulesen. Es wird mir auch zur Qual, Zeit mit Sue zu verbringen. Unser gewohnter Tagesablauf ist mir vergällt. Ich bin mir zu sehr der Tatsache bewusst, dass sie genau wie Richard abwartet: Ich spüre, wie sie mich beobachtet, mich abschätzt, mich durch Willenskraft vorantreibt. Schlimmer noch, nun legt sie auch noch ein gutes Wort für ihn ein – sie erzählt mir schlichtweg, wie klug er ist, wie freundlich und interessant.
»Meinst du, Sue?«, frage ich sie, die Augen auf ihr Gesicht gerichtet. Ihr Blick flattert dann vielleicht beklommen davon, doch trotz allem erwidert sie immer: »Ja, Miss. O ja, Miss. Das sagen doch alle, oder etwa nicht?«
Dann macht sie mich hübsch zurecht. Sie öffnet mein Haar und frisiert es, zieht die Säume gerade, zupft Fussel vom Stoff meiner Kleider. Ich glaube, sie tut es ebenso sehr, um sich selbst zu beruhigen, wie um mich zu beruhigen. »So«, sagt sie dann, wenn sie fertig ist. »Nun ist es besser.« – Nun ist es ihr besser, meint sie eigentlich. »Jetzt ist Ihre Stirn ganz glatt. Wie war sie vorher voller Falten! Sie sollten sie nicht so in Falten legen –«
Wegen Mr. Rivers darf sie nicht in Falten gelegt werden: Ich höre die unausgesprochenen Worte, mein Blut wallt wieder auf. Ich nehme ihren Arm und zwicke sie.
»Au!«
Ich weiß nicht, wer aufschreit – sie oder ich: Ich taumele davon, zermürbt. Doch in der Sekunde, als ich ihre Haut zwischen meinen Fingern spüre, atmet mein Körper erleichtert auf. Ich zittere fast eine Stunde lang ganz entsetzlich.
»O Gott!«, sage ich und verberge mein Gesicht. »Ich fürchte um meinen Verstand! Glaubst du, ich bin wahnsinnig? Glaubst du, ich bin niederträchtig, Sue?«
»Niederträchtig?«, erwidert sie, und ich kann ihre Gedanken lesen: Ein naives Mädchen, wie du es bist?
Sie bringt mich zu Bett und liegt mit ihrem Arm an meinem. Doch bald ist sie eingeschlafen und dreht sich um. Ich denke an das Haus, in dem ich liege. Ich denke an das Zimmer jenseits des Bettes – an seine Kanten, seine Flächen – Kaminsims, Frisierkommode, Teppich, Wäscheschrank. Dann komme ich zu Sue. Ich möchte sie gern berühren, um mich zu vergewissern, dass sie da ist. Ich wage es nicht. Und doch kann ich nicht von ihr lassen. Ich hebe die Hände und bewege sie auf sie zu und halte sie dicht, sehr dicht über sie – ihre Hüfte, ihre Brüste, ihre leicht gekrümmten Finger, ihr Haar auf dem Kissen, ihr Gesicht, während sie schläft.
Das tue ich vielleicht drei Nächte hintereinander. Dann passiert Folgendes.
Richard bringt uns dazu, jeden Tag zum Fluss hinunterzugehen. Er heißt Sue, weit weg von mir zu sitzen, auf einem umgedrehten Kahn. Er selbst bleibt wie üblich dicht an meiner Seite und gibt vor, mir beim Malen zuzusehen. Ich male so oft über dieselbe Stelle, dass der Karton anfängt, sich zu wölben und unter meinem Pinsel zu zerbröseln, doch ich male stur weiter, und hin und wieder beugt Richard sich zu mir herab und wispert leichthin und doch grimmig: »Der Teufel soll dich holen, Maud, wie kannst du nur so ruhig und unbeteiligt dasitzen? He! Hörst du nicht die Glocke?« Die Glocke von Briar klingt hier beim Wasser ganz klar. »Schon wieder ist eine Stunde vergangen, die wir in Freiheit hätten verbringen können. Stattdessen hältst du uns hier fest –«
»Würdest du bitte beiseite treten?«, sage ich. »Du stehst mir im Licht.«
»Du stehst mir im Licht, Maud. Siehst du, wie leicht dieser Schatten sich entfernen lässt? Ein kleiner Schritt ist alles, was es braucht. Siehst du? Schaust du her? Sie will nicht. Sie zieht es vor zu malen. Dieses Mist- oh! Gebt mir ein Streichholz, ich werde es verbrennen!«
Mein Blick geht zu Sue. »Sei still, Richard.«
Doch die Tage werden wärmer, und schließlich kommt ein Tag, so schwül und stickig, dass die Hitze ihn überwältigt. Er breitet seinen Mantel auf dem Boden aus, streckt sich darauf aus und zieht den Hut schief, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen. Für eine Weile ist es ein stiller und beinahe angenehmer Nachmittag: Man hört nur das Quaken der Frösche in den Binsen, das Plätschern des Wassers, das Schreien der Vögel und gelegentlich ein vorbeifahrendes Boot. Ich verteile die Farbe mit immer feineren, immer langsameren Strichen auf den Karton und schlummere fast ein.
Dann lacht Richard, und ich zucke zusammen, so dass meine Hand ausrutscht. Ich drehe mich um und sehe ihn an. Er legt einen Finger auf die Lippen. »Schau«, flüstert er leise und weist auf Sue.
