KAPITEL 13
An die darauffolgende Nacht kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Ich erinnere mich daran, wie ich neben dem Bett hocken bleibe und meine Augen verberge und nicht aufstehen und in die Küche hinuntergehen will, wie Mrs. Sucksby es möchte. Ich erinnere mich daran, dass Richard zu mir kommt und mich anstupst, dass er dasteht und lacht und fortgeht, als ich mich nicht rühre. Ich erinnere mich daran, dass jemand mir Suppe bringt, die ich nicht essen will. Dass jemand die Lampe fortnimmt und es ganz dunkel wird im Zimmer. Dass ich schließlich doch aufstehen muss, um zum Klosett zu gehen, und dass man Dainty, das pausbackige rothaarige Mädchen, abstellt, mich hinzuführen und an der Tür stehenzubleiben, damit ich nicht in die Nacht hinauslaufe.
Ich erinnere mich daran, dass ich wieder weine und man mir noch mehr von meinen Tropfen in den Brandy gibt. Dass man mich entkleidet und in ein Nachthemd steckt, das nicht mein eigenes ist. Dass ich einschlafe und vom Rascheln von Taft geweckt werde, dass ich mit Grausen sehe, wie Mrs. Sucksby mit gelöstem Haar dasteht, ihr Kleid abstreift, dabei nackte Haut und schmutzige Unterwäsche entblößt, die Kerze ausbläst und dann neben mich ins Bett steigt. Ich erinnere mich daran, wie sie neben mir liegt und mich in der Annahme, dass ich schlafe, berührt, dann die Hände wieder zurückzieht und schließlich eine Locke meines Haares nimmt und sie an ihre Lippen drückt.
Ich weiß, dass ich mir der Hitze, die von ihr ausgeht, bewusst bin, ihres massigen Körpers und ihres säuerlichen Geruchs. Ich weiß, dass sie bald tief und fest schläft und schnarcht, während ich immer wieder aufwache. Der unruhige Schlaf lässt die Stunden nur schleppend vergehen. Es scheint mir, als bestünde diese Nacht aus vielen Nächten – Jahren von Nächten! –, durch die ich wie durch Nebelschwaden zu taumeln gezwungen bin. Einmal wache ich auf und wähne mich in meinem Ankleidezimmer in Briar, dann in meinem Zimmer bei Mrs. Cream, dann in einem Bett im Irrenhaus, neben mir bequem ausgestreckt eine riesige Wärterin. Hundert Mal wache ich auf. Ich ächze und sehne mich nach Schlaf, denn stets kommt letztlich die Erinnerung daran, jäh und fürchterlich, wo ich tatsächlich bin, wie ich hierher-gekommen bin und wer und was ich wirklich bin.
Schließlich liege ich da und kann einfach nicht mehr einschlafen. Langsam beginnt es zu dämmern. Draußen brennt eine Straßenlaterne und erleuchtet die Fäden der verblichenen Tüllgardine am Fenster. Nun wird sie gelöscht. Das Licht verwandelt sich in ein schmutziges Rosa. Das Rosa weicht nach und nach einem ungesunden Gelb. Es kriecht herein, und mit ihm kriechen auch Geräusche herein – leise zunächst, dann steigern sie sich zu einem überwältigenden Crescendo: krähende Hähne, Pfiffe und Glockengeläut, Hunde, schreiende Kinder, lautes Rufen, Husten, Spucken, das Trampeln von Füßen, das endlose hohle Stampfen von Hufen und das Knirschen von Wagenrädern. Es steigt herauf aus der Kehle Londons. Es ist sechs oder sieben Uhr. Mrs. Sucksby schläft noch neben mir, doch ich bin inzwischen hellwach, fühle mich elend und habe ein flaues Gefühl im Magen. Ich stehe auf, und obgleich es Mai ist und milder als in Briar, erzittere ich. Ich trage noch meine Handschuhe, aber meine Kleider und meine Schuhe und die Ledertasche hat Mrs. Sucksby in einer Truhe eingeschlossen. »Nur falls du aufwachst und verwirrt bist und denkst, du wärst zu Hause und dich anziehen und hinausgehen willst und dich dann verirrst.« Ich erinnere mich an ihre Worte, jetzt, da ich benommen vor ihr stehe. Wo hat sie nur den Schlüssel hingelegt? Und den Schlüssel für die Zimmertür? Ich erzittere abermals, heftiger, und mir wird noch übler. Doch meine Gedanken sind von einer schrecklichen Klarheit. Ich muss hier raus! Ich muss raus aus London – irgendwohin – zurück nach Briar. Ich muss Geld auftreiben. Ich muss, denke ich – und das ist der klarste Gedanke von allen –, ich muss Sue holen!
Mrs. Sucksby atmet schwer und gleichmäßig. Wo könnte sie die Schlüssel versteckt haben? Ihr Taftkleid hängt an der Spanischen Wand. Leise gehe ich hin und klopfe die Taschen des Rocks ab. Leer. Ich stehe da und schaue sorgfältig in den Regalen, der Kommode, auf dem Kaminsims nach – keine Schlüssel, aber viele Stellen, an denen man sie verstecken könnte.
Dann regt Mrs. Sucksby sich; sie wacht nicht auf, dreht aber den Kopf, und ich glaube zu wissen, glaube, mich erinnern zu können … Sie hat die Schlüssel unter ihr Kissen gesteckt. Mir fällt wieder die geschickte Handbewegung ein, das gedämpfte Klirren des Metalls. Ich mache einen Schritt auf sie zu. Ihre Lippen sind geöffnet, ihr weißes Haar liegt auf ihrer Wange. Ich mache noch einen Schritt, und die Dielen knarzen. Ich stehe neben ihr – warte einen Moment, ein wenig verunsichert. Dann greife ich mit der Hand unter die Ecke des Kissens und schiebe sie ganz langsam darunter.
Sie öffnet die Augen. Packt mein Handgelenk und lächelt. Hustet.
»Schätzchen, ich liebe dich dafür, dass du es versucht hast«, sagt sie und wischt sich über den Mund. »Aber das Mädchen ist noch nicht geboren worden, das so fingerfertig wäre, an mir vorbeizukommen, wenn ich das nicht will.« Eisern hält sie meinen Arm umklammert, doch aus der Umklammerung wird eine Liebkosung. Ich erschauere. »Herrje, dir ist ja eiskalt!«, sagt sie da. »Komm, Herzchen, lass dich einwickeln.« Sie zieht die Steppdecke vom Bett und legt sie mir um.
»Besser so, Liebes?«
Mein Haar fällt mir wirr ins Gesicht. Ich betrachte sie durch das Haar hindurch. »Ich wollte, ich wäre tot«, sage ich.
»Aber, aber«, antwortet sie und erhebt sich. »Was ist denn das für ein Gerede?«
»Also gut, ich wollte, Sie wären tot.«
Sie schüttelt den Kopf, noch immer lächelnd. »Wirre Worte, liebes Mädchen!« Sie schnuppert. Aus der Küche steigt ein widerwärtiger Geruch herauf. »Riechst du das? Mr. Ibbs macht Frühstück. Mal sehen, ob du dir noch wünschst, tot zu sein, wenn du erst mal einen Teller Bückling vor der Nase hast!«
Erwartungsfroh reibt sie sich die Hände. Sie sind rot, doch die erschlaffende Haut ihrer Arme ähnelt in Färbung und Glanz eher Elfenbein. Sie hat in Unterhemd und Unterrock geschlafen. Nun hakt sie ein Paar Strumpfhalter ein und steigt in ihr Taftkleid, dann kommt sie herüber, taucht den Kamm ins Wasser und bürstet sich das Haar. Mit gebrochener Stimme singt sie währenddessen vor sich hin. Ich lasse mein wirres Haar vor meinen Augen hängen und sehe ihr zu. Ihre nackten Füße sind rissig, und die Zehen wölben sich nach oben. Ihre Beine sind fast unbehaart. Als sie sich nach ihren Strümpfen bückt, ächzt sie. Ihre Schenkel sind fett und haben bleibende Abdrücke von den kneifenden Strumpfbändern.
»So«, sagt sie, als sie sich angekleidet hat. Einer der Säuglinge hat zu weinen begonnen. »Jetzt fangen meine anderen auch alle an. Komm herunter, Liebes, ja?, während ich ihnen ihren Brei gebe.«
»Ich soll herunterkommen?«, frage ich. Ich muss hinunter, wenn ich fliehen will. Aber ich sehe mich an. »So? Wollen Sie mir nicht mein Kleid zurückgeben, meine Schuhe?«
Vielleicht wirke ich jedoch zu eifrig, als ich das sage, oder mein Blick hat etwas Verschlagenes oder spiegelt meine Verzweiflung. Mrs. Sucksby zögert, dann sagt sie: »Dieses staubige alte Kleid? Die Stiefel? Na, das ist doch Straßenkleidung. Nimm lieber diesen seidenen Morgenmantel.« Sie nimmt den Morgenrock vom Haken an der Rückseite der Tür. »So etwas tragen Damen, wenn sie den Morgen zu Hause verbringen. Hier sind auch seidene Pantoffeln. In denen wirst du bestimmt sehr hübsch aussehen! Schlüpf hinein, liebes Mädchen, und komm herunter zum Frühstück. Nur nicht so schüchtern. John Vroom steht nie vor zwölf auf, nur ich bin da und Gentleman – und der hat dich vermutlich schon im Negligé gesehen! – und Mr. Ibbs. Und den, Liebes, solltest du als – nun, sagen wir, als einen Onkel betrachten.«
Ich wende mich ab. Das Zimmer ist mir verhasst, aber ich werde ganz bestimmt nicht mit ihr in diese dunkle Küche gehen, solange ich nicht angekleidet bin. Mrs. Sucksby bettelt und lockt mich noch ein wenig, dann gibt sie auf und geht. Der Schlüssel dreht sich im Schloss.
Sofort gehe ich zu der Truhe, in der meine Sachen sind, und versuche, den Deckel zu öffnen. Er ist fest verschlossen und aus massivem Holz.
Also gehe ich zum Fenster hinüber und zerre am Fensterrahmen. Er lässt sich zwar ein wenig hochschieben, und die rostigen Nägel, die hineingehämmert sind, könnten, so schätze ich, nachgeben, wenn ich noch fester drücke. Aber das Fenster ist sehr schmal, und es geht tief hinunter, und ich bin noch immer nicht angekleidet. Schlimmer noch, auf der Straße sind Leute. Anfangs habe ich vor, sie um Hilfe anzurufen – die Scheibe einzuschlagen, zu schreien und zu winken –, doch dann sehe ich sie mir genauer an. Ich sehe ihre Gesichter, ihre staubigen Kleider, die Pakete, die sie tragen, die Kinder und Hunde, die neben ihnen herlaufen. Dies ist das wahre Leben, hat Richard zwölf Stunden zuvor gesagt. Es ist hart, es ist erbärmlich. Es hätte dein Leben sein sollen, doch Mrs. Sucksbys Güte hat dich davor bewahrt …
An der Tür des Hauses gegenüber, dessen Fensterläden herzförmige Löcher haben, sitzt ein Mädchen mit einem schmutzigen Verband und füttert einen Säugling. Sie hebt den Kopf, sieht mich an und schüttelt die Faust in meine Richtung.
Ich mache einen Satz zurück und bedecke mein Gesicht mit den Händen.
Als Mrs. Sucksby wiederkommt, bin ich bereit.
»Hören Sie«, sage ich und gehe zu ihr hin. »Wissen Sie, dass Richard mich aus dem Haus meines Onkels entführt hat? Wissen Sie, dass mein Onkel wohlhabend ist und nach mir suchen lassen wird?«
»Dein Onkel?«, fragt sie. Sie hat mir ein Tablett heraufgebracht, bleibt aber im Türrahmen stehen, bis ich zurückweiche.
»Mr. Lilly«, erkläre ich. »Sie wissen, wen ich meine. Er jedenfalls hält mich noch immer für seine Nichte. Glauben Sie nicht, dass er Männer losschicken wird, die mich schließlich finden werden? Glauben Sie etwa, er wird Ihnen dafür danken, dass Sie mich hier so festgehalten haben?«
»Ich denke, das wird er, wenn du ihm überhaupt am Herzen liegst. Haben wir es dir nicht gemütlich gemacht, Liebes?«
»Sie wissen, dass Sie das nicht getan haben. Sie wissen nur zu gut, dass Sie mich hier gegen meinen Willen festhalten. Um Gottes willen, geben Sie mir endlich mein Kleid!«
»Alles in Ordnung, Mrs. Sucksby?« Es ist Mr. Ibbs. Ich habe die Stimme erhoben, und das hat ihn aus der Küche an den Fuß der Treppe gelockt. Auch Richard hat sich in seinem Bett geregt. Ich höre, wie er durchs Zimmer geht, die Tür öffnet und lauscht.
»Alles in Ordnung!«, ruft Mrs. Sucksby leichthin. »So«, sagt sie zu mir. »Und hier ist dein Frühstück, siehst du, und wird ganz kalt.« Sie stellt das Tablett auf dem Bett ab. Die Tür ist offen, aber ich weiß, dass Mr. Ibbs noch immer am Fuße der Treppe steht, dass Richard oben abwartend an der Treppe horcht. »So«, sagt Mrs. Sucksby wieder. Auf dem Tablett steht ein Teller, und daneben liegen eine Gabel und eine Leinenserviette. Auf dem Teller sind zwei, drei bernsteinfarbene Fische in einem Sud aus Butter und Wasser. Sie haben Flossen und Gesichter. Die Serviette steckt in einem polierten silbernen Serviettenring, ein wenig wie der, den man für meinen ausschließlichen Gebrauch in Briar reserviert hatte, aber ohne die Initialen.
»Bitte, lassen Sie mich gehen«, sage ich.
Mrs. Sucksby schüttelt den Kopf. »Liebes«, erwidert sie, »wohin denn?«
Sie wartet ab, und als ich keine Antwort gebe, geht sie wieder. Richard schließt oben die Tür und kehrt ins Bett zurück. Ich höre ihn summen.
Am liebsten würde ich den Teller nehmen und an die Decke werfen, ans Fenster, an die Wand. Dann denke ich: Du musst stark sein. Du musst stark sein und bereit, fortzulaufen. Und so sitze ich da und esse – langsam, unglücklich, wobei ich sorgfältig die Gräten aus dem bernsteinfarbenen Fleisch picke. Meine Handschuhe werden feucht und bekommen Flecken. Und ich habe keine zum Wechseln.
Eine Stunde später kommt Mrs. Sucksby zurück und holt den leeren Teller. Nach einer weiteren Stunde bringt sie mir Kaffee. In der Zwischenzeit stehe ich am Fenster oder lausche an der Tür. Unruhig laufe ich umher, setze mich, stehe dann wieder auf. Ich wechsele zwischen Zorn, weinerlichem Gejammer und Stumpfsinn.
Dann kommt Richard. »Nun, Maud –« Das ist alles, was er sagt. Als ich ihn sehe, packt mich eine mörderische Wut. Ich stürze mich auf ihn und will ihm ins Gesicht schlagen. Er wehrt den Schlag ab und schleudert mich zu Boden, und da liege ich dann und trete wie wild um mich –
Wieder verabreichen sie mir eine Dosis der Arznei mit Brandy, und ein oder zwei Tage vergehen in Dunkelheit.
Als ich das nächste Mal erwache, ist es wieder ungewöhnlich früh. Im Zimmer ist ein kleiner Korbsessel aufgetaucht, golden angemalt, mit einem roten Kissen. Ich stelle ihn vor das Fenster und setze mich mit dem Morgenrock um die Schultern hinein, bis Mrs. Sucksby gähnt und die Augen aufschlägt.
»Liebes, ist alles in Ordnung?«, fragt sie, wie sie mich von nun an jeden Tag fragen wird, jeden einzelnen Tag. Und die Idiotie oder Perversität dieser Frage – da alles so rein gar nicht in Ordnung ist, da alles so verkehrt ist, dass ich fast lieber sterben würde, als es zu ertragen – lässt mich mit den Zähnen knirschen oder mir die Haare raufen und sie voller Abscheu ansehen. »Braves Mädchen«, sagt sie dann, und: »Du magst deinen neuen Stuhl, nicht wahr, Liebes? Ich wusste, er würde dir gefallen.« Sie gähnt wieder und sieht sich um. »Hast du den Topf?«, fragt sie. Wegen meines Schamgefühls benutze ich den Nachttopf immer hinter der Spanischen Wand. »Reich ihn rüber, Herzchen sei so gut. Ich platze gleich.«
Ich rühre mich nicht von der Stelle.
Nach einer kleinen Weile steht sie auf und holt ihn selbst. Es ist ein Ding aus weißem Porzellan, und innen ist es dunkel. Als ich ihn das erste Mal im Zwielicht sah, hielt ich das Dunkle für Haare, und Übelkeit überkam mich. Doch wie sich herausstellte, handelt es sich dabei bloß um eine Verzierung – ein großes Auge mit Wimpern, und drumherum steht in schlichter schwarzer Schrift ein Motto:
Benütze mich wohl, halt rein mich und schön
dann verrat’ ich auch niemandem, was ich geseh’n!
