IN DEM EIN MEISTER ZU SEINEN SCHÜLERN, DER GRAF IN DIE SCHULAULA UND AM ENDE AUCH NOCH ETWAS ABHANDEN KOMMT
»Willkommen, Krigk und R’hee, vom Stamme der H’ru, gelehrt von Chaya, dem Schattenvater, die Sprache und die Gesetze der Nacht zu verstehen.«
Durch das Dunkel hallte die Stimme eines Mannes, der Nächtisch sprach. Jene Sprache, die allein im Dunkel zu hören und lediglich Eingeweihten vorbehalten war. Die ein Schüler gelehrt bekam, bevor er die erste Höhle betrat.
Die Geschwister standen in einem vollkommen finsteren Saal. So dunkel, als ob Wände, Decken und Boden komplett mit einer Tapete aus reinster sternenloser Nacht überzogen wären.
Die Schwärze im Inneren dieses Raumes war geradezu vollkommen und wäre für jeden normalen Menschen undurchdringlich gewesen. Doch da ihr Meister den beiden Kindern von der Insel ihr nächtenes Auge geöffnet hatte, erkannten sowohl Krigk als auch R’hee die mächtigen schwarzen Säulen, den Thron aus Finsternis und den mächtigen Schatten darauf.
»Wo … wo sind wir hier?«, fragte R’hee zaghaft, während ihr Bruder den dunklen Schemen argwöhnisch musterte, als dieser nun zu einer Antwort anhob.
»Vor dem Thron des dritten Meisters, abseits des Lichtes, im Nachtpalast des Dämmerflechters.« Die Worte hallten durch die Dunkelheit, wurden von den nachtschwarzen Wänden leise zurückgeworfen und erfüllten den Saal.
»Aber war es nicht der Wille unseres Meisters, dass Menga uns in die Obhut des Nachtwahrers überstellt?«, fragte Krigk, kaum dass die Worte verklungen waren.
Und ohne zu zögern entgegnete die Schattengestalt auf dem Thron: »Die Dinge dort draußen, mein Junge, entwickeln sich zu schnell, als dass noch die Zeit bliebe, euch zwei das Wahren der Grenzen zwischen Licht und Dunkelheit zu lehren. Es ist an der Zeit, dass ihr die Finsternis beherrschen lernt. Sie zu verstehen, wird später noch möglich sein. So entspricht es dem Willen eures Meisters.«
Unter normalen Umständen hätte Krigk gespürt, dass Skadwa log. Doch hier und jetzt vermochte der Dämmerflechter seine Worte in ein derart undurchschaubares Dunkel zu hüllen, dass Wahrheit und Lüge kaum voneinander zu unterscheiden waren. Weshalb die Geschwister ihm tatsächlich glaubten.
Schließlich hatte der Schattenvater angedeutet, dass dort draußen etwas Ungeheuerliches vor sich ging. Ein Problem, das nicht auf die übliche Art zu bewältigen war. Weshalb es auch nicht weiter verwunderlich war, dass Menga sie zunächst zum dritten statt zum zweiten Meister brachte.
»Dann werdet ihr mich also lehren?«, fragte Krigk, dessen Misstrauen, nicht zuletzt weil er sich seinem Ziel plötzlich wieder näher fühlte, beinahe verflogen war.
Der Schemen auf dem Thron nickte. »Ich werde dir alles beibringen, was ich weiß. Alles, was es braucht, das Dunkel zu biegen, zu formen und zu befehligen. Alles, was es über die Geschöpfe der tieferen Nacht zu wissen gibt.«
Krigk schauderte es wohlig bei dem Gedanken, die Geheimnisse der Dunkelheit offenbart zu bekommen und womöglich doch noch jener zu werden, von dem die Prophezeiung kündete.