Reglos sitzt sie vor dem umgedrehten Kahn, ihr Kopf lehnt gegen das morsche Holz, ihre Glieder hat sie weit von sich gestreckt. Eine Strähne ihres Haars, dunkel an der Spitze, an der sie herumgekaut hat, ringelt sich an ihren Lippen. Ihre Augen sind geschlossen, sie atmet ganz gleichmäßig. Sie schläft tief und fest. Die Sonne fällt ihr schräg aufs Gesicht und hebt die Spitze ihres Kinns, ihre Wimpern und ihre dunkler werdenden Sommersprossen hervor. Zwischen ihren Handschuhen und den Ärmelaufschlägen sind zwei schmale Streifen rosafarbener Haut zu sehen.
Ich schaue wieder zu Richard hinüber – begegne seinem Blick –, dann wende ich mich wieder meinem Gemälde zu und sage leise: »Sie wird sich die Wangen verbrennen. Willst du sie nicht aufwecken?«
»Soll ich?« Er schnieft. »Wo sie herkommt, ist man so viel Sonnenlicht nicht gewöhnt.« Er redet fast liebevoll, lacht aber über seine Worte. Dann fügt er murmelnd hinzu: »Und ich glaube, wo sie hingeht, auch nicht. Das arme Luder – soll sie ruhig schlafen. Sie schläft schon, seit ich sie geholt und hierhergebracht habe, und sie weiß es nicht einmal.«
Das sagt er nicht mit Wonne, sondern als erwecke diese Vorstellung sein Interesse. Dann streckt er sich und gähnt, springt auf die Füße und niest. Das gute Wetter bekommt ihm nicht. Er drückt die Knöchel gegen die Nase und schnieft heftig. »Entschuldige«, sagt er und holt ein Taschentuch hervor.
Sue wacht nicht auf, runzelt aber die Stirn und dreht den Kopf. Ihre Unterlippe hängt ein wenig herab. Die Haarsträhne rutscht von ihrer Wange, behält aber ihre geschwungene, spitz zulaufende Form. Ich habe meinen Pinsel gehoben und einmal die abbröckelnde Farbe betupft. Nun halte ich ihn erhoben und betrachte Sue, wie sie schläft. Sonst nichts. Richard schnieft abermals, flucht leise über die Hitze und die Jahreszeit. Dann ist er wieder still wie zuvor. Ich vermute, er beobachtet mich. Von dem Pinsel in meiner Hand tropft Farbe – ich entdecke sie später auf meinem blauen Kleid. Ich bemerke jedoch nicht, wie sie heruntertropft, und vielleicht ist es das, was mich verrät. Das oder meine Miene. Sue verzieht wieder das Gesicht. Ich betrachte sie noch ein wenig länger. Dann drehe ich mich um und stelle fest, dass Richard mich unverwandt anschaut.
»Ach, Maud«, sagt er.
Weiter nichts. Doch in seinem Gesicht sehe ich endlich, wie sehr ich sie begehre.
Einen Augenblick lang geschieht gar nichts. Dann kommt er auf mich zu und packt mich am Handgelenk. Der Pinsel fällt zu Boden.
»Komm schnell«, sagt er. »Komm schnell, ehe sie aufwacht.«
Er zieht mich stolpernd hinter sich her, an den Binsen entlang. Wir folgen dem Lauf des Wassers, um die Biegung des Flusses und der Mauer herum. Dann bleiben wir stehen, und er legt mir die Hand auf die Schultern und hält mich fest.
»Ach, Maud«, sagt er wieder. »Da habe ich gedacht, du würdest von Gewissensbissen gepeinigt oder von irgendeiner derartigen Schwäche. Doch dies –!«
Ich habe das Gesicht von ihm abgewendet, doch ich spüre, wie er lacht. »Lach nicht darüber«, sage ich und erbebe. »Lach nicht!«
»Lachen? Du kannst von Glück sagen, wenn ich nichts Schlimmeres tue. Du weißt – besser als alle anderen! –, zu welcherlei Spielen die Herren sich in einem solchen Fall angespornt sehen. Dem Himmel sei Dank, dass ich weniger ein Herr als vielmehr ein Gauner bin: Wir leben nach anderen Regeln. Von mir aus sollst du lieben und verdammt sein. – Winde dich nicht, Maud!« Ich habe versucht, mich aus seinem Griff zu befreien. Er hält mich noch fester umklammert, lässt aber zu, dass ich mich ein wenig nach hinten lehne, aber dafür packt er mich jetzt um die Taille. »Liebe und sei verdammt«, sagt er wieder, »aber du wirst mich nicht um mein Geld bringen – uns hier festhalten und unser Komplott verwerfen, unsere Hoffnungen, deine eigene strahlende Zukunft – nein, das wirst du nicht. Nicht, da ich jetzt weiß, wegen welcher Nichtigkeit du uns hast hierbleiben lassen. Nun soll sie aufwachen – glaub mir, es ist für mich ebenso ermüdend wie für dich, wenn du dich so windest! Sie soll aufwachen und uns suchen. Sie soll uns so vorfinden. Willst du nicht zu mir kommen? Auch gut. Ich werde dich festhalten und sie endlich glauben lassen, dass wir ein Liebespaar sind und es somit hinter uns bringen. Steh jetzt still.«
Er dreht sich von mir weg und stößt einen wortlosen Schrei aus. Der Lärm prallt auf die schwere Luft und lässt sie aufwogen, dann verhallt der Schrei, und es wird wieder still.
»Das dürfte sie herlocken«, sagt er.
Ich versuche meine Arme zu befreien. »Du tust mir weh.«
»Dann tu, als wärst du meine Geliebte, und ich bin so sanft wie ein Lamm.« Wieder lächelt er. »Stell dir vor, ich wäre sie. – Ah!« Ich habe versucht, ihn zu schlagen. »Möchtest du überall blaue Flecken haben?«
Er packt mich noch fester, seine Hände liegen auf meinen Hüften, meine Arme umklammert er mit seinen. Er ist groß, er ist stark. Er kann mit seinen Händen meine Taille umschließen, so wie die Hände junger Männer die Taille ihrer Liebsten umschließen sollen. Eine Zeitlang wehre ich mich gegen den Druck: Eng umschlugen und schwitzend stehen wir da wie zwei Ringkämpfer. Doch ich vermute, aus der Ferne besehen könnte man tatsächlich meinen, wir taumelten im Liebeswahn umher.