– Ein Geschenk aus Wales –
Das Auge ist mir stets ein wenig unangenehm, Mrs. Sucksby jedoch hebt sorglos den Rock und hockt sich hin. Als ich mich angewidert schüttele und abwende, verzieht sie das Gesicht.
»Nicht so schön, was, Liebes? Mach dir nichts draus. Wir werden dafür sorgen, dass du in unserem neuen vornehmen Haus ein Klosett kriegst.«
Sie richtet sich auf, schiebt den Unterrock zwischen die Beine. Dann reibt sie sich die Hände.
»Nun denn«, sagt sie. Sie mustert mich mit funkelnden Augen. »Was sagst du dazu: Wie wäre es, wenn wir dich heute herausputzen und hübsch zurechtmachen? Dein eigenes Kleid ist dort in der Truhe. Aber das ist ein fades altes Ding, nicht wahr? Und ziemlich sonderbar und altmodisch. Wie wäre es, wenn wir etwas Netteres anprobieren? Ich habe Kleider für dich aufgehoben – in Silberpapier eingewickelt – wirklich elegant, du wirst es kaum glauben. Was sagst du dazu, wenn wir Dainty hereinrufen und sie von ihr anpassen lassen? Dainty ist recht geschickt mit der Nadel, obgleich sie so grob wirkt – nicht wahr? So ist sie eben. Sie wurde, wie du sagen würdest, nicht erzogen – man hat sie einfach so aufwachsen lassen. Aber sie hat ein weiches Herz.«
Nun hat Mrs. Sucksby meine Aufmerksamkeit gefesselt. Kleider, denke ich. Wenn ich erst einmal angekleidet bin, kann ich vielleicht fliehen.
Mrs. Sucksby bemerkt diese Veränderung an mir und ist erfreut. Sie bringt mir wieder ein Frühstück mit Fisch, und wieder esse ich es. Sie bringt mir Kaffee, süß wie Sirup. Er lässt mein Herz heftig klopfen. Dann bringt sie mir eine Kanne heißes Wasser. Sie befeuchtet ein Handtuch und versucht mich zu waschen. Das lasse ich aber nicht zu. Ich nehme ihr das Handtuch aus der Hand, drücke es mir ins Gesicht, unter die Arme, zwischen die Beine. Zum ersten Mal im Leben wasche ich mich selbst.
Dann geht sie hinaus – schließt natürlich die Tür hinter sich ab – und kommt mit Dainty zurück. Sie tragen Pappkartons. Diese legen sie auf das Bett, lösen die Kordel und heben die Kleider heraus. Als Dainty sie erblickt, stößt sie einen Schrei aus. Die Kleider sind allesamt aus Seide: eines ist violett, verziert mit gelben Borten, ein anderes grün mit silbernen Streifen und ein drittes karmesinrot. Dainty nimmt den Zipfel eines Kleides in die Hand und streicht ehrfürchtig darüber.
»Japanseide?«, fragt sie verwundert.
»Japanseide, mit einem Foulard rouche«, erwidert Mrs. Sucksby – die Worte klingen sonderbar, kommen fleischig aus ihrem Mund hervor wie Kirschkerne. Sie nimmt das karmesinrote Kleid, und in dem Licht, das sich auf dem roten Stoff spiegelt, sehen ihr Kinn und ihre Wangen so rot aus, als seien sie mit Koschenille beschmiert.
Sie sieht mich an. »Was sagst du dazu, Liebes?«
Ich hatte ja keine Ahnung, dass es solche Farben, solche Stoffe, solche Kleider überhaupt gibt. Ich stelle mir vor, wie ich darin durch die Straßen von London gehe. Mir sinkt der Mut. »Sie sind abscheulich, ganz abscheulich.«
Mrs. Sucksby zuckt zusammen, dann fängt sie sich wieder. »Das sagst du jetzt. Man hat dich zu lange in diesem scheußlichen Haus deines Onkels festgehalten. Da darf man sich nicht wundern, dass du nicht mehr Sinn für Mode hast als eine Fledermaus. Bei deinem Debüt in der Stadt, Liebes, da wirst du Kleider tragen, die so farbenfroh sind, dass du an diese zurückdenken und dich totlachen wirst, weil du sie als zu grell empfunden hast.« Sie reibt sich die Hände. »Also, welches gefällt dir am Besten? Das Giftgrüne mit silber?«
»Haben Sie denn kein graues«, frage ich, »oder braunes oder schwarzes?«
Dainty sieht mich angewidert an.
»Grau, braun oder schwarz?«, sagt Mrs. Sucksby. »Wenn man ein silbernes tragen kann oder ein violettes?«
»Dann also das violette«, sage ich schließlich. Ich glaube, das gestreifte wird mich blenden, und von dem karmesinroten wird mir übel werden, obschon mir bereits übel ist. Mrs. Sucksby geht zur Kommode und öffnet eine Schublade. Sie nimmt Strümpfe, Strumpfhalter und bunte Unterröcke heraus. Die Unterröcke verblüffen mich. Denn ich dachte immer, Leinenwäsche sei stets weiß – ebenso wie ich als Kind dachte, alle schwarz eingebundenen Bücher müssten die Bibel sein. Doch nun bleibt mir keine Wahl: Ich muss entweder grellbunt oder nackt herumlaufen. Sie kleiden mich an wie zwei Mädchen ihre Puppe.
»Also, wo müssen wir es abnähen?«, fragt Mrs. Sucksby und betrachtet das Kleid. »Halt still, Liebes, während Dainty Maß nimmt. Gott, was hast du für eine Taille! Steh still! Man sollte lieber nicht herumzappeln, wenn Dainty mit einer Nadel in der Hand in der Nähe ist, das kann ich dir sagen. So ist’s besser. Zu weit, nicht wahr? Nun ja, was die Größe angeht, können wir nicht wählerisch sein – haha! – bei der Art und Weise, wie wir an die Kleider kommen.«
Sie nehmen mir die Handschuhe fort, bringen aber neue herbei. Über die Füße streifen sie mir weiße Seidenpantoffeln. »Kann ich denn keine richtigen Schuhe tragen?«, frage ich. Mrs. Sucksby erwidert: »Schuhe? Liebes, Schuhe sind zum Gehen da. Du gehst aber nirgendwo hin …«
Sie sagt das etwas zerstreut. Sie hat die große Holztruhe geöffnet und meine lederne Tasche herausgeholt. Nun, während ich ihr zusehe und Dainty näht, geht sie hinüber ans Licht, das durchs Fenster fällt, und fängt an, die Tasche zu durchstöbern. Ich sehe zu, wie sie Pantoffeln, Spielkarten, Kämme in die Hand nimmt. Doch mein Schmuck ist es, den sie eigentlich sucht. Schließlich findet sie das kleine Leinenpäckchen, wickelt es aus und kippt den Inhalt in ihren Schoß.
»So, was haben wir denn hier? Einen Ring. Einen Armreif. Das Bild einer Dame.« Sie schaut es mit abschätzendem Blick an, doch dann plötzlich verändert sich ihre Miene. Ich weiß, wessen Gesichtszüge sie dort in jenem Gesicht entdeckt, in dem ich einst nach meinen suchte. Schnell legt sie es beiseite. »Ein Smaragdarmband«, sagt sie als Nächstes, »in der Mode der Zeit von King George, aber mit schönen Steinen. Die werden einen hübschen Preis einbringen. Eine Perlenkette. Ein Rubincollier – für ein Mädchen wie dich ist das ohnehin zu schwer. Ich habe ein Perlengeschmeide – Glasperlen, aber sie glänzen so hell, man würde schwören, dass es Saphire sind! –, das viel besser zu dir passt. Und – ach! Was ist denn das? Das ist aber hübsch! Sieh nur, Dainty, sieh dir nur diese unglaublich großen Steine hier an!«
Dainty schaut hin. »Ein Prachtstück!«, stimmt sie ihr zu.
Es ist die Brillantbrosche, bei der ich mir einst vorgestellt hatte, wie Sue daraufhaucht und sie poliert und mit zusammengekniffenen Augen taxiert. Nun hält Mrs. Sucksby sie hoch und betrachtet sie mit schmalen Augen. Die Brosche funkelt. Sie funkelt selbst an diesem Ort.
»Ich weiß, wo die hingehört«, sagt sie. »Liebes, du hast doch nichts dagegen –?« Sie öffnet den Verschluss und steckt sie sich ans Mieder ihres Kleides. Dainty lässt Nadel und Faden fallen und sieht ihr zu.
»O Mrs. S!«, ruft sie. »Sie sehen aus wie eine echte Königin.«
Mein Herz schlägt wieder heftig. »Die Dame mit den Diamanten«, sage ich. Die Karodame.
Mrs. Sucksby schaut mich unsicher an, als wisse sie nicht, ob ich ihr ein Kompliment machen oder sie verspotten will. Ich weiß es selbst nicht.
Eine Zeitlang sagen wir nichts mehr. Dainty beendet ihre Näharbeit, dann kämmt sie mir das Haar und steckt es mit Nadeln zu einem Knoten zusammen. Dann muss ich aufstehen, damit sie mich in Augenschein nehmen können. Sie schauen mich erwartungsvoll an, legen die Köpfe schief, aber dann ziehen sie lange Gesichter. Dainty wischt sich die Nase. Mrs. Sucksby trommelt mit den Fingern auf ihre Lippe und runzelt die Stirn.
Auf dem Kaminsims steht ein viereckiger Spiegel, ringsum mit Gipsherzen verziert. Ich drehe mich um und betrachte so viel von mir wie möglich. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Mein Mund ist weiß. Meine Augen sind rot und verquollen, meine Wangen gleichen vergilbendem Flanell. Meine ungewaschenen Haare sind oben am Kopf dunkel vor Fett. Das Kleid ist tief ausgeschnitten, und an Hals und Dekolleté stehen die Knochen hervor.
»Vielleicht ist Violett doch nicht deine Farbe, Liebes«, sagt Mrs. Sucksby. »Betont die Schatten unter den Augen und lässt sie wie Blutergüsse aussehen. Und was die Wangen angeht – du musst mal kräftig hineinkneifen, damit sie ein bisschen rosiger werden. Nein? Dann lass Dainty es machen. Sie kann ordentlich zupacken, unsere Dainty.«
Dainty kommt zu mir und kneift mir in die Wangen. Ich schreie auf und entwinde mich ihrem Zugriff.
»Schon gut, du Kratzbürste!«, sagt sie, wobei sie den Kopf zurückwirft und mit dem Fuß aufstampft. »Von mir aus behalt dein gelbes Gesicht!«
»Na, na!«, sagt Mrs. Sucksby. »Miss Lilly ist eine feine Dame! Und so sollst du auch mit ihr reden. Zieh jetzt bloß keine Schnute!« Dainty schmollt. »Miss Lilly, wie wäre es, wenn wir das Kleid ausziehen und das grün-silbern Gestreifte anprobieren? Es ist wirklich nur ein Hauch von Gift in diesem Grün – wird dir bestimmt nicht schaden, solange du in dem Mieder nicht allzu sehr schwitzt.«
Aber ich ertrage es nicht noch einmal, dass sie mich wie eine Puppe aus- und ankleiden und lasse nicht zu, dass sie das violette Kleid aufhakt.
»Gefällt es dir, mein Mädchen?«, sagt Mrs. Sucksby da, und Gesicht und Stimme werden weicher. »Na also, wusste ich doch, dass du den Seidenstoffen nicht widerstehen kannst. Nun, was hältst du davon, wenn wir hinuntergehen, damit die Herren was zu staunen haben? Miss Lilly? Dainty, geh du voran. Die Treppe ist tückisch, und ich möchte nicht, dass Miss Lilly hinunterpurzelt.«
Sie hat die Tür aufgeschlossen. Dainty geht an mir vorbei, und ich folge ihr auf den Fersen. Ich wünsche mir noch immer, ich hätte Schuhe, einen Hut, einen Umhang. Aber ich würde auch mit bloßem Haupt und seidenen Pantöffelchen davonlaufen, wenn es sein müsste. Ich würde den ganzen Weg nach Briar zurücklaufen. Welche der Türen unten am Fuß der Treppe muss ich nehmen? Ich bin mir nicht sicher. Dainty geht vor mir her, und Mrs. Sucksby folgt uns ängstlich besorgt. »Kommst du zurecht mit den Stufen, Liebes?« Ich gebe keine Antwort. Denn aus einem der Zimmer ganz in der Nähe dringt ein ungewöhnliches Geräusch – ein Geräusch wie der Schrei einer Pfauenhenne, der anschwillt, dann erzittert und schließlich verhallt. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Auch Mrs. Sucksby hat sich umgedreht. »Sei still, altes Huhn!«, schreit sie und hebt drohend die Faust. An mich gewendet fügt sie in süßerem Ton hinzu: »Du fürchtest dich doch nicht etwa, Liebes? Das ist nur Mr. Ibbs’ ältliche Schwester; sie ist bettlägerig, die Ärmste, und neigt zu Wahnvorstellungen.« Sie lächelt.
Wieder gellt ein Schrei durchs Haus, und ich haste die düstere Treppe hinunter – meine Glieder schmerzen und knacken dabei, und ich bin ganz außer Atem. Dainty wartet unten. Der Flur ist schmal, sie scheint ihn ganz auszufüllen. »Hier rein«, sagt sie. Sie hat die Küchentür geöffnet. Hinter ihr ist die Tür, die, wie ich glaube, auf die Straße hinausführt, mit Riegeln davor. Ich gehe etwas langsamer. Doch dann kommt Mrs. Sucksby und legt mir die Hand auf die Schulter. »Ganz recht, Liebes, hier entlang.« Ich mache einen Schritt und wäre fast gestolpert.
Die Küche ist noch wärmer und dunkler als in meiner Erinnerung. Richard und der Junge, John Vroom, sitzen am Tisch und würfeln. Beide schauen auf, als ich hereinkomme, und beide lachen. John sagt: »Sieh sich einer das Gesicht an! Wer hat dir denn die Veilchen verpasst? Dainty, sag mir, dass du es warst, dann gebe ich dir einen Kuss.«
»Ich verpasse dir gleich ein Veilchen, wenn ich dich in die Finger kriege«, sagt Mrs. Sucksby. »Miss Lilly ist bloß müde. Mach, dass du von dem Stuhl kommst, du kleiner Tunichtgut, damit Miss Lilly sich setzen kann.« Sie schließt die Tür hinter sich ab, steckt den Schlüssel in die Tasche, geht dann durch die Küche zu den beiden anderen Türen und vergewissert sich, dass auch sie abgeschlossen sind. »Damit es nicht so zieht«, sagt sie, als sie merkt, dass ich ihr dabei zuschaue.
John wirft noch einmal die Würfel und zählt seine Punkte zusammen, ehe er sich erhebt. Richard klopft auf den leeren Platz. »Komm, Maud«, sagt er. »Komm, setz dich zu mir. Und wenn du mir versprichst, mir nicht mehr an die Kehle zu gehen – wie du es noch am Mittwoch getan hast, erinnerst du dich? –, dann schwöre ich dir – bei Johnnys Leben! –, dass ich dich nie wieder schlagen werde.«
John zieht ein finsteres Gesicht. »Geh nicht so leichtfertig mit meinem Leben um«, sagt er. »Sonst könnte es sein, dass ich genauso leichtfertig mit deinem umgehe. Verstanden?«
Richard antwortet nicht. Er hält meinem Blick stand und lächelt. »Komm schon, lass uns wieder Freunde sein, ja?«
Er streckt die Hände nach mir aus, aber ich ducke mich weg. Die fest verschlossenen Türen, die enge Küche erfüllen mich mit einer Art trostloser verzweifelter Tapferkeit. »Ich lege keinerlei Wert drauf«, sage ich, »dich zum Freund zu haben. Ich lege keinerlei Wert darauf, irgendeinen von euch zum Freund zu haben. Ich bin bei euch, weil ich dazu gezwungen werde. Weil Mrs. Sucksby es so will und weil ich nicht mehr genug Leben im Leib habe, ihre Pläne zu durchkreuzen. Ansonsten merkt euch: Ich verabscheue euch alle.«
Und dann setze ich mich – nicht auf den leeren Platz neben ihm, sondern in den großen Schaukelstuhl am Kopfende des Tisches. Er knarrt, als ich mich niederlasse. John und Dainty werfen Mrs. Sucksby einen raschen Seitenblick zu. Die blinzelt mich zwei, drei Mal an.
»Warum auch nicht?«, sagt sie schließlich und zwingt sich zu einem Lachen. »Mach es dir nur bequem, Liebes. Ich kann auch diesen harten alten Stuhl hier nehmen, wird mir guttun.« Sie setzt sich und wischt sich über den Mund. »Ist Mr. Ibbs nicht da?«
»Ist geschäftlich unterwegs«, erklärt John. »Hat Charley Wag mitgenommen.«
Mrs. Sucksby nickt. »Und all meine Kinder schlafen?«
»Gentleman hat ihnen vor einer halben Stunde eine Dosis gegeben.«
»Guter Junge. Dann bleibt alles schön still.« Sie schaut mich an. »Alles in Ordnung, Miss Lilly? Wie wär’s mit einem Schlückchen Tee?« Ich gebe keine Antwort, schaukle aber ganz langsam vor und zurück. »Oder Kaffee?« Sie leckt sich die Lippen. »Dann also Kaffee. Dainty, setz Wasser auf. Wie wär’s mit einem Törtchen dazu? Soll John gehen und uns welche holen? Oder machst du dir nichts aus Törtchen?«
»Es gibt nichts«, sage ich langsam, »das Sie mir hier vorsetzen können, was mir nicht wie Asche vorkäme.«
Sie schüttelt den Kopf. »Herrje, du hast aber wirklich eine poetische Ader! Also, was ist jetzt mit den Törtchen –?«
Ich wende den Blick ab.