Aber diese Gedanken sind nur verschwommen, und bald spüre ich, wie ich müde werde. Die Sonne brennt noch immer heiß auf uns herab. Die Frösche quaken noch immer ihren Chor, das Wasser plätschert noch immer gegen die Binsen. Doch der Tag ist durchstochen, zerrissen worden: Ich fühle, wie er schlaff wird und sich in erstickenden Falten eng um mich legt.
»Es tut mir leid«, sage ich matt.
»Jetzt muss es dir nicht mehr leid tun.«
»Es ist nur –«
»Du musst stark sein. Ich habe schon gesehen, wie stark du sein kannst.«
»Es ist nur –«
Aber was ist nur? Wie kann ich das sagen? Nur, dass sie meinen Kopf zwischen ihren Brüsten gehalten hat, als ich ganz verstört aufwachte. Dass sie einmal meine Füße mit ihrem Atem gewärmt hat. Dass sie meinen spitzen Zahn mit einem silbernen Fingerhut geglättet hat. Dass sie mir Suppe hat bringen lassen – klare Brühe –, statt eines Eis und gelächelt hat, als sie sah, wie ich sie aß. Dass sie einen dunkelbraunen Punkt in einem Auge hat. Dass sie mich für einen guten Menschen hält …
Richard beobachtet mein Gesicht. »Hör mir zu, Maud«, sagt er nun. Er zieht mich an sich. Kraftlos liege ich in seinen Armen. »Hör zu! Wäre es irgendein anderes Mädchen. Wäre es Agnes! He? Doch es ist dieses Mädchen – sie müssen wir überlisten und ihrer Freiheit berauben, damit wir selbst frei sein können. Dieses Mädchen werden die Ärzte mitnehmen, während wir wortlos zusehen. Denkst du an unseren Plan?«
Ich nicke. »Aber –«
»Was aber?«
»Ich bekomme langsam Angst, dass ich es doch nicht übers Herz bringe …«
»Hast du stattdessen dein Herz für kleine Trickdiebinnen entdeckt? O Maud!« Nun trieft seine Stimme vor Verachtung. »Hast du schon vergessen, weshalb sie zu dir gekommen ist? Glaubst du, sie hat es vergessen? Glaubst du, du lägest ihr am Herzen, außer aus diesem einen Grund? Du hast zu lange Zeit zwischen den Büchern deines Onkels zugebracht. Dort verschenken die jungen Mädchen schnell ihr Herz. Das ist ja gerade der springende Punkt. Wenn sie im wahren Leben so liebten, wären diese Bücher nie geschrieben worden.«
Er mustert mich eingehend. »Sie würde dir ins Gesicht lachen, wenn sie es wüsste.« Seine Stimme klingt plötzlich hinterhältig und verschlagen. »Sie würde mir ins Gesicht lachen, würde ich es ihr sagen …«
»Du wirst es ihr nicht sagen!« Ich hebe den Kopf und richte mich auf. Der Gedanke erscheint mir grässlich. »Sag ihr nur ein Wort, und ich bleibe bis an mein Lebensende in Briar. Mein Onkel wird erfahren, was du mir angetan hast. Ich weiß nicht, was er mir dafür antun wird.«
»Ich werde es ihr nicht sagen«, erwidert er langsam, »wenn du nur tust, was du tun musst, und zwar ohne weiteren Aufschub. Ich werde es ihr nicht sagen, wenn du sie zu der Annahme verleitest, du liebtest mich und hättest zugestimmt, meine Frau zu werden, und uns so die Flucht gelingt, wie du es versprochen hast.«
Ich wende mein Gesicht von ihm ab. Wieder tritt Stille ein. Dann murmele ich: »Das werde ich.«
Richard nickt und seufzt. Er hält mich noch immer ganz fest, und nach einem kurzen Augenblick legt er seinen Mund an mein Ohr. »Da kommt sie!«, wispert er. »Sie schleicht um die Mauer. Sie will nach uns sehen, ohne uns zu stören. Nun also, lass sie wissen, dass du mein bist …«
Er drückt mir einen Kuss auf das Haar. Sein Körper, sein Druck, die Hitze, die er ausströmt, die Schwüle des Tages und meine eigene Verwirrung – das alles lässt mich kraftlos dastehen und ihn gewähren lassen. Er nimmt eine Hand von meiner Taille und hebt meinen Arm. Er küsst den Stoff meines Ärmels. Als ich seinen Mund an meinem Handgelenk spüre, zucke ich zurück. »Na, na«, sagt er. »Sei jetzt schön brav. Entschuldige meinen Schnurrbart. Stell dir vor, mein Mund sei der ihre.« Feucht haucht er mir die Worte auf die Haut. Er schiebt den Handschuhe ein wenig herunter, er öffnet die Lippen, er berührt meine Handfläche mit seiner Zungenspitze, und ich erschauere vor Schwäche, vor Angst und Abscheu – auch vor Entsetzen bei dem Gedanken, dass Sue dasteht und zusieht, voller Zufriedenheit, weil sie glaubt, ich gehöre ihm.
Denn er hat mir mich selbst gezeigt. Er führt mich zu ihr, wir gehen zum Haus, sie nimmt mir den Umhang ab, zieht mir die Schuhe aus. Ihre Wangen sind trotz allem rosig. Sie steht mit gerunzelter Stirn vor dem Spiegel, streicht mit einer Hand sanft über ihr Gesicht … Das ist alles, was sie tut. Doch ich sehe es, und mein Herz macht einen Sprung – ein Fallen oder Stürzen, in dem so viel panischer Schrecken liegt, so viel Dunkelheit, das ich es für Angst halte oder Wahnsinn. Ich sehe ihr zu, wie sie sich dreht und streckt, wie sie ziellos durch das Zimmer geht – sehe, wie sie all jene sorglosen ungekünstelten Gesten macht, die meinen begehrlichen Blicken schon vor langer Zeit aufgefallen sind. Ist dies Begierde? Wie seltsam, dass ausgerechnet ich es nicht weiß! Doch ich hatte mir Begierde kleiner vorgestellt, gefälliger. Ich hatte angenommen, sie sei an bestimmte Organe gebunden, so wie der Geschmackssinn an den Mund gebunden ist und der Gesichtssinn an die Augen. Dieses Gefühl verfolgt mich und ergreift Besitz von mir wie eine Krankheit. Es bedeckt mich wie eine Haut.
Ich bin überzeugt, dass Sue es merken muss. Nun, da er es benannt hat, denke ich, es müsse mich färben oder brandmarken – ich denke, es müsse mich mit einem leuchtend roten Zeichen brandmarken wie die rote Farbe, die auf den Bildern meines Onkels die heißen Stellen, die Lippen und klaffenden Spalten und nackten ausgepeitschten Glieder kennzeichnet. An jenem Abend habe ich Angst, mich vor ihr zu entkleiden. Ich habe Angst, neben ihr zu liegen. Ich habe Angst vor dem Schlaf. Ich habe Angst, von ihr zu träumen. Ich habe Angst, mich im Traum zu ihr umzudrehen und sie zu berühren …
Doch wenn sie eine Veränderung an mir bemerkt, dann nimmt sie an, ich hätte mich Richards wegen verändert. Wenn sie spürt, wie ich zittere, wenn sie spürt, wie heftig mein Herz schlägt, dann denkt sie, ich erbebte seinetwegen. Sie wartet, wartet noch immer.
Am nächsten Tag mache ich mit ihr einen Spaziergang zum Grab meiner Mutter. Ich sitze da und starre auf den Grabstein, den ich so hübsch sauber und frei von allen Makeln erhalten habe. Ich würde ihn am liebsten mit einem Hammer zertrümmern. Ich wünschte – wie ich es mir schon viele Male gewünscht habe –, meine Mutter wäre noch am Leben, damit ich sie noch einmal umbringen könnte. Ich sage zu Sue: »Weißt du, weshalb sie gestorben ist? Ich habe sie umgebracht – meine Geburt hat sie umgebracht!«, und es kostet mich einige Mühe, keinen triumphalen Unterton in meiner Stimme mitschwingen zu lassen.
Sue fällt es nicht auf. Sie sieht mich an, und ich fange an zu weinen, und an der Stelle, an der sie etwas hätte sagen können, um mich zu trösten, sagt sie: »Mr. Rivers.«
Da wende ich mich verächtlich von ihr ab. Sie kommt zu mir und führt mich zur Tür der Kapelle – vielleicht um meine Gedanken auf die Hochzeit zu lenken. Die Tür ist verschlossen, so können wir nicht hineingehen. Sie wartet darauf, dass ich etwas sage. Schließlich erzähle ich ihr pflichtgemäß: »Mr. Rivers hat um meine Hand angehalten, Sue.«
Sie sagt, das freue sie. Und als ich wieder weine – Krokodilstränen diesmal, die die echten fortspülen – und die Hände ringe und ausrufe: »Ach! Was soll ich nur tun?«, legt sie mir die Hand auf den Arm, schaut mir in die Augen und sagt: »Er liebt Sie.«
»Glaubst du das wirklich?«
Sie sagt, sie wisse es. Sie verzieht keine Miene. Sie sagt: »Sie müssen Ihrem Herzen folgen.«
»Ich weiß nicht«, sage ich. »Wenn ich es nur wüsste!«
»Doch ihn zu lieben«, sagt sie, »und ihn dann zu verlieren!«
Ich ertrage ihren durchdringenden Blick nicht und wende die Augen ab. Sie erzählt mir von klopfenden Herzen und entzückenden Stimmen und Träumen. Ich spüre seinen Kuss wie ein Brandmal auf meiner Handfläche. Und mit einem Mal wird ihr klar, wie sehr ich ihn nicht zu lieben, sondern zu fürchten und zu hassen gelernt habe.
Sie erblasst. »Was wollen Sie jetzt tun?«
»Was kann ich tun? Was für eine Wahl bleibt mir denn?«
Sie gibt keine Antwort. Sie wendet sich bloß von mir ab und schaut einen Moment lang auf die versperrte Kapellentür. Ich betrachte ihr blasses Gesicht, ihr Kinn, den Punkt, den die Nadel auf ihrem Ohrläppchen hinterlassen hat. Als sie sich mir wieder zuwendet, ist ihr Gesicht verändert.