Dainty macht sich daran, Kaffee zu kochen. Eine protzige Uhr tickt und schlägt die Stunde. Richard dreht sich eine Zigarette. Tabakrauch und der Qualm von den Lampen und den zischenden Kerzen driftet durch das Zimmer. Die Wände sind braun und glänzen schwach, als hätte man sie mit Bratensoße angestrichen. Hier und da sind bunte Bilder an die Wände geheftet – Putten, Rosen, Mädchen auf Schaukeln – und gewellte Zeitungsausschnitte und Stiche von Sportlern, Pferden, Hunden und Dieben. Neben Mr. Ibbs’ Schmiedeofen hängen drei Porträts – von Mr. Chubb, Mr. Yale und Mr. Bramah –, die auf eine Korkplatte geklebt und mit zahllosen Einstichen von Dartpfeilen durchlöchert sind.
Wenn ich einen Dartpfeil hätte, dann könnte ich sie damit bedrohen und Mrs. Sucksby dazu zwingen, den Schlüssel herauszurücken. Wenn ich eine abgebrochene Flasche hätte. Wenn ich ein Messer hätte.
Richard zündet sich eine Zigarette an, kneift die Augen gegen den Rauch zusammen und mustert mich. »Hübsches Kleid«, sagt er. »Genau deine Farbe.« Er greift nach einer der gelben Zierschleifen. Ich schlage seine Hand fort. »Na, na«, sagt er da. »Deine Laune hat sich leider nicht sehr gebessert. Wir wollen hoffen, dass du süßer wirst, je länger du im Dunkeln sitzt. Wie bei Äpfeln. Und bei Schlachtkälbern.«
»Fahr zur Hölle, wärst du so freundlich?«, sage ich.
Er lächelt. Mrs. Sucksby wird rot, dann lacht sie. »Hör sich einer das an«, sagt sie. »Wenn ein gewöhnliches Mädchen das sagt, klingt es vulgär. Wenn eine Dame es sagt, klingt es beinahe lieblich. Trotzdem, Liebes –« sie beugt sich über den Tisch und senkt die Stimme, »wünschte ich, du würdest nicht so hässlich daherreden.«
Ich schaue ihr geradewegs in die Augen. »Sie glauben doch nicht etwa«, gebe ich ungerührt zurück, »Ihre Wünsche scherten mich einen feuchten Kehricht?«
Sie zuckt zusammen und wird noch röter. Ihre Lider flattern, und sie wendet den Blick ab.
Dann trinke ich meinen Kaffee und sage nichts mehr. Mrs. Sucksby sitzt da, trommelt leicht mit den Fingern auf den Tisch, die Brauen finster zusammengezogen. John und Richard würfeln weiter und geraten über das Spiel in Streit. Dainty wäscht Windeln in einer Schüssel mit braunem Wasser und hängt sie dann vor das Feuer, wo sie vor sich hin dampfen und stinken. Ich schließe die Augen. Mein Magen schmerzt unaufhörlich. Wenn ich ein Messer hätte. Oder eine Axt …
Doch es ist so drückend heiß im Zimmer, und ich bin so erschöpft, und mir ist so übel, dass mein Kopf irgendwann nach hinten fällt und ich einschlafe. Als ich erwache, ist es fünf Uhr. Die Würfel werden weggeräumt. Mr. Ibbs ist zurückgekehrt. Mrs. Sucksby füttert die Säuglinge, und Dainty kocht das Abendessen. Schinkenspeck, Kohl, zerfallene Kartoffeln und dazu Brot. Sie geben mir einen Teller, und obgleich ich dabei unglücklich die Fettstreifen vom Schicken zupfe und die Kanten vom Brot abbreche, wie ich beim Frühstück die Gräten aus dem Fisch picke, esse ich es. Dann stellen sie Gläser auf den Tisch.
»Möchtest du ein Schlückchen, Miss Lilly?«, fragt Mrs. Sucksby. »Ein Bier oder einen Sherry?«
»Einen Gin?«, fragt Richard mit boshaft blitzenden Augen.
Ich nehme einen Gin. Für mich schmeckt er bitter, doch der Klang des silbernen Löffels, der beim Rühren gegen das Glas schlägt, spendet mir unbestimmten, unbeschreiblichen Trost.
So vergeht dieser Tag. Und so vergehen auch die darauffolgenden Tage. Ich gehe früh zu Bett – werde jedes Mal von Mrs. Sucksby entkleidet, die mein Kleid und meine Unterröcke nimmt und sie einschließt und dann auch mich einschließt. Ich schlafe schlecht, und jeden Morgen, wenn ich aufwache, ist mir übel, mein Kopf ist klar, und ich habe Angst. Dann sitze ich in dem kleinen goldenen Stuhl und grübele über meine Gefangenschaft nach und schmiede Pläne für meine Flucht. Denn fliehen muss ich. Und das werde ich auch. Ich werde fliehen und zu Sue gehen. Wie hießen die Männer, die sie mitgenommen haben? Ich kann mich nicht entsinnen. Wo steht das Haus? Ich weiß es nicht. Ganz gleich, ganz gleich. Ich werde es schon finden. Zuerst muss ich allerdings nach Briar und meinen Onkel um Geld anbetteln – er wird sich natürlich noch immer für meinen Onkel halten –, und wenn er mir keines gibt, dann werde ich die Dienstboten anbetteln! Ich werde Mrs. Stiles anbetteln! Oder ich stehle es! Ich stehle das rarste Buch aus der Bibliothek und verkaufe es –!
Nein, das werde ich nicht tun. Denn der Gedanke, nach Briar zurückzukehren, lässt mich erschaudern, selbst jetzt, selbst hier, und irgendwann fällt mir ein, dass ich vielleicht doch Freunde in London habe. Ich habe Mr. Huss und Mr. Hawtrey. Mr. Huss – der mir immer so gern dabei zusah, wie ich die Treppen hinaufstieg. Könnte ich zu ihm gehen, mich ihm ausliefern? Ich glaube, das könnte ich, so verzweifelt wie ich bin … Mr. Hawtrey jedoch war freundlicher und hat mich zu sich nach Hause eingeladen, in sein Geschäft in der Holywell Street. Der wird mir bestimmt helfen. Ganz bestimmt wird er das. Und die Holywell Street kann doch nicht allzu weit von hier sein – oder? Ich weiß es nicht, und hier gibt es keine Stadtpläne. Aber ich werde den Weg schon finden. Und dann wird Mr. Hawtrey mir helfen. Er wird mir helfen, Sue zu finden …
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während um mich herum die schmuddelige Dämmerung Londons anbricht. Während Mr. Ibbs Bücklinge brät, während seine Schwester schreit, während Gentleman in seinem Bett hustet, während Mrs. Sucksby sich in ihrem herumwälzt und schnarcht und seufzt.
Würden sie mich nur nicht so scharf bewachen! Eines Tages, denke ich jedes Mal, wenn sie die Tür hinter mir verschließen, eines Tages werden sie vergessen abzuschließen. Und dann laufe ich davon. Sie werden des ewigen Aufpassens müde werden. Doch das werden sie nicht. Ich beklage mich über die stickige, abgestandene Luft. Ich beklage mich über die zunehmende Hitze. Ich lasse mich öfter als nötig zum Klosett begleiten. Denn das Klosett liegt am anderen Ende jenes dunklen staubigen Korridors hinten im Haus, und so sehe ich wenigstens das Tageslicht. Von dort aus könnte ich in die Freiheit laufen, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Doch die Gelegenheit bietet sich nie. Immer geht Dainty mit mir und wartet dann, bis ich herauskomme. Einmal versuche ich fortzulaufen, und sie fängt mich mit Leichtigkeit wieder ein und führt mich zurück, und Mrs. Sucksby schlägt sie dafür, dass sie mich überhaupt hat entwischen lassen.
Richard bringt mich nach oben und schlägt mich.
»Es tut mir leid«, sagt er dabei. »Aber du weißt doch, wie hart wir dafür gearbeitet haben. Alles, was du tun musst, ist, zu warten, bis wir mit dem Anwalt kommen. Du hast mir einmal gesagt, dass du gut warten könntest. Warum tust du uns nicht einfach den Gefallen?«
Seine Ohrfeige hinterlässt einen Bluterguss. Jeden Tag sehe ich, wie er blasser wird und denke: Ehe dieser Bluterguss verschwunden ist, laufe ich davon!
Viele Stunden lang sitze ich in tiefem Schweigen da und grübele darüber nach. Ich sitze in der Küche in den Schatten am Rand des Lichtkegels, den die Lampe wirft. Vielleicht vergessen sie mich, denke ich. Manchmal scheint es fast so: Das muntere Treiben des Hauses nimmt unbeirrt seinen Lauf; Dainty und John küssen und streiten sich, die Kinder greinen, die Männer spielen Karten und würfeln. Hin und wieder kommen weitere Männer – oder Jungs und ganz selten auch Frauen und Mädchen – mit dem Plunder, den sie erbeutet haben und der von Mr. Ibbs gekauft und weiterverkauft wird. Sie kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit mit den erstaunlichsten Dingen – alles armseliges, geschmackloses Zeug, wie mir scheint: Hüte, Taschentücher, billiger Schmuck, Spitzenborten – einmal ein Strang gelblichen Haars, noch mit einer Schleife zusammengebunden. Ein sich träge dahinwälzender Strom von Dingen – nicht wie die Bücher, die nach Briar kamen, als wollten sie tief auf den Grund eines stillen Meeres sinken und dort ihre Ruhe finden. Auch nicht wie die Dinge, die in den Büchern beschrieben sind, die annehmlichen und zweckmäßigen Dinge: die Stühle, die Kissen, die Betten, die Gardinen, die Seile, die Ruten …
Hier gibt es keine Bücher. Hier gibt es nur das Leben in all seinem Chaos. Und der einzige Zweck, dem diese Dinge dienen, ist der, Geld einzubringen.
Und das, was am meisten Geld einbringt, bin ich.
»Ist dir nicht kalt, Liebes?«, fragt Mrs. Sucksby andauernd. »Hast du keinen Hunger? Deine Stirn ist so heiß! Du bekommst doch hoffentlich kein Fieber! Nicht dass du uns krank wirst.« Ich gebe keine Antwort. Ich habe das alles schon zu oft gehört. Ich lasse mir von ihr dicke Decken um die Schultern legen, lasse zu, dass sie bei mir sitzt und mir Finger und Wangen reibt. »Bist du ein wenig niedergeschlagen?«, erkundigt sie sich dann. »Sieh sich einer diese Lippen an. Wie hübsch die wären, wenn sie lächelten. Du willst wohl nicht lächeln? Nicht einmal –« sie schluckt – »für mich? Wirf einen Blick auf den Almanach.« Sie hat die Tage mit schwarzen Kreuzen durchgestrichen. »Fast ein Monat ist schon vergangen, nun sind es bloß noch zwei. Und was dann kommt, wissen wir ja. Das ist doch nicht mehr lange, oder?«
Sie sagt das fast flehentlich, aber ich starre ihr nur ungerührt ins Gesicht, wie um zu sagen, dass ein Tag, eine Stunde, ja eine Sekunde zu lang ist, wenn man sie mit ihr verbringen muss.
»Ach je!« Ihre Finger umklammern meine Hand, dann erschlaffen sie und tätscheln mich. »Du hast dich noch immer nicht daran gewöhnt, nicht wahr, Herzchen?«, sagt sie. »Mach dir nichts draus. Was können wir für dich besorgen, das dich ein bisschen aufmuntert? Einen Blumenstrauß? Eine Schleife für dein hübsches Haar? Ein Schmuckkästchen? Einen zwitschernden Vogel im Käfig?« Vielleicht habe ich mich da gerührt. »Aha! Wo ist John? John, hier hast du einen Shilling – er ist falsch, also eile dich, wenn du ihn ausgibst –, lauf schnell und besorge einen Vogel im Käfig für Miss Lilly. Einen gelben Vogel, Liebes, oder lieber einen blauen? Ganz gleich, John, solange er nur hübsch ist …«
Sie zwinkert. John geht und kehrt eine halbe Stunde später mit einem Fink in einem Weidenkäfig zurück. Sie machen einen großen Wirbel um das arme Tier. Sie hängen den Käfig an einen Deckenbalken, dann schütteln sie ihn, damit der Vogel umherflattert. Charley Wag, der Hund, springt hoch und steht winselnd darunter. Der Vogel singt jedoch nicht – es ist zu dunkel im Zimmer; er schlägt nur mit den Flügeln, zupft an ihnen herum und pickt an den Stäben seines Käfigs. Schließlich verlieren sie das Interesse. John fängt an, ihn mit den blauen Köpfen der Streichhölzer zu füttern. Er sagt, er wolle ihn irgendwann dazu bringen, einen langen Docht zu verschlucken, und ihn dann anzünden.
Über Sue verliert niemand ein Wort. Einmal sieht Dainty mich an, als sie den Tisch für das Abendessen deckt, und kratzt sich am Ohr.
»Komisch«, murmelt sie, »dass Sue noch nicht von ihrem Ausflug aufs Land zurückgekommen ist, nicht?«
Mrs. Sucksby wirft erst Richard einen Blick zu, dann Mr. Ibbs und dann mir. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Sieh mal«, sagt sie zu Dainty, »ich wollte eigentlich gar nicht darüber reden, aber jetzt kannst du es ebenso gut erfahren. Die Wahrheit ist, dass Sue nicht zurückkommen wird – niemals. Bei dieser letzten kleinen Sache, die sie für Gentleman erledigen sollte, ging es um Geld. Mehr Geld, als sie eigentlich als Anteil an der Beute bekommen sollte. Sie ist mit der ganzen Barschaft auf und davon, Dainty.«
Dainty klappt die Kinnlade herunter. »Nein! Sue Trinder? Die Ihnen wie Ihre eigene Tochter war? Johnny!« Der Bursche hat sich ausgerechnet diesen Moment ausgesucht, um zum Essen herunterzukommen. »John, das rätst du nie! Sue hat Mrs. Sucksbys ganzes Geld genommen – deshalb ist sie nicht zurückgekommen! Ist bei Nacht und Nebel auf und davon. Hat Mrs. Sucksby fast das Herz gebrochen. Wenn wir sie sehen, müssen wir sie umbringen.«
»Bei Nacht und Nebel auf und davon? Sue Trinder?« Er schnaubt. »Dazu fehlt ihr der Mumm.«
»Aber sie hat es getan.«
»Ja, das hat sie«, sagt Mrs. Sucksby und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Und ich will nicht, dass ihr Name in meinem Haus noch einmal genannt wird. Und damit Schluss.«
»Sue Trinder entpuppt sich doch noch als raffiniertes Weibsstück!«, sagt John.
»Das kommt vom bösen Blut«, erklärt Richard. Auch er sieht mich an. »Kommt auf die seltsamste Art und Weise ans Licht.«
»Was habe ich gerade gesagt?«, sagt Mrs. Sucksby heiser. »Ich will ihren Namen nicht mehr hören.« Sie hebt den Arm, und John gibt Ruhe. Doch er schüttelt den Kopf und pfeift. Einen Moment später lacht er.
»Tja, dann gibt’s für uns mehr zu essen, stimmt’s?« Er füllt sich den Teller. »Gäb’s jedenfalls, wenn die Dame da nicht hier wäre.«
Mrs. Sucksby sieht, wie er mich finster anschaut, und sie beugt sich vor und schlägt ihn.
Danach nimmt man die Männer und Frauen, die ins Haus kommen und sich nach Sue erkundigen, beiseite und erklärt ihnen, genau wie Dainty und John, sie habe sich als niederträchtiges Ding entpuppt, das Mrs. Sucksby hinters Licht geführt und ihr das Herz gebrochen hat. Sie alle sagen dasselbe: »Sue Trinder? Wer hätte gedacht, dass die so gerissen ist? Das ist die Mutter, die zeigt sich jetzt in der Tochter …« Und dann schütteln sie den Kopf und machen ein mitleidiges Gesicht. Doch es scheint mir, dass sie Sue recht schnell vergessen. Selbst John und Dainty scheinen sie schnell zu vergessen. Dies ist schließlich ein Haus mit einem schlechten Gedächtnis. Es ist eine Gegend mit einem schlechten Gedächtnis. Oft wache ich nachts vom Klang von Schritten oder dem Knirschen von Wagenrädern auf. Ein Mann läuft weg, eine Familie macht sich auf und davon, klammheimlich im Schutz der Dunkelheit. Die Frau mit dem verbundenen Gesicht, die ihr Kind auf der Stufe zum Haus mit den Herzen in den Fensterläden gestillt hat, verschwindet. An ihrer Stelle zieht eine andere ein – die ihrerseits wieder weiterzieht und von einer anderen ersetzt wird, die trinkt. Was kümmert diese Leute Sue?