»Heiraten Sie ihn«, rät sie mir. »Er liebt sie. Heiraten Sie ihn, und tun Sie alles, was er sagt.«
Sie ist nach Briar gekommen, um mich in den Ruin zu treiben, mich zu betrügen und mir Leid anzutun. Sieh sie dir doch an, sage ich mir selbst. Sieh nur, wie schmächtig sie ist, wie braun und gewöhnlich! Eine Diebin, eine kleine Trickdiebin! Ich glaube meine Begierde herunterschlucken zu können, so wie ich meinen Kummer und meine Wut heruntergeschluckt habe. Soll ich mir meine Pläne etwa vereiteln lassen, soll ich mich etwa aufhalten lassen – an meine Vergangenheit fesseln, von meiner Zukunft abhalten lassen – von ihr? Nein, das werde ich nicht. Der Tag unserer Flucht rückt näher. Nein. Der Monat bringt warmes Wetter mit, die Nächte werden drückend. Nein, nein –
»Du bist grausam«, sagt Richard. »Ich glaube, du liebst mich nicht, wie du mich lieben solltest. Ich glaube –« Er wirft Sue einen verstohlenen Seitenblick zu. »Ich glaube, es muss wohl jemand anderen geben, dem dein Herz gehört …«
Manchmal sehe ich, wie er sie ansieht, und dann denke ich, er hat es ihr gesagt. Manchmal sieht sie mich so merkwürdig an – oder ihre Hände kommen mir, wenn sie mich berührt, so steif vor, so nervös und unbeholfen –, dass ich denke, sie muss es wissen. Hin und wieder bin ich gezwungen, die beiden in meinem Zimmer allein zu lassen. Dann könnte er es ihr sagen.
Was sagst du dazu, Suky? Sie liebt dich!
Sie liebt mich? Wie eine Dame ihre Zofe liebt?
Wie gewisse Damen vielleicht ihre Zofen lieben. Hat sie nicht Wege gefunden, dich immer in ihrer Nähe zu haben? Habe ich das getan? Hat sie nicht vorgegeben, schlecht zu träumen? Habe ich das? Hat sie sich nicht von dir küssen lassen? Pass auf, Suky, dass sie nicht versucht, dich zurückzuküssen …
Würde sie laut auflachen, wie er behauptet hat? Würde sie sich schütteln? Mir scheint, als sei sie auf der Hut, wenn sie neben mir liegt, als halte sie Arme und Beine auf ihrer Seite. Es kommt mir vor, als sei sie achtsam geworden, wachsam. Doch je mehr sich dieser Gedanke einschleicht, umso mehr begehre ich sie und umso mehr keimt und wächst mein Verlangen. Ich bin zu einem grässlichen Leben erwacht – oder die Dinge um mich herum sind zum Leben erwacht. Ihre Farben sind zu lebhaft, ihre Oberflächen zu harsch geworden. Selbst Schatten lassen mich aufschrecken. Ich bilde mir ein, Gestalten zu sehen, die aus den verblichenen Mustern der staubigen Teppiche und Wandbehänge steigen oder mit den milchigen Blüten der Feuchtigkeit über Decken und Wände kriechen.
Selbst die Bücher meines Onkels haben sich verwandelt, und das ist das Schlimmste von allem. Ich hatte sie immer für vollkommen leblos gehalten. Nun erwachen die Worte – wie die Gestalten auf den Wänden – zum Leben und bekommen eine Bedeutung. Ich gerate durcheinander, stottere. Ich verliere die Zeile. Mein Onkel kreischt auf – greift nach dem Briefbeschwerer aus Messing auf seinem Schreibtisch und wirft ihn nach mir. Das beruhigt mich eine Weile lang. Doch dann lässt er mich eines Abends aus einem gewissen Werk lesen … Richard beobachtet mich, mit der Hand vor dem Mund und einem Ausdruck von Belustigung im Gesicht. Denn das Werk, aus dem ich vorlese, erzählt von all den Arten, auf die eine Frau eine andere Frau zu ihrem sinnlichen Genuss gebrauchen kann, wenn ihr der Mann fehlt.
»Und sie drückte ihre Lippen und ihre Zunge darauf und hinein –«
»Gefällt es Ihnen, Rivers?«, fragt mein Onkel.
»Ich muss gestehen, Sir, dass dem so ist.«
»Nun, so geht es vielen Männern, obgleich es meinen Geschmack rein gar nicht trifft. Trotz allem freut mich Ihr Interesse. Ich beschäftige mich in meinem Index in aller Ausführlichkeit mit dem Thema. Lies weiter, Maud. Lies weiter.«
Das tue ich. Und ich verachte mich selbst – und trotz Richards dunklem, peinigendem Blick spüre ich, wie mich die Worte erregen. Ich erröte und schäme mich. Ich schäme mich bei dem Gedanken, das, was ich für das geheime Buch meines Herzens gehalten habe, könnte mit diesem armseligen Zeug zusammen kategorisiert werden und seinen Platz in der Sammlung meines Onkels finden. Jeden Abend verlasse ich den Salon und gehe nach oben – ich gehe langsam und klopfe mit den Zehenspitzen meiner Füße, die in ihren Pantoffeln stecken, gegen jede einzelne Stufe. Wenn ich sie gleichmäßig treffe, kann mir nichts geschehen. Dann stehe ich im Dunkeln da. Wenn Sue hereinkommt und mich entkleidet, muss ich meine ganze Willenskraft aufbieten, um ihre Berührung ungerührt über mich ergehen zu lassen, so wie eine Wachspuppe vielleicht die schnellen, gleichgültigen Berührungen des Schneiders über sich ergehen lässt.
Und doch müssen selbst wächserne Glieder schließlich der Wärme jener Hände nachgeben, die sie heben und verbiegen. Und letztendlich kommt jene Nacht, in der ich ihren nachgebe.