Was kümmert Sue mich? Hier habe ich Angst, mich an ihren drängenden Mund, ihre zärtliche Hand zu erinnern. Doch ich habe auch Angst, es zu vergessen. Ich wollte, ich könnte von ihr träumen. Ich tue es nie. Manchmal nehme ich das Bild jener Frau heraus, die ich für meine Mutter gehalten habe, und suche in deren Gesicht nach ihren Zügen – ihren Augen, ihrem spitzen Kinn. Mrs. Sucksby merkt es. Verärgert sieht sie mir dabei zu. Schließlich nimmt sie mir das Bild weg.
»Denk nicht über Dinge nach«, sagt sie, »die längst vergangen und nicht mehr zu ändern sind. Verstanden, mein Mädchen? Denk lieber an die Zeit, die dir noch bevorsteht.«
Mrs. Sucksby glaubt, ich grübele über die Vergangenheit nach. Doch ich mache mir Gedanken über meine Zukunft. Ich beobachte, wie Schlüssel sich im Schloss drehen – bald werden sie einen darin vergessen. Ich weiß es. Ich beobachte John und Dainty und Mr. Ibbs – sie gewöhnen sich allzu sehr an mich. Bald werden sie unachtsam werden, vergesslich. Bald, denke ich. Bald, Maud.
Schließlich geschieht es.
Richard hat sich angewöhnt, jeden Tag das Haus zu verlassen, ohne zu sagen, wohin er geht. Er hat kein Geld und wird auch keines bekommen, bis der Anwalt hergebracht wird: Ich glaube, er geht nur aus dem Haus, um auf den staubigen Straßen herumzulaufen oder in den Parks herumzulungern. Ich glaube, die Hitze und die Enge der Küche drohen ihn ebenso zu ersticken wie mich. Eines Tages jedoch geht er hinaus und kehrt binnen einer Stunde wieder zurück. Im Haus ist es ausnahmsweise still. Mr. Ibbs und John sind nicht da, und Dainty schläft auf einem Stuhl. Mrs. Sucksby lässt ihn in die Küche, und er wirft seinen Hut in die Ecke und küsst sie auf die Wange. Sein Gesicht ist gerötet, und seine Augen funkeln.
»Nun, was glauben Sie?«, sagt er.
»Mein lieber Junge, ich habe keine Ahnung. Sind all deine Pferde gleichzeitig ins Ziel gekommen?«
»Noch besser«, gibt er zurück. Er streckt die Hände nach mir aus. »Maud, komm heraus aus dem Schatten. Schau nicht so finster! Heb dir das auf, bis du meine Neuigkeiten gehört hast. Sie gehen nämlich dich an.«
Er hat meinen Stuhl gepackt und will mich an den Tisch zerren. Ich schüttele ihn ab. »Inwiefern?«, frage ich übellaunig. Ich habe dagesessen und über mein Leben nachgedacht.
»Du wirst schon sehen. Schau her.« Er steckt die Hand in die Westentasche und zieht ein Blatt Papier hervor. Das schwenkt er durch die Luft.
»Ein Schuldschein, mein Junge?«, fragt Mrs. Sucksby und tritt neben ihn.
»Ein Brief«, sagt er, »von – na, ratet mal, von wem! Errätst du es, Maud?« Ich schweige. Er macht ein langes Gesicht. »Willst du nicht mitspielen? Soll ich dir einen Fingerzeig geben? Es ist jemand, den du kennst. Der dir sehr nahesteht.«
Mein Herz macht einen Sprung. »Sue!«, rufe ich prompt. Doch er wirft den Kopf in den Nacken und schnaubt.
»Die doch nicht. Glaubst du allen Ernstes, die würden ihr dort, wo sie jetzt ist, Schreibzeug geben?« Er wirft einen Blick auf Dainty, die kurz die Augen öffnet, sie dann wieder schließt und weiterschläft. »Die doch nicht«, sagt er noch einmal, etwas leiser. »Ich meine einen anderen Freund von dir. Willst du nicht raten?«
Ich wende das Gesicht ab. »Warum sollte ich? Du wirst es mir doch ohnehin sagen …«
Er wartet noch einen Moment, dann ruft er: »Mr. Lilly! Dein ehemaliger Onkel. Aha!« Ich bin zusammengeschreckt. »Es interessiert dich also doch!«
»Lass mich sehen!«, sage ich. Vielleicht sucht mein Onkel ja doch nach mir.
»Na, na.« Er hält den Brief hoch. »Da steht mein Name drauf – nicht deiner.«
»Lass mich sehen!« Ich stehe auf, ziehe seinen Arm herunter, erblicke eine geschriebene Zeile – dann stoße ich ihn weg. »Das ist nicht die Schrift meines Onkels!« Ich bin so enttäuscht, ich würde ihn am liebsten schlagen.
»Das habe ich auch nie behauptet«, gibt Richard zurück. »Der Brief ist von ihm, doch ein anderer hat ihn geschickt: sein Verwalter, Mr. Way.«
»Mr. Way?«
»Merkwürdig, nicht wahr? Nun, du wirst es verstehen, wenn du ihn erst liest. Hier.« Er faltet das Blatt auf und reicht es mir. »Lies diese Seite zuerst. Es ist ein Postskriptum und erklärt zumindest – was ich immer so sonderbar fand – warum wir bisher nichts aus Briar gehört haben …«
Die Schrift wirkt verkrampft, die Tinte ist verschmiert. Ich halte das Papier schräg, damit so viel Licht wie möglich darauf fällt. Dann lese ich.
Werter Herr. – Ich habe heute unter den privaten Unterlagen meines Herrn diesen Brief gefunden & nehme an, dass er ihn abzuschicken gedachte. Nur ist es so, dass er, kurz nachdem er ihn geschrieben hatte, äußerst indisponiert wurde, Sir, und diese Indisposition hält bis zum heutigen Tage an. Mrs. Stiles und ich dachten zunächst, diese sei darauf zurückzuführen, dass seine Nichte auf solch skandalöse Art und Weise davongelaufen ist, obgleich, erlauben Sie uns diese Anmerkung, Sir, seine hier niedergeschriebenen Worte nahelegen, dass diese Schandtat ihn nicht sonderlich überrascht hat, ebensowenig, erlauben Sie uns noch einmal eine Anmerkung, wie sie uns überrascht hat. – Wir übersenden Ihnen dieses Schreiben höflichst, und hoffen, dass es Sie bei bester Gesundheit antrifft. – Mr. Martin Way, Verwalter von Briar.
Ich schaue auf, ohne etwas zu sagen. Richard lächelt. »Lies auch noch das Übrige«, sagt er. Ich drehe das Blatt um. Der Brief ist kurz und auf den 3. Mai datiert – vor nunmehr sieben Wochen. Darin steht Folgendes:
An Mr. Richard Rivers, von Christopher Lilly, Esq. – Sir. Ich vermute, dass Sie meine Nichte, Maud Lilly, mit sich mitgenommen haben. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit ihr! Ihre Mutter war eine Dirne, und sie hat alle Veranlagungen ihrer Mutter geerbt, wenn auch nicht deren Gesicht. Es ist ein herber Rückschlag für den Fortgang meiner Arbeit, aber ich tröste mich in meinem Verlust mit diesem Gedanken: dass ich Sie, Sir, für einen Mann halte, der weiß, wie man mit einer Hure umgeht. – C.L.
Ich lese den Brief einmal, zweimal, dreimal. Dann lese ich ihn noch einmal. Und dann lasse ich das Blatt fallen. Mrs. Sucksby hebt es sofort auf und liest es ebenfalls. Während sie sich mit den Worten abmüht, wird sie ganz rot. Als sie geendet hat, schreit sie auf: »Dieser Lump! Ach!«
Ihr Geschrei weckt Dainty. »Wer, Mrs. Sucksby? Wer?«, fragt sie.
»Ein bösartiger Mann, weiter nichts. Ein bösartiger Mann, der sehr krank ist und das auch verdient hat. Du kennst ihn nicht. Schlaf weiter.« Sie streckt die Hände nach mir aus. »Ach, Liebes –«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sage ich.
Der Brief hat mich vollkommen aus der Fassung gebracht, mehr als ich je für möglich gehalten hätte. Ich weiß nicht, ob es die Worte sind, die mich am meisten verletzen, oder die Tatsache, dass sie der endgültige Beweis für Mrs. Sucksbys Geschichte zu sein scheinen. Aber ich kann es nicht ertragen, dass sie und Richard mich ansehen, jetzt, da meine Gefühle derart in Aufruhr sind. Ich gehe so weit fort von ihnen, wie ich nur kann – zwei, drei Schritte – hinüber zu der braunen Küchenwand. Dann gehe ich von dort zur nächsten Wand und von dort zur Tür. Ich packe den Knauf und drehe vergeblich daran.
»Lasst mich raus«, sage ich.
Mrs. Sucksby kommt zu mir. Sie streckt die Hand aus, aber nicht nach der Tür, sondern nach meinem Gesicht. Ich stoße sie weg – gehe rasch zu der zweiten Tür und dann zu der dritten. »Lasst mich raus! Lasst mich raus!«
Mrs. Sucksby folgt mir. »Mein liebes Mädchen«, sagt sie, »lass dich nicht von diesem alten Schurken aus der Fassung bringen. Er ist deine Tränen nicht wert!«
»Lassen Sie mich jetzt hinaus?«
»Dich hinauslassen – wohin denn? Hast du hier denn nicht alles, was du brauchst? Hast du denn hier nicht alles, wird dir nicht alles gebracht? Denk an all den Schmuck, die Roben –«
Wieder ist sie ganz nahe an mich herangetreten. Wieder stoße ich sie fort. Ich mache einen Schritt zurück zu der soßenfarbenen Wand, balle die Hand zur Faust und hämmere wieder und immer wieder dagegen. Dann sehe ich auf. Vor meinen Augen hängt der Almanach, auf den Seiten wimmelt es von schwarzen Kreuzen. Ich reiße ihn vom Nagel. »Liebes Mädchen –«, sagt Mrs. Sucksby wieder. Ich drehe mich um und werfe ihn nach ihr.
Plötzlich fange ich an zu weinen. Und als der tränenreiche Ausbruch vorüber ist, bin ich eine andere geworden. Meine Lebensgeister haben mich verlassen. Der Brief hat sie mir genommen. Der Almanach wird wieder an die Wand gehängt, und ich lasse ihn dort. Er wird stetig schwärzer, während wir alle uns Schritt für Schritt unserem Schicksal nähern. Das Jahr geht ins Land. Es ist ein warmer Juni, der immer noch wärmer wird. Das Haus füllt sich mit Fliegen. Sie treiben Richard zur Weißglut. Er verfolgt sie mit einem Pantoffel, schwitzend und mit hochrotem Gesicht. »Weißt du, dass ich der Sohn eines Gentleman bin?«, sagt er immer. »Würdest du das glauben, wenn du mich jetzt so siehst? Würdest du das?«
Ich gebe keine Antwort. Inzwischen sehne ich ebenso wie er Sues Geburtstag im August herbei. Ich werde, so denke ich, alles sagen, was sie wollen, und zwar jedem beliebigen Anwalt oder Rechtsgelehrten. Die Tage verbringe ich in einer Art rastloser Lethargie, und nachts – wenn es zu heiß ist zum Schlafen – nachts stehe ich vor dem schmalen Fenster in Mrs. Sucksbys Zimmer und starre mit leerem Blick auf die Straße.
»Komm da fort, Herzchen«, murmelt Mrs. Sucksby, wenn sie aufwacht. Es heißt, in der Nachbarschaft gehe die Cholera um. »Wer weiß, ob du nicht noch Fieber bekommst, wenn du da in der Zugluft stehst.«
Kann man von einer Brise übelriechender Luft Fieber bekommen? Ich lege mich an ihre Seite, bis Mrs. Sucksby einschläft. Dann kehre ich zum Fenster zurück, drücke mein Gesicht in den Spalt zwischen den Fensterrahmen und atme tief ein.
Ich vergesse fast, dass ich vorhabe zu fliehen. Vielleicht spüren sie es. Denn schließlich, eines Nachmittags – Anfang Juli, glaube ich – lassen sie mich fast allein zu Hause – nur Dainty bleibt, um auf mich achtzugeben.
»Lass sie nicht aus den Augen«, sagt Mrs. Sucksby zu ihr und zieht die Handschuhe an. »Wenn ihr irgendwas zustößt, bring ich dich um.« Mir gibt sie einen Kuss. »Alles in Ordnung, Liebes? Ich werde keine Stunde fort sein. Ich bringe dir auch ein Geschenk mit, ja?«
Ich antworte nicht. Dainty lässt sie hinaus und steckt dann den Schlüssel in die Tasche. Sie setzt sich hin, zieht die Lampe auf dem Tisch zu sich heran und fängt an zu arbeiten. Sie wäscht keine Windeln. Es sind inzwischen weniger Kinder da: Mrs. Sucksby hat angefangen, ihnen allen ein neues Heim zu verschaffen, und täglich wird es stiller im Haus. Lustlos zieht Dainty eingestickte Seidenfäden aus gestohlenen Taschentüchern. »Eine öde Arbeit«, sagt sie, als sie merkt, dass ich ihr zusehe. »Sue hat das früher immer gemacht. Wollen Sie es mal versuchen?«
Ich schüttele den Kopf und gebe vor, mir fielen die Augen zu. Endlich gähnt Dainty. Als ich das höre, bin ich mit einem Mal hellwach. Wenn sie schläft, kann ich den Schlüssel aus ihrer Tasche stehlen und die Tür zu öffnen versuchen! Wieder gähnt sie. Ich fange an zu schwitzen. Die Uhr zählt tickend die Minuten ab – fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig. Eine halbe Stunde. Ich trage das violette Kleid und weiße Seidenpantöffelchen. Ich habe keinen Hut, kein Geld – ganz gleich. Mr. Hawtrey wird mir helfen.
Schlaf, Dainty. Schlaf, schlaf … Schlaf, verdammt noch mal!
Doch sie gähnt nur, und der Kopf sinkt ihr auf die Brust. Die Stunde ist beinahe vorbei.
»Dainty«, sage ich.
Sie schreckt auf. »Was ist denn?«
»Ich – ich muss leider aufs Klosett.«
Sie legt ihre Arbeit hin und verzieht das Gesicht. »Müssen Sie wirklich? Jetzt gleich?«
»Ja.« Ich halte mir die Hand auf den Magen. »Ich glaube, ich bin krank.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe noch nie ein Mädchen erlebt, das so oft krank wurde wie Sie. Ist das eine damenhafte Konstitution?«
»Ich glaube schon. Es tut mir leid, Dainty. Öffnest du mir die Tür?«
»Ich muss aber mitgehen.«
»Das brauchst du nicht. Du kannst bei deiner Näharbeit bleiben, wenn du möchtest …«
»Mrs. Sucksby sagt, ich muss jedes Mal mit Ihnen gehen. Sonst setzt’s was. Moment.«
Sie seufzt und streckt sich. Die Seide ihres Kleides hat Flecken unter den Armen, und die Flecken haben einen weißen Rand. Sie holt den Schlüssel hervor, schließt die Tür auf, geht vor mir durch den Korridor. Ich gehe ganz langsam und betrachte ihren hin und her wankenden Rücken. Ich denke daran, wie ich schon einmal von ihr fortgelaufen bin und wie sie mich wieder eingefangen hat. Ich weiß, selbst wenn ich sie jetzt umstieße, so würde sie nur gleich wieder aufstehen und hinter mir herlaufen. Ich könnte sie mit dem Kopf gegen die Backsteine schlagen … Aber als ich mir vorstelle, wie ich das tue, da weicht mir alle Kraft aus den Armen. Ich glaube nicht, dass ich das könnte.
»Kommen Sie weiter«, sagt sie, als ich zögere. »Was ist denn nur los?«
»Nichts.« Ich fasse nach dem Griff der Klosettür und öffne sie langsam. »Du brauchst nicht zu warten«, sage ich.
»Doch, doch, ich warte.« Sie lehnt sich gegen die Wand. »Wird mir guttun, die frische Luft.«
Die Luft ist stickig und verpestet. Auf dem Klosett ist es noch übler. Doch ich gehe hinein, schließe die Tür und schiebe den Riegel vor. Dann sehe ich mich um. Es gibt ein kleines Fenster, nicht größer als mein Kopf, die zerbrochene Scheibe ist mit Lumpen zugestopft. Spinnen sind da und Fliegen. Der Sitz des Klosetts ist eingerissen und verschmiert. Ich stehe da und denke nach, bestimmt eine Minute lang. »Alles in Ordnung?«, ruft Dainty. Ich gebe keine Antwort. Der Boden besteht aus festgestampfter Erde. Die Wände sind pudrig weiß. An einem Draht hängen ein paar Streifen Zeitungspapier.
ABGELEGTE DAMEN- UND HERRENBEKLEIDUNG IN GUTEM ODER MINDERGUTEM ZUSTAND GESUCHT FÜR – WALISISCHES HAMMELFLEISCH UND LEGEFRISCHE EIER –
Denk nach, Maud.
Ich drehe mich zur Tür um und lege den Mund an einen Spalt im Holz.
»Dainty«, flüstere ich.
»Was ist denn?«
»Dainty, mir geht es nicht gut. Du musst etwas für mich holen.«
»Was?« Sie versucht die Tür zu öffnen. »Kommen Sie heraus, Miss.«
»Ich kann nicht. Ich wage es nicht. Dainty, du musst zu der Schublade gehen, in der Kommode oben in meinem Zimmer. Tust du das? Dort ist etwas. Tust du das? Ach, ich wollte, du würdest dich beeilen! Ach, wie es strömt! Ich habe Angst, dass die Männer zurückkommen –«
»Oh«, sagt sie. Endlich hat sie mich verstanden. Sie senkt die Stimme. »Kam wohl überraschend, was?«
»Gehst du für mich, Dainty?«
»Aber ich darf Sie nicht alleinlassen, Miss!«
»Dann muss ich hierbleiben, bis Mrs. Sucksby zurückkommt! Was aber, wenn John oder Mr. Ibbs vorher da sind? Oder wenn ich ohnmächtig werde? Und dann ist die Tür verriegelt! Was wird Mrs. Sucksby dann von uns denken?«
»Ach Gott«, murmelt sie. Und dann: »In der Kommode, sagen Sie?«
»In der obersten Schublade, ganz rechts. Beeil dich! Wenn ich mich nur frischmachen und dann hinlegen kann. Mich nimmt das immer so mit –«
Sie geht. Ich drücke mein Ohr gegen das Holz, höre ihre Schritte, höre, wie die Küchentür geöffnet wird und wieder zuschlägt. Ich ziehe den Riegel zurück und laufe los. Ich laufe durch den Gang und in den Hinterhof hinein – ich kann mich daran erinnern, an die Nesseln, die Backsteine. Welchen Weg muss ich nun einschlagen? Rings um mich herum sind hohe Mauern. Doch ich laufe weiter, und die Mauern geben den Weg frei. Dort ist ein staubiger Pfad – er war glitschig und schlammig, als ich das letzte Mal hier entlangging, doch als ich ihn sehe, da erkenne ich ihn. Er führt mich in eine Gasse, und diese wiederum führt mich einen weiteren Weg entlang, der eine Straße kreuzt und – mich wohin bringt? Zu einem Weg, den ich nicht wiedererkenne, er führt unter den Pfeilern einer Brücke hindurch. Ich kann mich an die Brücke erinnern, aber soweit ich mich entsinne, müsste sie näher sein, und niedriger. Ich kann mich an eine hohe, tote Mauer erinnern. Hier ist keine Mauer.
Ganz gleich. Weiterlaufen. Den Häusern den Rücken kehren und weiterlaufen. Jetzt breitere Straßen einschlagen: die Sträßchen und Gassen sind gewunden und dunkel, in denen darf ich mich nicht erwischen lassen. Lauf, lauf. Auch wenn der Himmel unermesslich und furchtbar erscheint. Auch wenn London laut ist. Auch wenn hier Leute sind – auch wenn sie starren – auch wenn ihre Kleidung abgetragen und ausgeblichen ist und dein eigenes Kleid in einem leuchtenden Violett strahlt, auch wenn sie alle Hüte tragen und dein Kopf bloß ist. Auch wenn deine Pantoffeln aus Seide sind, jeder Stein und jedes Kohlestückchen dir die Füße zerschneidet –
So peitsche ich mich selbst voran. Nur der Verkehr hindert mich am zügigen Vorankommen, die rasenden Pferde und Wagenräder: An jeder Kreuzung bleibe ich stehen, dann werfe ich mich in das Gewühl aus Droschken und Wagen. Ich glaube, es ist nur meiner Eile, meiner Verzweiflung zu verdanken und vielleicht der grellen Farbe meines Kleides, dass die Kutscher die Zügel anziehen und mich nicht überfahren. Weiter, immer weiter laufe ich. Ich glaube, einmal bellt ein Hund mich an und schnappt nach meinem Rock. Ich glaube, eine Weile laufen einige Jungen neben mir her und grölen, als ich stolpere. »Ihr«, sage ich und halte mir die Seiten, »könnt ihr mir sagen, wo es zur Holywell Street geht? Wo ist die Holywell Street?« – doch als sie hören, wie ich sie anspreche, lassen sie sich zurückfallen.
Dann gehe ich ein wenig langsamer. Ich überquere eine geschäftigere Straße. Die Gebäude hier sind vornehmer, doch bloß zwei Straßen weiter sind die Häuser schon wieder schäbig. Welche Richtung muss ich einschlagen? Ich muss gleich noch einmal nachfragen. Doch bis dahin laufe ich noch ein Stückchen weiter, lege noch ein paar Straßen zwischen mich und Mrs. Sucksby, Richard und Mr. Ibbs. Was macht es schon, wenn ich mich verirre? Ich bin schon jetzt vom Weg abgekommen …
Dann komme ich an die Einmündung eines Durchgangs zwischen hohen gelben Backsteinmauern, und an deren Ende erblicke ich, dunkel und bucklig über den Giebeln der schadhaften Dächer, das glänzende goldene Kreuz der St. Paul’s Kathedrale. Ich kenne sie von Illustrationen, und ich glaube, die Holywell Street ist ganz in der Nähe. Ich raffe meine Röcke und eile darauf zu. In dem Durchgang stinkt es widerlich, doch die Kathedrale scheint ganz nahe! Die Backsteine schimmern nun grünlich, der Geruch wird immer schlimmer. Ich laufe eine Steigung hinauf, dann plötzlich geht es wieder hinunter, ich komme aus dem Durchgang heraus und wäre beinahe gestolpert. Ich hatte eine Straße erwartet oder einen Platz. Stattdessen stehe ich am oberen Ende einer schiefen Treppe, die zum schmutzigen Wasser hinunterführt. Ich bin am Ufer des Flusses angekommen. Die St. Paul’s Kathedrale ist tatsächlich zum Greifen nahe, doch zwischen uns liegt die Themse in ihrer ganzen Breite.
Ich stehe da und starre den Fluss an, und Grauen wie Ehrfurcht packen mich. Ich weiß noch, wie ich in Briar an der Themse entlanggegangen bin. Ich weiß noch, wie es mir schien, als fließe sie in ängstlicher Sorge dahin: Ich dachte immer, sie sehne sich danach – so wie ich es tat –, schneller zu werden und sich auszudehnen. Ich wusste ja nicht, wie sehr sie sich ausdehnen würde. Sie fließt wie Gift. An ihrer Oberfläche treibt eine Unmenge Abfall – Heu, Holz, Unkraut, Papier, Stofffetzen, Korken und schräg im Wasser liegende Flaschen. Sie fließt nicht wie Flüsse sonst fließen, nein, sie ist eher wie ein Meer: Sie wogt. Und wo sie sich am Bug der Kähne bricht und wo sie sich gegen das Ufer wirft und auf die Treppen und Mauern und hölzernen Piers prallt, die sich aus ihr erheben, da schäumt sie auf wie saure Milch.
Es ist eine Agonie aus Wasser und Unrat. Doch es sind Männer auf dem Fluss, frech wie Ratten – sie legen sich in die Riemen der Ruderboote, zerren an Segeln. Und hier und dort stehen am Rand des Flusses – mit nackten Beinen und gebeugtem Rücken – auch Frauen, Mädchen und Jungen, die sich den Weg durch den aufgewühlten Abfall bahnen, wie Ährenleser auf einem Feld. Sie schauen nicht auf, sie beachten mich nicht, obgleich ich eine Minute lang dastehe und zusehe, wie sie durch das trübe Wasser waten.
Am gesamten Ufer, das ich entlanggelaufen bin, stehen Lagerhäuser, und den Arbeitern, die sich dort zu schaffen machen, falle ich – mit meinem Kleid, vermute ich – bald ins Auge. Zuerst starren sie mich bloß an, dann winken und rufen sie. Das reißt mich aus meiner Benommenheit. Ich drehe mich um, gehe zurück durch den Durchgang, nehme wieder den Weg nach oben. Ich habe die Brücke schon gesehen, die ich nehmen muss, um zu St. Paul’s zu gelangen, aber mir scheint, ich befinde mich zu weit unten, und ich finde die Straße nicht, die nach oben führt. Die Straßen, auf denen ich jetzt gehe, sind schmal, ungepflastert und stinken noch immer nach schmutzigem Wasser. Auch auf ihnen sind Männer unterwegs – Männer von den Kähnen und Lagerhäusern, die, wie die anderen, versuchen, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie pfeifen und manchmal rufen sie mir auch etwas zu. Ich verberge das Gesicht hinter den Händen und laufe schnell weiter.
Schließlich stoße ich auf einen Jungen, der wie ein Dienstbote gekleidet ist. »Wie komme ich zur Brücke?«, frage ich. »Auf die andere Seite?« Er zeigt mit dem Finger auf eine Treppe und stiert mir hinterher, als ich hinaufsteige.
Alle starren mich an – Männer, Frauen, Kinder – selbst hier, wo es auf den Straßen wieder lebhafter zugeht. Ich will schon ein Stück Stoff von meinem Kleid abreißen, um damit meinen bloßen Kopf zu bedecken. Ich will schon eine Münze erbetteln. Wenn ich wüsste, was für eine Münze ich erbetteln müsste, wie viel ein Hut kosten würde, wo ich ihn kaufen könnte, dann würde ich es tun. Doch ich weiß nichts, nichts, und so gehe ich einfach weiter. Die Sohlen meiner Pantoffeln sind langsam durchgelaufen. Mach dir nichts daraus, Maud. Wenn du dir darüber Gedanken machst, dann fängst du nur an zu weinen. Dann steigt die Straße vor mir wieder an, und wieder sehe ich das Glitzern des Wassers. Endlich, die Brücke! Das treibt mich an, schneller zu gehen. Doch vom schnellen Gehen reißen die Pantoffeln noch mehr ein. Und einen Moment später bin ich gezwungen anzuhalten. In der Mauer am Anfang der Brücke gibt es eine Nische, in der eine flache steinerne Bank steht. Daneben hängt ein Korkgürtel, der dazu gedacht ist, dass man ihn, wie auf einem Schild zu lesen ist, denen zuwirft, die auf dem Fluss in eine missliche Lage geraten sind.
Ich setze mich. Die Brücke ist höher als erwartet. Ich bin noch nie so hoch oben gewesen! Der Gedanke lässt mich schwindeln. Ich betaste meinen zerschlissenen Schuh. Ist es einer Frau gestattet, auf einer öffentlichen Brücke nach ihrem verletzten Fuß zu sehen? Ich weiß es nicht. Der Verkehr rauscht an mir vorbei, schnell und ohne Unterbrechung wie tosendes Wasser. Was wäre, wenn Richard vorbeikäme? Wieder bedecke ich mein Gesicht. Gleich werde ich weitergehen. Die Sonne brennt heiß. Gleich werde ich wieder zu Atem kommen. Ich schließe die Augen. Nun kann ich es nicht mehr sehen, wenn die Leute mich anstarren.
Dann kommt jemand, bleibt vor mir stehen und spricht mich an.
»Sie sind wohl unpässlich?«
Ich öffne die Augen. Ein Mann, recht bejahrt. Ich kenne ihn nicht. Ich lasse die Hand sinken.
»Haben Sie keine Angst«, sagt er. Vielleicht ist mein Blick wirr. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Er fasst sich an den Hut, macht eine Art Verbeugung. Er könnte ein Freund meines Onkels sein. Seine Stimme ist die eines Gentleman, und sein Kragen ist weiß. Er lächelt, dann betrachtet er mich ein wenig genauer. Sein Gesicht wirkt freundlich. »Sind Sie unpässlich?«
»Helfen Sie mir?«, entgegne ich.
Als er meine Stimme hört, verändert sich sein Gesicht. »Selbstverständlich«, antwortet er. »Was ist denn? Sind Sie verletzt?«
»Nein, nicht verletzt«, erwidere ich. »Aber man hat mir übel mitgespielt – sehr übel. Ich –« Ich werfe einen Blick auf die Kutschen und Wagen auf der Brücke. »Ich fürchte mich vor gewissen Leuten. Helfen Sie mir? Ach, ich wollte, Sie würden sagen, dass Sie mir helfen!«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt. Doch wie höchst ungewöhnlich! Sie, eine Dame – wollen Sie mit mir kommen? Sie müssen mir Ihre ganze Geschichte erzählen, ich werde mir alles anhören. Können Sie aufstehen? Ich fürchte, Sie haben sich die Füße verletzt. Oje, oje! Lassen Sie mich eine Droschke anhalten. So ist’s recht.«
Er bietet mir den Arm, und ich nehme ihn und stehe auf. Die Erleichterung hat mir die letzte Kraft genommen.
»Gott sei Dank!«, sage ich. »Gott sei Dank! Doch hören Sie …« Ich packe ihn fester. »Ich habe nichts – kein Geld, um Sie zu bezahlen –«
»Geld?« Er legt seine Hand auf meine. »Das würde ich gar nicht annehmen. Daran dürfen Sie gar nicht denken!«
»Doch ich habe einen Freund, der mir wohl helfen würde. Wenn Sie mich zu ihm bringen könnten?«
»Natürlich, natürlich. Was sonst? Kommen Sie, sehen Sie, genau das brauchen wir.« Er beugt sich vor und hebt den Arm: Eine Droschke schert aus dem Strom der Fahrzeuge aus und hält vor uns an. Der Herr greift nach der Klinke und öffnet die Tür. Die Droschke ist geschlossen, und drinnen ist es dunkel.
»Geben Sie acht«, mahnt er. »Geht es so? Geben Sie acht. Der Tritt ist recht hoch.«
»Gott sei Dank!«, sage ich wieder und hebe den Fuß.
Währenddessen tritt er hinter mich. »So ist’s recht«, sagt er. Und dann: »Sieh einer an, wie hübsch Sie hinaufsteigen!«
Ich halte inne, den Fuß auf dem Trittbrett. Er legt mir die Hand um die Taille. »Nur weiter«, sagt er und will mich in die Kutsche drängen.
Ich mache einen Schritt zurück. »Vielleicht«, sage ich, »sollte ich doch lieber zu Fuß gehen. Zeigen Sie mir den Weg?«
»Es ist zu heiß, um zu Fuß zu gehen. Sie sind zu erschöpft. Nur weiter.«
Seine Hand liegt noch immer um meine Taille. Er schiebt nachdrücklicher. Ich entwinde mich ihm, und beinahe ringen wir miteinander.
»Was denn!«, ruft er grinsend.
»Ich habe es mir anders überlegt.«
»Kommen Sie schon …«
»Lassen Sie mich los!«
»Wollen Sie Aufsehen erregen? Kommen Sie schon. Ich kenne da ein Haus –«
»Ein Haus? Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass ich nur einen Freund aufsuchen möchte?«
»Nun, Sie werden ihm bestimmt besser gefallen, wenn Sie sich das Gesicht gewaschen, frische Strümpfe angezogen und einen Tee getrunken haben. Oder – wer weiß? – vielleicht ziehen Sie mich anschließend vor. Hm?«
Sein Gesicht ist noch immer freundlich, er lächelt noch immer. Doch er hält mein Handgelenk fest umklammert und streicht mit dem Daumen darüber und versucht wieder, mich in die Kutsche zu schieben. Jetzt ringen wir wirklich miteinander. Niemand schreitet ein. Vermutlich weil man uns aus den übrigen Gefährten auf der Straße nicht sehen kann. Die Männer und Frauen, die über die Brücke gehen, werfen einen kurzen Blick auf uns, dann wenden sie sich ab.
Aber der Kutscher ist ja noch da. Ich rufe nach ihm. »Sehen Sie denn nicht? Hier gibt es ein Missverständnis. Dieser Mann belästigt mich.«
Da lässt er mich los. Ich gehe ein paar Schritte zurück und rufe zum Kutscher hinauf: »Nehmen Sie mich auch allein mit? Ich werde dafür sorgen, dass jemand Sie bezahlt, wenn wir erst dort angekommen sind. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Der Kutscher mustert mich unverblümt, während ich rede. Als er hört, dass ich keinen Penny bei mir habe, dreht er den Kopf weg und spuckt aus. »Ohne Fahrgeld keine Fahrt«, sagt er.
Der Mann ist wieder neben mir. »Kommen Sie schon«, sagt er. Er lächelt nicht mehr. »Dazu besteht doch keinerlei Veranlassung. Was soll denn das? Es ist doch offensichtlich, dass Sie in der Klemme stecken. Möchten Sie keine frischen Strümpfe, keinen heißen Tee?«
Doch ich rede weiter auf den Kutscher ein. »Sagen Sie mir wenigstens, welchen Weg ich einschlagen muss? Ich muss unbedingt in die Holywell Street. Erklären Sie mir den Weg dorthin?«
Als er den Namen hört, schnaubt er – ob vor Verachtung oder Lachen, weiß ich nicht. Doch er hebt die Peitsche. »Dort entlang«, sagt er und weist zum anderen Ende der Brücke, »und dann nach Westen, über die Fleet Street.«
»Danke.« Ich gehe los. Der Mann greift nach mir. »Lassen Sie mich los!«
»Das meinen Sie doch nicht so.«
»Lassen Sie los!« Ich kreische fast.