Wenn ich schlafe, träume ich nun auch unaussprechliche Träume. Und jedes Mal erwache ich in einem verwirrenden Durcheinander aus Begehren und Angst. Manchmal rührt Sue sich. Manchmal auch nicht. »Schlafen Sie weiter«, sagt sie, wenn sie aufwacht. Manchmal tue ich es. Manchmal auch nicht. Manchmal stehe ich auf und laufe im Zimmer umher. Manchmal nehme ich meine Tropfen. In jener Nacht, in der sich alles ändert, nehme ich die Tropfen. Dann lege ich mich wieder neben sie. Doch ich versinke nicht in Lethargie, sondern in einem noch größeren Durcheinander. Ich denke an die Bücher, die ich in letzter Zeit Richard und meinem Onkel vorgelesen habe. Nun kehren sie in Phrasen und Fragmenten zu mir zurück – drückte ihre Lippen und ihre Zunge – ergreift meine Hand – Hüften, Lippen und Zunge – erzwang fast gewaltsam – packte meine Brüste – öffnete weit die Lippen meiner kleinen – die Lippen ihrer kleinen Möse –
Ich kann diese Worte nicht zum Schweigen bringen. Ich kann sie beinahe sehen, wie sie sich in der Dunkelheit von ihren bleichen Bücherseiten erheben, sich sammeln, umherschwirren und vereinigen. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen. Doch ich muss wohl irgendein Geräusch gemacht haben oder eine Bewegung, denn als ich die Hände vom Gesicht nehme, ist sie wach und sieht mich an. Ich weiß, dass sie mich ansieht, obgleich es im Bett so dunkel ist.
»Schlafen Sie«, sagt sie. Ihre Stimme klingt belegt.
Ich spüre meine Beine, nackt und bloß unter meinem Nachthemd. Ich spüre die Stelle, an der sie sich treffen. Ich spüre die Wörter, die noch immer umherschwirren. Die Wärme ihrer Glieder brennt, brennt durch die Fasern des Bettes hindurch.
Ich sage: »Ich habe Angst …«
Da verändert sich ihr Atem. Ihre Stimme wird klarer, freundlicher. Sie gähnt. »Was ist denn?«, fragt sie. Sie reibt sich die Augen. Sie streicht sich das Haar aus der Stirn. Wäre es irgendein anderes Mädchen, nur nicht Sue! Wäre es Agnes! Wäre sie ein Mädchen aus einem Buch –!
Die Mädchen verschenken dort schnell ihr Herz. Das ist ja gerade der springende Punkt.
Hüften, Lippen und Zunge –
»Hältst du mich für einen guten Menschen?«
»Einen guten Menschen, Miss?«
Das tut sie. Es war einmal wie ein sicherer Hafen für mich. Doch nun ist es eine Falle. Ich sage: »Ich wollte – Ich wollte, du würdest sagen –«
»Ihnen was sagen, Miss?«
Es mir sagen. Mir sagen, wie ich dich retten kann. Wie ich mich selbst retten kann. Es ist stockfinster im Zimmer. Hüften, Lippen –
Die Mädchen verschenken dort schnell ihr Herz.
»Ich wollte, du würdest mir sagen, was eine Ehefrau in ihrer Hochzeitsnacht zu tun hat …« Zuerst ist es ganz leicht. Schließlich macht man es so in den Büchern meines Onkels: zwei Frauen, eine bewandert, die andere unschuldig …
»Er wird«, beginnt sie, »Sie küssen wollen. Er wird Sie umarmen wollen.«
Es ist ganz leicht. Ich spreche meine Rolle, und sie spricht – mit ein wenig Vorsagen – die ihre. Die Worte sinken zurück in ihre Seiten. Es ist leicht, es ist leicht …
Dann beugt sie sich über mich und drückt ihren Mund auf meinen.
Ich habe schon den Druck der reglosen trockenen Lippen mancher Herren auf meiner vom Handschuh bedeckten Hand, meiner Wange gespürt. Ich habe Richards nasse, einschmeichelnde Küsse auf meiner Handfläche über mich ergehen lassen. Sues Lippen sind kühl und glatt: Sie passen sich meinen nur unvollkommen an, doch dann werden sie wärmer, feuchter. Ihr Haar fällt mir ins Gesicht. Ich kann sie nicht sehen, ich kann sie nur spüren und schmecken. Sie schmeckt nach Schlaf, leicht säuerlich. Zu säuerlich. Ich öffne die Lippen – um zu atmen oder zu schlucken oder vielleicht auch, um mich ihr zu entwinden, doch indem ich atme oder schlucke oder mich winde, scheine ich sie in meinen Mund hineinzuziehen. Ihre Lippen teilen sich ebenfalls. Ihre Zunge kommt zwischen ihnen hervor und berührt meine.
Und da erschauere ich oder erzittere. Denn es ist, als wäre ich auf etwas Rohes gestoßen, wie den pochenden Schmerz einer Wunde, eines Nervs. Sie spürt, wie ich auffahre, und zieht sich zurück, doch langsam, langsam und unwillig, als hingen unsere feuchten Münder aneinander und zerrissen, als sie sich voneinander lösen müssen. Sie ist über mir. Ich spüre das rasche Pochen ihres Herzens und halte es für meinen eigenen Herzschlag. Doch es ist ihrer. Ihr Atem kommt stoßweise. Sie hat angefangen, ganz leicht zu zittern.
Dann erfasst mich ihre Erregung, ihre Verblüffung.
»Spürst du es?«, fragt sie. Ihre Stimme klingt fremd in der vollkommenen Dunkelheit. »Spürst du es?«
Ich spüre es. Ich spüre es wie ein Fallen, ein Stürzen, ein Rieseln wie von Sand, der durch eine Sanduhr rauscht. Doch ich bin nicht trocken wie Sand. Ich bin nass. Ich fließe wie Wasser, wie Tinte.
Und wie sie habe ich angefangen zu zittern.