Er weicht zurück. »Dann gehen Sie doch«, sagt er. »Sie verdammtes kleines Flittchen. Erst heißmachen und dann stehen lassen.«
Ich gehe, so schnell ich kann. Beinahe laufe ich. Doch dann, einen Moment später, schließt die Droschke mit mir auf und wird langsamer, so dass sie neben mir herfährt. Der Herr schaut heraus. Nun macht er wieder ein freundlicheres Gesicht.
»Es tut mir leid«, sagt er einschmeichelnd. »Steigen Sie doch ein. Es tut mir leid. Wollen Sie nicht einsteigen? Ich bringe Sie zu Ihrem Freund, ich schwöre es. Schauen Sie!« Er zeigt mir eine Münze. »Die gebe ich Ihnen. Steigen Sie ein. Sie dürfen nicht in die Holywell Street gehen, dort gibt es üble Männer. Kommen Sie, ich weiß, dass Sie eine Dame sind, und ich bin auch ganz nett zu Ihnen …«
So ruft und schmeichelt er die halbe Strecke über die Brücke, bis sich eine lange Reihe von Wagen hinter der dahinkriechenden Droschke gebildet hat und der Kutscher schreit, er müsse zufahren. Da zieht der Mann sich zurück, schließt das Fenster mit einem Knall, und die Droschke fährt davon. Ich verlasse die Brücke. Hier trifft die Straße auf eine andere, die belebter ist als die am südlichen Ufer. Doch sie ist auch anonymer, glaube ich. Wofür ich dankbar bin, obgleich die Menschenmassen furchtbar sind. Ganz gleich, ganz gleich, weiter hindurchdrängen. Weitergehen. Westlich, den Weg weiter, den der Kutscher mir gewiesen hat.
Wieder verändert sich die Straße. Links und rechts ist sie von Häusern mit ausladenden Fenstern gesäumt – das müssen wohl Geschäfte sein. Denn da sind Waren zur Ansicht ausgebreitet, die Preise stehen auf kleinen Kärtchen daneben. Es gibt Perlen, es gibt Arzneien. Es gibt Handschuhe. Es gibt Schuhe und Hüte. Ach, hätte ich doch nur ein wenig Geld! Ich denke an die Münze, die der Herr mir angeboten hat. Hätte ich sie rasch nehmen und davonlaufen sollen? Jetzt ist es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Einerlei. Weitergehen. Dort ist eine Kirche, sie teilt die Straße wie ein Brückenpfeiler das Wasser. Welchen der beiden Wege soll ich nehmen? Eine Frau geht vorbei, wie ich mit bloßem Kopf. Ich packe sie am Arm und frage sie nach dem Weg. Sie weist ihn mir, und dann steht sie wie alle anderen da und starrt mich an, während ich weitergehe.
Da ist endlich die Holywell Street! Doch plötzlich zögere ich. Wie habe ich mir die Straße vorgestellt? So jedenfalls nicht – so eng, so gewunden, so düster. Es ist noch immer ein heißer Tag hier in London, und es ist noch immer hell. Aber als ich in die Holywell Street einbiege, scheine ich ins Zwielicht einzutauchen. Was letzten Endes nur gut für mich ist: Das Zwielicht verbirgt mein Gesicht und beraubt das Kleid seiner Farbe. Ich gehe weiter.
Die Straße wird noch schmaler. Der Boden ist staubig, uneben, ungepflastert. Zu beiden Seiten gibt es beleuchtete Läden: Vor manchen hängen Wäscheleinen mit zerschlissenen Kleidungsstücken, aus manchen ergießen sich zerbrochene Stühle und leere Bilderrahmen und farbige Gläser, die meisten jedoch verkaufen Bücher. Wieder zögere ich, als ich das sehe. Ich habe kein Buch mehr in der Hand gehabt, seit ich aus Briar fortgelaufen bin. Und nun unvermittelt auf eine solche Menge zu stoßen, zu sehen, wie sie daliegen, die Titel nach oben, wie Brotlaibe auf einem Tablett, oder aufs Geratewohl in Körben gestapelt, zu sehen, wie zerrissen und stockfleckig und verblichen sie sind – mit 2. WAHL beschriftet, 3. WAHL, DIESE KISTE 1 SHILLING –, bringt mich gänzlich aus der Fassung. Ich bleibe stehen und sehe einem Mann zu, der wahllos in den Kisten mit den Büchern ohne Titelblätter kramt und eines herauszieht. Die Mausefalle der Liebe. – Das kenne ich, dieses Buch habe ich meinem Onkel so viele Male vorgelesen, dass ich es in- und auswendig kenne!
Dann hebt der Mann den Kopf und sieht, wie ich ihm zuschaue, und ich gehe rasch weiter. Noch mehr Läden, noch mehr Bücher, noch mehr Männer, und schließlich entdecke ich ein Schaufenster, das ein bisschen heller erleuchtet ist als die anderen. Die Auslage besteht aus Drucken, aufgereiht an Schnüren. Auf der Scheibe steht Mr. Hawtreys Name in Lettern aus abblätterndem Gold. Als ich das sehe, da erzittere ich so heftig, dass ich beinahe stolpere.
Innen ist der Laden klein und vollgestopft. Das hatte ich nicht erwartet. Die Wände hat man den Büchern und Drucken überlassen. Des Weiteren befinden sich dort auch noch einige Wandschränke. Drei oder vier Männer stehen vor jedem davon, und sie alle blättern hastig und vertieft durch irgendein Album oder Buch. Sie schauen nicht auf, als die Tür aufgeht. Doch als ich mit raschelnden Röcken eintrete, da drehen sich alle Köpfe nach mir um, und als die Männer mich erblicken, starren sie mich unverhohlen an. Doch inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, angestarrt zu werden. Am hinteren Ende des Ladens steht ein kleiner Schreibtisch, an dem ein junger Mann in Weste und Hemdsärmeln sitzt. Auch er starrt mich an. Dann, als er merkt, dass mich nähere, steht er auf.
»Was suchen Sie?«, fragt er.
Ich schlucke. Mein Mund ist trocken. Leise sage ich: »Ich suche Mr. Hawtrey. Ich möchte Mr. Hawtrey sprechen.«
Als er meine Stimme hört, zuckt er zusammen. Die Kunden drehen sich zu mir um und mustern mich abermals.
»Mr. Hawtrey arbeitet nicht im Laden. Sie hätten nicht in den Laden kommen sollen. Haben Sie einen Termin?«
»Mr. Hawtrey kennt mich«, gebe ich zurück. »Ich brauche keinen Termin.«
Er wirft einen Blick auf die Kunden. Er sagt: »Welcher Art ist Ihr Anliegen?«
»Es ist privat«, erwidere ich. »Würden Sie mich zu ihm führen?«
Es muss jedoch etwas in meinem Blick sein oder in meiner Stimme. Er wird noch zurückhaltender, weicht einen Schritt zurück.
»Ich weiß nicht genau, ob er im Hause ist«, erklärt er. »Sie hätten wirklich nicht in den Laden kommen dürfen. Der Laden ist zum Verkauf gewisser Bücher und Drucke. Mr. Hawtreys Zimmer sind oben.«
Hinter ihm ist eine Tür. »Lassen Sie mich bitte zu ihm«, sage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Sie können ihm eine Karte nach oben schicken.«
»Ich habe keine Karte bei mir«, sage ich. »Aber wenn Sie mir ein Blatt Papier geben, schreibe ich ihm meinen Namen auf. Er wird herunterkommen, wenn er ihn liest. Geben Sie mir ein Blatt Papier?«
Der junge Mann rührt sich nicht. Wieder sagt er: »Ich glaube nicht, dass er im Hause ist.«
»Dann warte ich, wenn es denn sein muss«, erkläre ich.
»Hier können Sie nicht warten!«
»Sie haben doch gewiss ein Hinterzimmer«, antworte ich, »irgendeinen Raum, in dem ich warten kann.«
Wieder schaut er zu den Kunden, dann nimmt er einen Bleistift und legt ihn wieder hin.
»Wenn’s recht ist?«, sage ich.
Er verzieht das Gesicht. Dann bringt er mir ein Blatt Papier und einen Federhalter. »Aber Sie werden hier nicht warten können«, sagt er, »wenn sich herausstellen sollte, dass er nicht im Hause ist.« Ich nicke. »Schreiben Sie Ihren Namen dort drauf«, sagt er.
Ich setze an zu schreiben. Dann erinnere ich mich daran, was Richard mir einmal gesagt hat – dass die Buchhändler in ihren Läden in London über mich reden. Ich zögere, Maud Lilly zu schreiben. Ich fürchte, der junge Mann könnte es sehen. Schließlich fällt mir etwas ein – und ich schreibe: Galatea.
Ich falte das Blatt und reiche es dem jungen Mann. Er öffnet die Tür, pfeift in den Durchgang dahinter. Er horcht, dann pfeift er abermals. Dann hört man Schritte. Er beugt sich vor und murmelt, dann weist er auf mich.
Während ich warte, schließt einer der Kunden sein Album und sieht mich an. »Machen Sie sich nichts draus«, sagt er leise und spielt auf den jungen Mann an. »Er hält sie für ein leichtes Mädchen. Dabei kann doch jeder sehen, dass Sie eine Dame sind …« Er mustert mich, dann weist er mit dem Kopf auf die Bücherregale. »Sie mögen so was wohl?«, sagt er mit veränderter Stimme. »Natürlich tun Sie das. Warum auch nicht?«
Ich sage nichts, tue nichts. Der junge Mann kommt zurück.
»Wir sehen nach«, sagt er, »ob Mr. Hawtrey im Hause ist.«
Hinter seinem Kopf hängen Bilder, in Hüllen aus Wachspapier an die Wand geheftet: ein Mädchen auf einer Schaukel, das seine Beine zeigt, ein Mädchen auf einem Boot, das gerade ausgleitet, ein Mädchen, das vom abbrechenden Ast eine Baumes fällt … Ich schließe die Augen. Er ruft einem der Männer zu: »Möchten Sie dieses Buch kaufen, Sir?«
Bald hört man abermals Schritte, und die Tür öffnet sich erneut.
Es ist Mr. Hawtrey.
Er sieht kleiner und schmächtiger aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Jacke und Hose sind verknittert. Aufgeregt steht er im Durchgang. Er kommt nicht in den Laden; er sieht mir in die Augen, lächelt aber nicht; er sieht an mir vorbei, als wolle er sich vergewissern, dass ich allein bin. Dann winkt er mir, ihm zu folgen. Der junge Mann macht einen Schritt beiseite, um mich durchzulassen.
»Mr. Hawtrey –«, sage ich. Er jedoch schüttelt den Kopf und wartet ab, bis die Tür sich hinter mir geschlossen hat. Dann sagt er in grimmigem Flüsterton: »Grundgütiger Himmel! Sind Sie das? Sind Sie wirklich hierher zu mir gekommen?«
Ich sage nichts. Ich stehe nur da, während er mich unverwandt ansieht. Zerstreut greift er sich mit der Hand an den Kopf. Dann nimmt er meinen Arm. »Hier entlang.« Er führt mich zu einer Treppe. Auf den Stufen stehen Kisten. »Geben Sie acht«, sagt er, als wir hinaufsteigen. Und dann, oben angekommen: »Hier hinein.«
Dort oben gibt es drei Zimmer, in denen Bücher gedruckt und gebunden werden. In einem davon arbeiten zwei Männer und legen Papier in die Presse ein; in einem weiteren befindet sich anscheinend Mr. Hawtreys Büro. Das dritte Zimmer ist klein, und darin riecht es durchdringend nach Klebstoff. In diesen Raum führt er mich. Auf den Tischen stapelt sich Papier – lose Blätter mit ausgefransten Kanten: die Seiten eines unvollendeten Buches. Der Boden ist nackt und staubig. In einer Wand – der Wand zum Zimmer der Schriftsetzer – sind Milchglasscheiben eingelassen. Man kann gerade so eben erkennen, wie sich die Männer über ihre Arbeit beugen.
Ein einzelner Stuhl steht dort, doch Mr. Hawtrey fordert mich nicht auf, mich zu setzen. Er schließt die Tür und stellt sich davor. Er zieht ein Taschentuch hervor und wischt sich das Gesicht, das gelblich weiß ist. »Grundgütiger Himmel«, sagt er wieder. Und dann: »Vergeben Sie mir. Diese ganze Angelegenheit hat mich vollkommen überrascht.«
»Es tut mir leid«, sage ich. Meine Stimme klingt unsicher. »Ich fürchte, weinen zu müssen. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um zu weinen.«
»Weinen Sie ruhig, wenn Sie wollen«, sagt er mit einem Seitenblick auf die Milchglasscheiben.
Aber ich weine nicht. Einen Moment sieht er zu, wie ich mit den Tränen kämpfe, dann schüttelt er den Kopf. »Meine Liebe«, sagt er schließlich sanft. »Was haben Sie nur getan?«
»Fragen Sie mich nicht.«
»Sie sind davongelaufen.«
»Meinem Onkel, ja.«
»Ihrem Ehemann, denke ich.«
»Meinem Ehemann?« Ich schlucke. »Dann wissen Sie davon?«
Er zuckt die Schultern, errötet, wendet den Blick ab.
Ich sage: »Sie halten mich für falsch. Sie wissen ja gar nicht, wie ich habe leiden müssen! Keine Sorge« – denn wieder hat er zu den Milchglasscheiben hingeschaut – »keine Sorge, ich werde nicht die Fassung verlieren. Sie können von mir denken, was Sie wollen. Aber Sie müssen mir helfen. Tun Sie das?«
»Meine Liebe –«
»Das müssen Sie tun. Sie müssen einfach. Ich habe nichts. Ich brauche Geld, ein Haus, in dem ich bleiben kann. Sie haben immer gesagt, Sie würden mich mit offenen Armen willkommen heißen –« Unwillkürlich wird meine Stimme schriller.
»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagt er und hebt die Hände, als wolle er mich trösten, doch er rührt sich keinen Schritt von der Tür fort. »Bleiben Sie ganz ruhig. Wissen Sie, wie merkwürdig dies wirken muss? Was werden meine Angestellten denken? Ein Mädchen kommt herein, verlangt mich dringend zu sprechen, schickt einen Zettel mit einem rätselhaften Namen herauf …« Er lacht, doch es ist kein glückliches Lachen. »Was sollen meine Töchter dazu sagen, und meine Frau?«
»Es tut mir leid.«
Wieder wischt er sich über das Gesicht. Er atmet heftig aus. »Ich wollte, Sie würden mir erzählen, weshalb Sie zu mir gekommen sind. Ich hoffe, Sie denken nicht, ich würde mich gegen Ihren Onkel auf Ihre Seite schlagen. Es hat mir nie gefallen, unter welch schäbigen Bedingungen er Sie dort festgehalten hat. Aber er darf nicht erfahren, dass Sie hierhergekommen sind. Noch dürfen Sie annehmen, dass ich Ihnen helfen werde, sein Wohlwollen zurückzuerlangen. Er hat Sie gänzlich verstoßen, wissen Sie. Und des Weiteren ist er erkrankt – ernsthaft erkrankt wegen dieser ganzen Angelegenheit. Haben Sie das gewusst?«
Ich schüttele den Kopf. »Mein Onkel bedeutet mir nichts mehr.«
»Aber mir bedeutet er etwas, verstehen Sie? Sollte es ihm zu Gehör kommen, dass Sie hier waren –«
»Das wird es nicht.«
»Nun.« Er seufzt. Dann legt sich seine Stirn wieder in Sorgenfalten. »Hierherzukommen!« Er mustert mich, betrachtet mein grellbuntes Kleid und die schmutzigen Handschuhe und mein Haar, das sicher völlig zerzaust ist. Mein Gesicht ist gewiss matt und bleich und voller Straßenstaub. »Ich habe Sie kaum erkannt«, sagt er, »so verändert scheinen Sie mir. Wo haben Sie Mantel und Hut gelassen?«
»Dazu war keine Zeit –«
Er wirkt entsetzt. »Sind Sie so hergekommen?« Mit zusammengekniffenen Augen schaut er auf den Saum meines Kleides, dann sieht er meine Füße und fährt zurück. »Aber Ihre Pantoffeln! Ihre Füße bluten! Sind Sie ohne Schuhe aus dem Haus gegangen?«
»Das musste ich. Ich habe nichts!«
»Nicht einmal Schuhe?«
»Nein. Nicht einmal Schuhe.«
»Rivers kauft Ihnen keine Schuhe?«
Er glaubt mir nicht.
»Wenn ich«, setze ich an, »Ihnen nur alles erzählen könnte –« Doch Mr. Hawtrey hört nicht zu. Er sieht sich um, als sähe er den Tisch und die Papierstapel zum ersten Mal. Er nimmt ein paar der leeren Blätter und fängt an, die bedruckten Seiten abzudecken.