»Hab keine Angst«, flüstert sie. Ihre Stimme stockt. Ich bewege mich abermals, doch auch sie bewegt sich, sie kommt näher, und mein Leib zuckt und drängt sich an ihren. Sie bebt schlimmer noch als zuvor. Sie bebt, weil ich ihr so nahe bin! Sie sagt: »Denk an Mr. Rivers.« – Ich denke an Richard, wie er zusieht. Wieder sagt sie: »Hab keine Angst.« – Doch sie scheint es zu sein, die Angst hat. Ihre Stimme klingt noch immer stockend. Sie küsst mich wieder. Dann hebt sie die Hand, und ich spüre, wie ihre Fingerspitzen zitternd mein Gesicht streicheln.
»Siehst du«, sagt sie. »Es ist ganz leicht, es ist ganz leicht. Denk noch mehr an ihn. Er wird dich – er wird dich berühren wollen.«
»Mich berühren?«
»Nur berühren«, sagt sie. Die zitternde Hand rutscht nach unten. »Nur berühren. So. Und so.«
Als sie mein Nachthemd nach oben schiebt und mir zwischen die Beine greift, werden wir beide ganz starr. Als sie die Hand dann wieder bewegt, zittern ihre Finger nicht mehr. Sie sind nass geworden und gleiten, und beim Gleiten scheinen sie, wie ihre Lippen, die sich gegen meine drücken, ein Eigenleben zu bekommen und mich zu locken, mich aus der Dunkelheit heraus, aus meiner naturgegebenen Gestalt herauszuziehen. Ich dachte, ich hätte mich schon vorher nach ihr gesehnt: Nun spüre ich eine Sehnsucht, so überwältigend, so harsch, dass ich fürchte, sie nie stillen zu können. Ich glaube, sie wird wachsen und wachsen und mich in den Wahnsinn treiben oder mich umbringen. Und doch bewegt sich ihre Hand noch immer ganz langsam. Sie wispert: »Wie weich du bist! Wie warm! Ich will –« Ihre Hand wird noch langsamer. Sie fängt an, Druck auszuüben. Ich halte den Atem an. Das lässt sie erst zögern, und dann noch fester drücken. Und schließlich wird der Druck so stark – ich spüre, wie mein Leib nachgibt, ich spüre sie in mir. Ich muss wohl aufgeschrien haben. Jetzt zögert sie jedoch nicht mehr, sondern kommt näher an mich heran und presst die Hüften an meine Schenkel und dann drückt sie wieder. Wie zierlich sie ist! Doch ihre Hüften sind spitz, ihre Hände sind rau, sie legt sich auf mich, sie stößt, sie bewegt die Hüften und die Hand in einem Rhythmus, einem Takt, einem schneller werdenden Tempo. Sie greift hinein. Sie greift so tief hinein, dass sie mein Leben, mein erschauerndes Herz selbst einfängt. Bald scheine ich nirgendwo zu sein als an jener einen Stelle, an der sie mich gefasst hat. Und dann – »Oh, da!«, ruft sie. »Genau da! Oh, da!« – und ich zerbreche, zerspringe, zerberste in ihrer Hand. Sie fängt an zu weinen. Ihre Tränen fallen auf mein Gesicht. Sie legt ihren Mund darauf. Du Perle, murmelt sie. Ihre Stimme klingt rau. Du Perle.
Ich weiß nicht, wie lange wir danach noch so daliegen. Sie sinkt neben mich, das Gesicht in meinem Haar. Langsam zieht sie ihre Finger zurück. Meine Schenkel sind nass, dort, wo sie gelegen und sich gegen mich gedrückt hat. Die Federn der Matratze haben unter uns nachgegeben, im Bett ist es eng, es ist zerwühlt und heiß. Sie schlägt die Decke zurück. Die Nacht ist noch immer undurchdringlich, das Zimmer noch immer kohlschwarz. Unser Atem geht noch immer stoßweise, unsere Herzen klopfen laut – schneller und lauter, so scheint es mir, im immer tieferen Schweigen. Und das Bett – das Zimmer – das Haus! – scheinen erfüllt vom Echo unserer Stimmen, unseren Flüsterns und unserer Schreie.
Ich kann sie nicht sehen. Doch nach einem Augenblick findet sie meine Hand und drückt sie fest, dann führt sie sie an ihren Mund und küsst meine Finger, schmiegt ihre Wange in meine Handfläche. Ich spüre das Gewicht und die Form der Knochen in ihrem Gesicht. Ich spüre, wie sie blinzelt. Sie sagt kein Wort. Sie schließt die Augen. Ihr Gesicht wird ganz schwer. Sie erzittert einmal. Die Hitze steigt von ihr auf wie ein Duft. Ich greife nach der Decke, ziehe sie wieder nach oben und lege sie sanft über sie.
Alles, sage ich mir, hat sich verändert. Ich glaube, vorher war ich tot. Nun hat sie mein Leben berührt, mein Innerstes. Sie hat meinen Leib zurückgeholt und mich geöffnet. Alles hat sich verändert. Ich spüre sie noch immer in mir. Ich spüre noch, wie sie sich gegen meinen Schenkel presst. Ich stelle mir vor, wie sie aufwacht und sich unsere Blicke treffen. Ich denke: Dann werde ich es ihr sagen. Ich werde sagen: Ich hatte die Absicht, dich zu betrügen. Jetzt kann ich dich nicht mehr betrügen. Das war Richards Plan. Wir können unseren eigenen Plan schmieden. – Wir können diesen Plan zu dem unseren machen, denke ich. Oder wir können ihn gänzlich aufgeben. Ich muss nur aus Briar entkommen. Dabei kann sie mir helfen – sie ist eine Diebin und sehr gewieft. Wir können uns auch heimlich bis nach London durchschlagen und uns selbst Geld beschaffen …
So plane und kalkuliere ich, während sie mit dem Gesicht auf meiner Hand schlummernd neben mir liegt. Mein Herz schlägt wieder heftig. Wie Licht oder Farbe erfüllt mich die Vorstellung des Lebens, das wir zusammen führen werden. Dann schlafe auch ich ein. Und im Schlaf muss ich mich wohl von ihr fortgedreht haben – oder sie hat sich von mir fortgedreht –, und dann muss sie wohl aufgewacht sein, als der Tag anbrach, und aufgestanden sein. Denn als ich die Augen öffne, ist sie fort, das Bett ist kalt. Ich höre sie in ihrem eigenen Zimmer, wie sie mit Wasser herumplanscht. Ich setze mich im Bett auf, und mein Nachthemd ist an der Brust offen. Sie hat im Dunkeln die Schleifen gelöst. Ich bewege meine Beine. Ich bin nass, noch immer nass, vom Gleiten und Pressen ihrer Hände.