»Sie hätten nicht herkommen sollen«, sagt er dabei. »Sehen Sie sich das an! Sehen Sie sich das an!«
Ich erhasche einen Blick auf eine der Zeilen. »– du wirst genug bekommen, so wahr ich hier stehe, ich werde dich peitschen, peitschen –« »Versuchen Sie das vor mir zu verbergen?«, frage ich. »Ich habe in Briar Schlimmeres zu sehen bekommen. Haben Sie das schon vergessen?«
»Wir sind hier nicht in Briar. Sie verstehen das nicht. Wie sollten Sie auch? Dort waren Sie unter Gentlemen. Ich gebe allein Rivers die Schuld dafür. Er hätte ein wachsameres Auge auf Sie haben müssen. Er hat doch gesehen, was man aus Ihnen gemacht hatte.«
»Sie haben ja keine Ahnung«, sage ich. »Sie haben ja keine Ahnung, wie er mich benutzt hat!«
»Ich will es gar nicht wissen! Sagen Sie es mir nicht. Ach, sehen Sie sich nur an! Wissen Sie, welchen Eindruck Sie auf der Straße gemacht haben müssen? Sie sind doch gewiss nicht hierhergekommen, ohne Aufsehen zu erregen?«
Ich schaue auf meinen Rock, meine Pantoffeln. »Da war ein Mann«, sage ich, »auf der Brücke. Ich dachte, er wollte mir helfen. Doch er wollte bloß –« Meine Stimme beginnt zu zittern.
»Sehen Sie?«, sagt Mr. Hawtrey da. »Sehen Sie? Was wäre, wenn ein Schutzmann Sie gesehen hätte und Ihnen bis hierher gefolgt wäre? Wissen Sie, was mit mir geschehen würde – mit meinen Angestellten, meinen Beständen –, wenn die Polizei hier hereingestürmt käme? Und das könnte Sie, bei einem solchen Anlass. Ach Gott, sehen Sie sich nur Ihre Füße an! Sie bluten ja tatsächlich!«
Er hilft mir auf den Stuhl, dann schaut er sich um. »Nebenan ist ein Spülstein. Warten Sie hier.« Er geht hinüber in den Raum, in dem die Setzer sind. Ich sehe, wie sie die Köpfe heben, höre seine Stimme. Ich weiß nicht, was er ihnen erzählt. Es kümmert mich nicht. Während ich so dasitze, werde ich müde, und meine Fußsohlen, die bis jetzt fast taub gewesen sind, beginnen zu brennen. Das Zimmer hat kein eigenes Fenster und keinen Kamin, und der Geruch des Klebstoffs wird immer stärker. Ich trete an einen der Tische. Ich stütze mich darauf, und mein Blick fällt auf die Stapel von ungeschnittenem, ungebundenem Papier. »– und ich werde dich peitschen, peitschen, peitschen, dein Hinterteil peitschen, bis dir das Blut zu den Fersen hinabläuft –« Das Gedruckte ist noch frisch und schwarz, doch das Papier ist von schlechter Qualität, die Tinte verlaufen. Welche Schrift ist das? Ich kenne sie, aber – das beunruhigt mich – kann mich nicht an ihren Namen erinnern. »Soso, du magst die Rute wohl?«
Mr. Hawtrey kehrt zurück. Er hat ein Handtuch dabei und eine Schüssel halb voll mit Wasser. Des Weiteren ein Glas Wasser, das er mir zu trinken gibt.
»Hier, bitte sehr.« Er stellt die Schüssel vor mir auf den Boden, befeuchtet das Handtuch und reicht es mir, dann wendet er nervös den Blick ab. »Kommen Sie zurecht? Nur um erst einmal das Blut abzuwischen …«
Das Wasser ist kalt. Als ich mir die Füße abgewischt habe, feuchte ich das Handtuch noch einmal an und drücke es mir für einen Augenblick ins Gesicht. Mr. Hawtrey dreht sich um und sieht, wie ich das tue. »Sie haben doch kein Fieber?«, sagt er. »Sie sind doch nicht krank?«
»Mir ist nur warm«, sage ich. Er nickt und kommt herüber und nimmt die Schüssel fort. Dann gibt er mir das Glas, und ich trinke ein wenig. »Sehr gut«, sagt er.
Wieder betrachte ich die bedruckten Seiten auf dem Tisch, doch der Name der Schrifttype fällt mir partout nicht ein. Mr. Hawtrey schaut auf die Uhr. Dann hebt er die Hand an den Mund, kaut an der Nagelhaut des Daumens herum und runzelt die Stirn.
Ich sage: »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir zu helfen. Ich glaube, andere Männer würden mich tadeln.«
»Nein, nein. Habe ich es nicht bereits gesagt? Rivers ist zu tadeln. Ganz gleich. Sagen Sie mir jetzt – und seien Sie ehrlich zu mir: Wie viel Geld haben Sie augenblicklich bei sich?«
»Ich habe keines.«
»Gar keins?«
»Ich habe nur dieses Kleid. Vielleicht könnten wir es verkaufen? Ich hätte ohnehin viel lieber ein schlichteres.«
»Ihr Kleid verkaufen?« Die Sorgenfalten auf seiner Stirn vertiefen sich. »Reden Sie nicht so wirr, ja? Wenn Sie zurückgehen –«
»Zurück? Nach Briar?«
»Nach Briar? Ich meinte zu ihrem Ehemann.«
»Zu dem?« Ich schaue ihn verblüfft an. »Zu ihm kann ich nicht zurückgehen! Zwei Monate hat es mich gekostet, ihm zu entkommen!«
Er schüttelt den Kopf. »Mrs. Rivers –«, sagt er.
Ich erschauere. »Nennen Sie mich nicht so! Ich bitte Sie.«
»Wiederum so wirr! Wie sollte ich Sie denn nennen, wenn nicht so?«
»Nennen Sie mich Maud. Dieser Name gehört mir. Sonst nichts.«
Er macht eine Handbewegung. »Seien Sie nicht albern«, sagt er. »Hören Sie mir jetzt zu. Sie tun mir leid. Es hat Streit gegeben, nicht wahr?«
Ich lache so schrill auf, dass er zusammenzuckt und auch die beiden Setzer aufschauen.
»Seien Sie doch bitte vernünftig«, fleht er leise in mahnendem Ton.
Doch wie könnte ich das sein? »Einen Streit«, sage ich. »Sie glauben, es sei ein Streit. Glauben Sie, ich sei deswegen auf blutigen Füßen durch halb London gelaufen? Sie wissen gar nichts. Sie haben keine Ahnung, in welcher Gefahr ich schwebe, in welche Verwicklungen ich geraten bin! Doch ich kann es Ihnen nicht sagen. Es ist eine zu bedeutende Sache.«
»Was?«
»Eine geheime Angelegenheit. Ein Komplott. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann – ach!« Ich habe den Blick gesenkt, und er ist wieder auf die bedruckten Seiten gefallen. »Die Rute gefällt dir wohl?« »Welche Schrift ist das?«, frage ich. »Sagen Sie es mir?«
Er schluckt. »Diese Schrift?«, sagt er mit veränderter Stimme.
»Diese Schrifttype.«
Mr. Hawtrey zögert mit der Antwort. Dann: »Clarendon«, erwidert er rasch.
Clarendon. Ich habe es doch gewusst. Ich schaue noch immer auf das Papier. Ich glaube, ich habe die Schrift mit den Fingern berührt – bis Mr. Hawtrey herkommt und ein leeres Blatt darauflegt, wie er es auch bei den anderen Stapeln gemacht hat.
»Sehen Sie sich das nicht an«, sagt er. »Starren Sie nicht so! Was ist nur mit Ihnen? Ich glaube fast, Sie müssen krank sein.«
»Ich bin nicht krank«, erwidere ich. »Ich bin bloß müde.« Ich schließe die Augen. »Ich wollte, ich könnte hierbleiben und schlafen.«
»Hierbleiben?«, sagt er. »Hierbleiben, in meinem Laden? Sind Sie verrückt?«
Als ich dieses Wort vernehme, öffne ich die Augen und sehe ihm unverhohlen ins Gesicht. Er errötet, wendet rasch den Blick ab. Ich sage noch einmal, etwas bestimmter: »Ich bin bloß müde.«
Doch er antwortet nicht. Wieder hebt er die Hand an den Mund und nagt an seinem Daumen. Er beobachtet mich aufmerksam, vorsichtig aus den Augenwinkeln.
»Mr. Hawtrey –«
»Ich wollte«, sagt er da plötzlich, »ich wollte, Sie würden mir sagen, was Sie zu tun gedenken. Wie soll ich Sie auch nur aus dem Laden herausbringen? Ich muss eine Droschke zur Rückseite des Gebäudes rufen lassen.«
»Würden Sie das tun?«
»Können Sie irgendwo hingehen? Zum Schlafen? Zum Essen?«
»Nein, nirgendwo!«
»Dann müssen Sie nach Hause zurückkehren.«
»Das kann ich nicht. Ich habe kein Zuhause! Ich brauche nur ein wenig Geld, ein wenig Zeit. Es gibt da einen Menschen, den ich finden, den ich retten muss –«
»Retten?«
»Finden. Eine Frau. Und wenn ich sie gefunden habe, könnte es sein, dass ich noch einmal Hilfe brauche. Nur ein klein wenig Hilfe. Man hat mich getäuscht, Mr. Hawtrey. Man hat mich betrogen. Ich glaube, mit einem Anwalt – wenn wir einen ehrlichen Mann finden könnten – Sie wissen, dass ich reich bin? – oder es zumindest sein sollte.« Wieder sieht er mich an, ohne etwas zu sagen. Ich wiederhole: »Sie wissen, dass ich reich bin. Wenn Sie mir nur jetzt helfen würden. Wenn Sie mich nur unterbringen könnten –«
»Sie unterbringen! Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen? Unterbringen? Wo denn?«
»In Ihrem Haus vielleicht?«
»In meinem Haus?«
»Ich dachte –«
»In meinem Haus? Bei meiner Frau und meinen Töchtern? Nein, nein.« Er hat angefangen auf und ab zu laufen.
»Aber in Briar haben Sie doch oft gesagt –«
»Habe ich es Ihnen nicht schon gesagt? Wir sind hier nicht in Briar. Die Welt ist nicht wie Briar. Das müssen Sie noch lernen. Wie alt sind Sie? Sie sind ein Kind. Sie können Ihren Ehemann nicht verlassen, so wie Sie Ihren Onkel verlassen haben. Sie können in London nicht von nichts leben. Wie stellen Sie sich das denn vor?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte angenommen –« Ich hatte angenommen, Sie würden mir Geld geben. Ich sehe mich um. Dann kommt mir eine Idee. »Könnte ich nicht für Sie arbeiten?«
Er bleibt stehen. »Für mich arbeiten?«
»Indem ich Bücher zusammenstelle? Oder sogar selbst welche schreibe? Ich kenne diese Arbeit. Sie wissen sehr wohl, wie gut ich sie kenne! Sie könnten mir einen Lohn zahlen. Ich würde mir ein Zimmer nehmen – ich brauche nur ein Zimmer, ein ruhiges Zimmer! – ich würde es mir heimlich nehmen. Richard wird nie davon erfahren. Sie behalten mein Geheimnis für sich. Ich könnte arbeiten und ein wenig Geld verdienen – genug, um meine Freundin zu finden und mir einen ehrlichen Anwalt zu suchen, und dann – Was ist denn?«
Mr. Hawtrey macht ein seltsames Gesicht. »Nichts«, sagt er. »Ich – Nichts. Trinken Sie Ihr Wasser.«
Ich nehme an, dass ich errötet bin. Ich habe hastig gesprochen, und dabei ist mir heiß geworden: Ich schlucke und spüre, wie das kühle Wasser mir die Kehle hinunterrinnt. Mr. Hawtrey geht an den Tisch und stützt sich darauf. Er sieht mich nicht an, er denkt angestrengt nach. Als ich das Glas abstelle, dreht er sich wieder um. Er sieht mir nicht in die Augen.
»Hören Sie zu«, sagt er leise. »Sie können nicht hierbleiben, das wissen Sie. Ich muss nach einer Droschke schicken lassen, die Sie fortbringt. Ich muss auch nach einer gewissen Frau schicken lassen. Ich werde die Frau bezahlen, damit Sie mit Ihnen fährt.«
»Mitfährt? Wohin denn?«
»Zu einem – Hotel.« Er nimmt einen Federhalter, sieht in ein Buch und beginnt Anweisungen auf ein Stück Papier zu schreiben. »Ein Haus«, sagt er währenddessen, »wo Sie zur Ruhe kommen und zu Abend essen können.«
»Wo ich zur Ruhe kommen kann?«, sage ich. »Ich glaube nicht, dass ich je wieder zur Ruhe komme! Ein Zimmer jedoch! Ein Zimmer! Und werden Sie mich dort besuchen? Heute Abend?« Er gibt keine Antwort. »Mr. Hawtrey?«
»Nicht heute Abend«, sagt er und schreibt noch immer. »Heute Abend kann ich nicht kommen.«
»Morgen also.«
Er wedelt mit dem Papier, damit die Tinte trocknet, dann faltete er es. »Morgen«, sagt er. »Wenn ich kann.«
»Sie müssen!«
»Jaja.«
»Und die Arbeit – dass ich für Sie arbeite. Das werden Sie sich durch den Kopf gehen lassen? Sagen Sie, dass Sie darüber nachdenken!«
»Still! Ja, ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.«
»Gott sei Dank!« Ich lege die Hände über die Augen.
»Bleiben Sie hier«, sagt er. »Ja? Gehen Sie nicht fort.«
Ich höre, wie er nach nebenan geht. Und als ich aufschaue, sehe ich, wie er leise mit einem der Schriftsetzer redet – sehe, wie der Mann seine Jacke anzieht und hinausgeht. Mr. Hawtrey kommt zurück. Er weist mit dem Kopf auf meine Füße.
»Ziehen Sie sich die Pantoffeln wieder an.« Er wendet sich ab. »Wir müssen bereit sein.«
»Sie sind sehr freundlich, Mr. Hawtrey«, sage ich, während ich mich hinunterbeuge und an meinen zerschlissenen Pantoffeln nestele. »Gott weiß, niemand ist so freundlich zu mir gewesen, seit –« Meine Stimme versagt.
»Na, na«, sagt er zerstreut. »Denken Sie nun nicht mehr daran …«
Dann sitze ich schweigend da. Er wartet, nimmt seine Uhr heraus, geht hin und wieder zum Treppenabsatz, bleibt dort stehen und horcht. Schließlich geht er hinaus und kommt dann rasch wieder herein.
»Sie sind hier«, sagt er. »Also, haben Sie alles? Kommen Sie hier entlang, vorsichtig.«
Er bringt mich hinunter. Er führt mich durch eine Reihe von Zimmern, in denen sich Kisten und Kartons bis zur Decke stapeln, und dann durch eine Art Spülküche zu einer Tür. Durch die Tür gelangt man in einen kleinen grauen Hinterhof. Von hier aus führen Treppenstufen in eine Gasse. Dort wartet eine Droschke, und neben ihr steht eine Frau. Als sie uns sieht, nickt sie.
»Sie wissen, was Sie zu tun haben?«, sagt Mr. Hawtrey zu ihr. Wieder nickt sie. Er gibt ihr Geld, in das Papier eingewickelt, auf dem er alles niedergeschrieben hat. »Dies hier ist die Dame. Sie heißt Mrs. Rivers. Seien Sie nett zu ihr. Haben Sie ein Umschlagtuch?«
Sie hat ein kariertes Wolltuch, das sie mir umlegt, um meinen Kopf zu bedecken. Die Wolle an meiner Wange kommt mir heiß vor. Es ist noch immer warm, obgleich es schon beinahe dämmert. Die Sonne ist vom Himmel verschwunden. Ich bin seit drei Stunden fort aus der Lant Street.
An der Tür der Droschke drehe ich mich um. Ich ergreife Mr. Hawtreys Hand.
»Sie kommen doch morgen?«, sage ich.
»Selbstverständlich.«
»Sie werden mit niemandem über diese ganze Sache sprechen? Sie werden an die Gefahr denken, von der ich gesprochen habe?«
Er nickt. »Steigen Sie ein«, sagt er leise. »Die Frau wird sich um sie kümmern, besser als ich es kann.«
»Danke, Mr. Hawtrey!«
Er hilft mir in die Droschke – zögert, dann führt er meine Hand an den Mund. Die Frau steigt ein. Er schließt die Tür hinter ihr, dann tritt er zurück, aus dem Weg der sich drehenden Wagenräder. Ich lehne mich gegen die Scheibe und sehe, wie er sein Taschentuch hervorholt und sich Gesicht und Nacken abwischt. Dann wenden wir, fahren aus der Gasse hinaus, und Mr. Hawtrey ist verschwunden. Wir verlassen die Holywell Street, fahren nach Norden, glaube ich, denn ich weiß, dass wir den Fluss nicht überqueren.
Wir kommen nur langsam und stockend voran. Der Verkehr ist dicht. Zuerst schaue ich aus dem Fenster, das Gesicht gegen die Scheibe gedrückt, und betrachte die Menschenmassen auf den Straßen, die Läden. Dann denke ich: Was ist, wenn ich Richard sehe? Ich lasse mich in den Ledersitz zurücksinken und beobachte die Straßen von dort aus.
Erst nach einiger Zeit sehe ich die Frau wieder an. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt: Sie stecken nicht in Handschuhen und sind grob. Sie bemerkt, wie ich sie ansehe.
»Alles in Ordnung, Liebchen?«, fragt sie, ohne zu lächeln. Ihre Stimme ist so rau wie ihre Finger.
Ob ich da schon argwöhnisch werde? Ich weiß es nicht genau. Ich denke, Mr. Hawtrey hatte schließlich nicht allzu viel Zeit, die Frau sorgsam auszuwählen. Was macht es da schon, wenn sie unfreundlich ist, solange sie sich nur als anständig erweist? Ich schaue sie mir ein wenig genauer an. Ihr Rock ist rostig schwarz. Ihre Schuhe ähneln in Farbe und Beschaffenheit gebratenem Fleisch. Sie sitzt gelassen da, ohne zu reden, während die Droschke ruckt und rumpelt.
»Ist es noch weit?«, frage ich sie endlich.
»Nicht allzu weit, Liebchen.« Ihre Stimme klingt noch immer rau, ihr Gesicht ist ausdruckslos.
Ich sage stockend: »Warum nennen Sie mich so? Ich wollte, Sie täten das nicht.«
Sie zuckt die Achseln. Diese Geste ist so unverschämt und doch so gleichgültig, dass mir unbehaglich zumute wird. Wieder lehne ich mein Gesicht gegen die Scheibe und versuche Atem zu schöpfen. Doch ich bekomme keine Luft. Wo, denke ich, liegt von hier aus gesehen die Holywell Street?
»Das gefällt mir nicht«, sage ich und wende mich wieder der Frau zu. »Können wir nicht zu Fuß gehen?«
»Zu Fuß gehen, in diesen Pantoffeln?« Sie schnaubt. »Wir sind in Camden Town«, sagt sie. »Wir haben noch ein ganzes Stück vor uns. Lehnen Sie sich zurück und seien Sie schön brav.«
»Warum reden Sie so mit mir?«, sage ich abermals. »Ich bin kein kleines Kind.«
Abermals zuckt sie die Achseln. Wir fahren weiter, nun etwas zügiger. Wir fahren vielleicht eine halbe Stunde lang auf einer ansteigenden Straße. Es ist dunkler geworden. Ich werde immer unruhiger. Wir haben die Lichter und die Läden hinter uns gelassen und befinden uns auf irgendeiner Straße – einer Straße mit schlichten Gebäuden. Wir biegen um eine Kurve, und die Gebäude hier sind noch einfacher. Schließlich halten wir vor einem großen grauen Haus an. Am Fuß der Stufen, die zur Tür hinaufführen, steht eine Lampe. Ein Mädchen mit einer zerschlissenen Schürze ist dabei, sie mit einer Kerze anzuzünden. Das Glas des Lampenschirms ist gesprungen. Auf der Straße ist es vollkommen still.
»Wo sind wir denn hier?«, frage ich die Frau, als die Droschke angehalten hat und ich begriffen habe, dass sie nicht weiterfährt.
»Dies ist das Haus«, erwidert sie.
»Das Hotel?«
»Hotel?« Sie lächelt. »So könnte man es auch nennen.« Sie greift nach der Türklinke.
Ich ergreife ihr Handgelenk. »Warten Sie«, sage ich, und schließlich packt mich wirklich die Angst. »Wie meinen Sie das? Was hat Mr. Hawtrey Ihnen aufgetragen?«
»Na, Sie hierherzubringen!«
»Und wo sind wir hier?«
»Vor einem Haus, nicht wahr? Was kümmert es Sie, was für ein Haus es ist? Sie werden hier auf alle Fälle ein warmes Abendessen bekommen. Und Sie können aufhören, mich so zu umklammern!«
»Nicht, bis Sie mir gesagt haben, wo ich hier bin.«
Die Frau versucht ihre Hand fortzuziehen, aber ich lasse es nicht zu. Schließlich beißt sie sich auf die Lippen. »Ein Haus für Damen«, sagt sie, »wie Sie.«
»Wie ich?«
»Wie Sie. Arme Damen, verwitwete Damen – unartige Damen, würde mich auch nicht wundern. Also!«
Ich stoße ihre Hand weg. »Ich glaube Ihnen nicht«, sage ich. »Man sollte mich in ein Hotel bringen. Mr. Hawtrey hat Sie dafür bezahlt –«
»Er hat mich dafür bezahlt, Sie hierherzubringen und hierzulassen. Ausdrücklich. Wenn es Ihnen nicht gefällt –« Sie greift in ihre Tasche. »Nun, hier steht es in seiner eigenen Handschrift.«
Sie hat ein Blatt Papier hervorgeholt. Es ist jenes Blatt, in das Mr. Hawtrey die Münze eingewickelt hat. Darauf steht der Name dieses Hauses –
Ein Heim, so nennt er es, für mittellose Damen.
Einen Moment starre ich ungläubig auf diese Worte – als könnte mein Starren sie verändern, ihre Bedeutung oder ihre Gestalt verändern. Dann sehe ich die Frau an. »Es handelt sich um ein Missverständnis. Das hat er nicht so gemeint. Er muss etwas missverstanden haben, oder Sie haben etwas missverstanden. Sie müssen mich wieder zurückbringen –«
»Ich soll Sie hierherbringen und Sie hier lassen, auf ausdrücklichen Wunsch«, wiederholt sie standhaft. »›Die arme junge Dame, sie ist etwas wirr im Kopf, sie muss an einen Ort der besonderen Wohltätigkeit.‹ Das nenne ich Wohltätigkeit, das da!« Wieder weist sie mit dem Kopf auf das Haus.
Ich gebe keine Antwort. Mr. Hawtreys Gesichtsausdruck kommt mir in den Sinn – seine Worte, der seltsame Tonfall. Ich muss zurück! Ich muss zurück in die Holywell Street! Doch noch während ich das denke, weiß ich schon, was mich dort erwartet, und dabei zieht sich mir das Herz zusammen, und mich fröstelt entsetzlich: der Laden und der junge Mann. Mr. Hawtrey wird fort sein, nach Hause gegangen – in sein Zuhause, und das könnte überall in der Stadt sein, einfach überall … Und danach, die Straße – die Straße in der Dunkelheit. – Was soll ich dann bloß machen? Wie soll ich eine Nacht auf den Straßen von London überstehen, ganz auf mich allein gestellt?
Ich fange an zu zittern. »Was soll ich nur tun?«
»Hineingehen, was sonst?« Wieder weist die Frau mit dem Kopf zu dem Haus hinüber. Das Mädchen mit der Kerze ist fort, und die Lampe brennt schwach. Die Fensterläden sind geschlossen, die Scheiben darüber schwarz, als seien die Räume mit Dunkelheit gefüllt. Die Tür ist hoch – längsgeteilt, wie die große Eingangstür in Briar. Als ich sie sehe, packt mich die nackte Angst.
»Das kann ich nicht!«
Die Frau kaut auf ihrer Lippe herum. »Besser als die Straße – oder nicht? Entweder das eine oder das andere. Man hat mich dafür bezahlt, Sie hierherzubringen und Sie hierzulassen und weiter nichts. Nun steigen Sie schon aus und lassen Sie mich nach Hause fahren.«
»Ich kann nicht«, sage ich abermals. Ich packe sie am Ärmel. »Sie müssen mich irgendwoanders hinbringen.«
»Muss ich das?« Sie lacht, schüttelt mich aber nicht ab. Stattdessen macht sie nun ein verschlagenes Gesicht. »Also, ich tue es«, sagt sie, »wenn Sie mich dafür bezahlen.«
»Sie bezahlen? Ich habe nichts, womit ich Sie bezahlen könnte!«
Wieder lacht sie. »Kein Geld? Und dann ein solches Kleid?« Sie mustert meinen Rock.
»O Gott«, sage ich und zupfe verzweifelt daran herum. »Ich würde Ihnen das Kleid geben, wenn ich könnte!«
»Würden Sie das?«
»Nehmen Sie das Schultertuch!«
»Das Schultertuch gehört mir selbst!« Sie schnaubt. Noch immer schaut sie auf meinen Rock. Dann legt sie den Kopf schief. »Was haben Sie denn«, sagt sie ein bisschen leiser, »unten drunter?«
Ich erschauere. Dann lüfte ich widerwillig den Saum und zeige ihr meine Unterröcke – zwei Unterröcke sind es, der eine weiß, der andere karmesinrot.
Als die Frau die Unterröcke sieht, nickt sie. »Das wird reichen. Seide, nicht wahr? Ja, das wird reichen.«
»Was denn, alle beide?«, frage ich. »Wollen Sie denn beide haben?«
»Der Kutscher will schließlich auch bezahlt werden«, antwortet sie. »Sie müssen nicht nur mich bezahlen, sondern auch ihn.«
Ich zögere, doch was bleibt mir anderes übrig? Ich raffe meinen Rock noch etwas höher, ertaste die Bänder an der Taille und löse sie. Dann ziehe ich die Unterröcke herunter, so sittsam wie irgend möglich. Die Frau schaut nicht fort. Umstandslos nimmt sie sie mir ab und verstaut sie rasch unter ihrem Mantel.
»Was die Herren nicht wissen …« Sie kichert, als wären wir nun vertraute Verschwörerinnen. Zufrieden reibt sie sich die Hände. »Und – wohin soll’s gehen? Hä? Was soll ich dem Kutscher sagen, wohin er fahren soll?«
Sie hat das Fenster geöffnet und will hinausrufen. Ich sitze da, die Arme um mich geschlungen, und spüre den kratzenden Stoff meines Kleides an den nackten Schenkeln. Hätte ich noch genug Leben im Leib, würde ich wohl vor Scham erröten – oder haltlos weinen.
»Wohin denn nun?,« fragt sie abermals. Die Straße jenseits des Fensters ist voller Schatten. Der Mond ist aufgegangen – eine schmale Sichel, schmutzig braun.
Ich lasse den Kopf hängen. Nun, da auch meine letzte Hoffnung auf so grausame Art enttäuscht worden ist, bleibt mir nur noch ein Ort, an den ich gehen kann. Ich sage es ihr, sie ruft es hinauf, und die Droschke zuckelt los. Sie setzt sich bequem zurecht und ordnet ihren Mantel. Dann sieht sie mich an. »Alles in Ordnung, Liebchen?«, sagt sie.
Ich gebe keine Antwort, und sie lacht. Sie wendet sich ab. »Macht ihr jetzt wohl nichts mehr aus, was?«, sagt sie, wie zu sich selbst. »Macht ihr jetzt nichts mehr aus.«
Es ist dunkel, als wir in der Lant Street ankommen. Ich erkenne das Haus, vor dem wir halten müssen, an dem Haus gegenüber – das mit den talgfarbenen Fensterläden, das ich von Mrs. Sucksbys Fenster aus so oft gesehen habe. John öffnet auf mein Klopfen die Tür. Er ist leichenblass. Als er mich sieht, starrt er mich bloß an. »Scheiße«, murmelt er dann. Ich gehe an ihm vorbei und gelange in einen Raum, der wohl Mr. Ibbs’ Laden sein muss, und von dort führt mich ein Durchgang geradewegs in die Küche. Alle sind sie dort, bis auf Richard. Er ist unterwegs und sucht nach mir. Dainty weint. Sie hat einen Bluterguss auf der Wange, und ihre Lippe ist aufgeplatzt und blutet. Mr. Ibbs läuft in Hemdsärmeln auf und ab, und die Bodendielen quietschen und knarzen unter seinen Füßen. Mrs. Sucksby steht da, den Blick ins Leere gerichtet und wie John kreidebleich im Gesicht. Ganz reglos steht sie da. Doch als sie mich hereinkommen sieht, zuckt sie vor Schreck zusammen, und ihre Knie geben nach. Sie greift sich mit der Hand ans Herz, als hätte sie einen Schlag erlitten.
»Ach, mein Mädchen!«, ruft sie.
Was dann passiert, weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube, Dainty schreit auf. Ich gehe wortlos an ihnen allen vorbei. Ich gehe die Treppe hinauf in Mrs. Sucksbys Zimmer – mein Zimmer, unser Zimmer, muss ich nun wohl sagen – und ich setze mich auf das Bett, das Gesicht zum Fenster. Ich sitze da, die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Meine Finger sind ganz schmutzig. Meine Füße haben wieder angefangen zu bluten.
Mrs. Sucksby lässt mir eine Minute Zeit, ehe sie hereinkommt. Ganz leise betritt sie das Zimmer. Sie schließt die Tür und schließt sie hinter sich ab – dreht den Schlüssel behutsam im Schloss, als nehme sie an, ich schlafe, und fürchte, mich zu wecken. Dann steht sie neben mir. Sie versucht nicht, mich zu berühren. Ich weiß jedoch, dass sie zittert.
»Mein Liebes«, sagt sie. »Wir dachten schon, du hättest dich verirrt. Wir dachten schon, du wärst ertrunken oder ermordet worden –« Ihre Stimme stockt, bricht aber nicht. Sie wartet, und als ich nicht reagiere, sagt sie: »Steh auf, Schätzchen.«
Ich gehorche. Sie zieht mir das Kleid aus und das Korsett. Sie fragt nicht, was aus meinen Unterröcken geworden ist. Sie schreit nicht auf, als sie meine Pantoffeln und meine Füße sieht, obgleich sie erschaudert, als sie mir die Strümpfe abstreift. Sie legt mich nackt ins Bett, zieht mir die Decke bis unters Kinn hoch, dann setzt sie sich neben mich. Sie streicht mir über das Haar, löst mit den Händen Nadeln und Knoten.
Es ist still im Haus. Bestimmt reden Mr. Ibbs und John miteinander, aber sie reden im Flüsterton. Mrs. Sucksbys Finger bewegen sich langsam. »So, siehst du«, sagt sie, und ich erbebe, denn ihre Stimme klingt wie die von Sue.
Ihre Stimme klingt wie die von Sue, ihr Gesicht jedoch – Aber es ist dunkel im Zimmer, sie hat keine Kerze mitgebracht. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster. Doch ich spüre ihren Blick und ihren Atem. Ich schließe die Augen.
»Wir dachten schon, du hättest dich verirrt«, murmelt sie abermals. »Aber du bist zurückgekommen. Mein liebes Mädchen, ich wusste doch, dass du zurückkommst.«
»Ich konnte nirgendwo anders hin«, erwidere ich matt und hoffnungslos. »Ich wusste nicht, wohin und zu wem ich gehen sollte. Ich dachte, es gäbe da einen Ort … Ich wusste es nicht. Ich habe nichts. Kein Zuhause –«
»Hier ist dein Zuhause!«, sagt sie.
»Keine Freundinnen, keine Freunde –«
»Hier sind deine Freunde –«
»Keine Liebe –«
Sie holt tief Luft, dann redet sie flüsternd auf mich ein. »Mein liebes Kind, weißt du es denn noch immer nicht? Habe ich es dir nicht schon hundert Mal gesagt –?«
Ich fange an zu weinen – vor Enttäuschung, vor Erschöpfung. »Warum sagen Sie das immer wieder?«, rufe ich, trotz meiner Tränen. »Warum sagen Sie das? Ist es denn nicht genug, dass Sie mich hier bei sich festhalten? Warum müssen Sie mich auch noch lieben? Warum müssen Sie mich auch noch ersticken und quälen mit Ihren Versuchen, mein Herz zu gewinnen?«
Ich habe mich aufgerichtet, doch dieser Aufschrei hat mir die letzten Kräfte geraubt, und ich sinke wieder zurück. Mrs. Sucksby sagt nichts. Sie sieht mich an. Sie wartet, bis ich mich beruhigt habe. Dann dreht sie den Kopf und legt ihn schief. Der Rundung ihrer Wange nach lächelt sie wohl.
»Wie still es ist im Haus«, sagt sie, »nun, wo so viele Kinder fort sind! Nicht wahr?« Sie wendet sich mir wieder zu. Ich höre, wie sie schluckt. »Ich habe dir doch erzählt, Liebes«, sagt sie sanft, »dass ich selbst mal ein Kind hatte, das gestorben ist? Ungefähr zu der Zeit, als die Dame, Sues Mutter, hier war?« Sie nickt. »Das habe ich gesagt. So wird man es dir hier erzählen, würdest du dich erkundigen. Säuglinge sterben eben. Wer würde daran schon etwas Sonderbares finden …?«
In ihrer Stimme schwingt etwas mit. Ich fange an zu zittern. Als sie das spürt, streckt sie die Hand aus und will mir wieder über das wirre Haar streichen. »So, siehst du. Sei still. Du bist jetzt in Sicherheit …« Dann hört das Streicheln auf. Sie hat eine Flechte meines Haares genommen. Wieder lächelt sie. »Kurios«, murmelt sie in verändertem Ton, »das mit deinem Haar. Ich hatte schon gedacht, dass deine Augen braun wären und dein Teint hell und dass deine Taille und deine Hände schmal sein würden, das wusste ich. Nur dein Haar ist heller, als ich es mir vorgestellt hatte …«
Die Worte werden immer leiser. Mrs. Sucksby hat den Kopf gedreht, als sie die Haarflechte in die Hand genommen hat. Das Licht der Straßenlaterne und der trüben Mondsichel fallen direkt auf sie, und mit einem Mal sehe ich ihr Gesicht – ihre braunen Augen und die blassen Wangen und ihre Lippen, die voll sind und früher einmal, so geht mir plötzlich auf, gewiss noch voller waren …
Sie leckt sich über die Lippen. »Liebes«, sagt sie. »Mein liebes Mädchen –«
Sie zögert noch einen Augenblick, dann beginnt sie endlich zu sprechen.