Du Perle, hat sie gesagt.
Dann kommt sie herein, und unsere Blicke treffen sich. Mir springt das Herz im Leibe.
Sie wendet den Blick ab.
Zunächst halte ich sie nur für befangen. Für schüchtern und gehemmt. Wortlos geht sie durch das Zimmer, legt meine Unterröcke und mein Kleid zurecht. Ich stehe auf, damit sie mich waschen und ankleiden kann. Nun wird sie etwas sagen, denke ich. Doch das tut sie nicht. Und als sie die Röte auf meinen Brüsten sieht, die Male, die ihr Mund hinterlassen hat, die Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen, da scheint es mir, als schüttele sie sich. Erst da kommt die Angst. Sie ruft mich zum Spiegel hinüber. Ich beobachte ihr Gesicht. Es erscheint mir fremd, schief und falsch. Sie steckt Nadeln in mein Haar, wendet den Blick dabei aber nicht von ihren eigenen unsicheren Händen. Ich denke, sie schämt sich.
Also spreche ich.
»Wie tief und fest ich geschlafen haben muss«, sage ich sachte, »nicht wahr?«
Ihre Lider flattern. »Das haben Sie«, antwortet sie. »Tief und traumlos.«
»Traumlos – bis auf den einen«, sage ich. »Doch das war ein – ein sehr schöner Traum. Ich glaube, du kamst darin vor, Sue …«
Sie errötet, und ich sehe zu, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht steigt, und wieder spüre ich den Druck ihres Mundes auf meinem, den Sog unserer wilden, unvollkommenen Küsse, das Zustoßen ihrer Hand. Ich hatte vor, sie zu betrügen. Nun kann ich es nicht mehr. »Ich bin nicht die, für die du mich hältst«, werde ich sagen. »Du denkst, ich wäre ein guter Mensch. Doch das bin ich nicht. Aber mit deiner Hilfe könnte ich versuchen, einer zu werden. Es war sein Plan. Wir können ihn zu unserem machen –«
»In Ihrem Traum?«, sagt sie schließlich und weicht zurück. »Das glaube ich nicht, Miss. Bestimmt – bestimmt war es Mr. Rivers. Dort ist er! Er hat seine Zigarette schon beinahe zu Ende geraucht. Sie werden ihn verpassen –« Sie gerät kurz ins Stocken, doch dann fährt sie fort. »Sie werden ihn verpassen, wenn Sie nicht gleich herkommen!«
Ich sitze einen Moment da wie betäubt, als hätte sie mich geschlagen. Dann stehe ich auf und gehe leblos zum Fenster. Ich sehe zu, wie Richard umhergeht, seine Zigarette raucht, sich das widerspenstige Haar aus der Stirn streicht. Doch ich bleibe noch lange, nachdem er schon den Rasen verlassen hat und zu meinem Onkel gegangen ist, vor der Scheibe stehen. Wäre der Tag trüb genug, könnte ich mein Gesicht darin sehen. Ich sehe es trotzdem. Meine hohlen Wangen, meine Lippen, die zu voll sind, zu rosig – noch voller und noch rosiger als sonst vom Druck von Sues Mund. Ich denke an meinen Onkel – »Ich habe deine Lippen mit Gift beträufelt, Maud« – und an Barbara, die vor mir zurückschreckte. Ich denke an Mrs. Stiles, die Lavendelseife auf meine Zunge gerieben und sich dann wieder und wieder die Hände an der Schürze abgewischt hat.
Alles hat sich geändert. Nichts hat sich geändert, gar nichts. Sie hat mein Fleisch zurückgeschoben, doch die Haut darüber wird sich schließen, wird sich versiegeln, wird vernarben und verhärten. Ich höre, wie sie in mein Ankleidezimmer geht. Ich sehe zu, wie sie sich hinsetzt und ihr Gesicht bedeckt. Ich warte, doch sie schaut nicht auf. Da glaube ich, sie wird mich nie wieder aufrichtig ansehen. Ich hatte vor, sie zu retten. Nun sehe ich ganz deutlich, was geschehen wird, wenn ich es tue – wenn ich Richards Plan verwerfe. Er wird Briar verlassen, mit ihr an seiner Seite. Warum sollte sie bleiben? Sie wird gehen, und ich werde zurückbleiben – bei meinem Onkel, bei den Büchern, bei Mrs. Stiles, bei einem neuen unterwürfigen, verwundbaren Mädchen … Ich denke an mein Leben – an die Stunden, die Minuten, die Tage, aus denen es besteht, an die Stunden, die Minuten und die Tage, die noch vor mir liegen, die noch gelebt werden wollen. Ich denke daran, wie sie sein werden – ohne Richard, ohne Geld, ohne London, ohne Freiheit. Ohne Sue.
Und so sehen Sie, dass es Liebe ist – nicht Verachtung oder Böswilligkeit, einzig Liebe, die mich am Ende dazu treibt, ihr weh zu tun.