Der Dämmerflechter fuhr fort: »All das und weit mehr werde ich dich lehren. Dich und deine Schwester.«
Diese letzten Worte durchfuhren Krigk heiß und kalt zu gleich. R’hee. Seine kleine Schwester. Die ihn durch das Entzünden des Notfeuers aus der dritten Höhle gerettet hatte, die er von Herzen liebte, die einzige Familie, die ihm geblieben war. Und dennoch versetzte ihm der Gedanke, dass sie, ein Mädchen, das sogar jünger war als er, die gleichen Chancen haben sollte wie er, ihm einen schmerzhaften Stich.
Skadwa lächelte und fügte in bedeutsamem Ton hinzu: »Auf dass bald schon zwei Nachtzähmer, bereit für ein neues Zeitalter, die Schule des inneren Dunkels verlassen.«
R’hee konnte das alles noch gar nicht fassen. Zwei Tage zuvor war sie in ihrem kleinen Dorf auf der Insel davon ausgegangen, dort den Rest ihres Lebens friedlich als kleine Schwester eines Nachtzähmers zu verbringen. Und nun hatte sie plötzlich die halbe Welt umrundet, die Wolken von oben gesehen und sollte selbst eine Nachtzähmerin werden?
Sie stand bloß dort und staunte, die Hand ihres Bruders haltend, dessen Griff plötzlich so fest wurde, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Krigk hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als er mit gesenktem Kopf antwortete: »Wie Ihr wünscht, Meister Skadwa.«
Und der dritte Meister auf seinem Thron war zufrieden. »Gut. Dann wird also dies bis zum Ende eurer Ausbildung euer neues Zuhause sein. Gnista! Mörker!«, rief er herrisch in das Dunkel.
Dienstbeflissen traten die beiden nordischen Zwielichtwichtel aus dem Dunkel und warfen sich vor ihrem Meister zu Boden.
R’hee musste kichern. Jene kurzbeinigen Finsterlinge mit den wirren Haaren und ungepflegten Bärten aus Finsternis wirkten einfach zu witzig. Zumal sie solch derartige Kreaturen niemals zuvor gesehen hatte. Weil die Schatten in der Südsee anders als die des hohen Nordens gewachsen waren.
Mörker wendete den Kopf und funkelte das Mädchen kurz an, wandte sich aber dann gleich wieder seinem Herrn zu, als dieser ihm und seinem Kumpan ihren Auftrag erteilte: »Zeigt den beiden ihre Zimmer. Und seid ihnen zu Diensten, was immer sie wünschen. Versorgt sie gut. Und dass mir keine Klagen zu Ohren kommen.« Seine letzten Worte waren von derart eisiger Strenge, dass Mörker und Gnista zusammenfuhren und es selbst die Kinder schauderte. Dann wendete der Meister sich noch einmal direkt an R’hee und raunte mit leiser eindringlicher Stimme: »Und du, junge Dame, solltest wissen, dass es nicht klug ist, über das Dunkel zu lachen, bevor man es beherrscht …«
Daraufhin gab Meister Skadwa seinen beiden Schattenschergen einen Wink, und die Zwielichtwichtel führten die Geschwister aus dem von Dunkelheit erfüllten Saal in die lichtlosen Tiefen des Nachtpalastes.
Die Aula der Hedwig-Klötzke-Gesamtschule in Dinkwitz bei Düsseldorf war am nächsten Morgen ungefähr zur Hälfte gefüllt. Alle neunten Klassen waren anwesend und in der üblichen Mischung aus Neugier und Desinteresse hockten die Schüler dort und starrten auf die Bühne. Was immer gleich passieren würde, war mit Sicherheit besser als Unterricht. Inmitten der anderen wähnten die meisten sich sicher und scherten sich deshalb nicht um das Handyverbot. Die einen zockten, die anderen texteten. Wieder andere hatten Kopfhörer auf und hörten Musik. Der Rest unterhielt sich leise. Dementsprechend unruhig war es im Saal. Die Klassenlehrer in der ersten Reihe unterhielten sich ebenfalls und schienen dabei auf etwas zu warten.
Der Schulgong zum Stundenbeginn war bereits vor mehr als zehn Minuten verklungen. Laut Plan sollte heute der Besitzer der Lampenfabrik, Graf Erebos, einen Vortrag über das größte Unternehmen des Ortes halten und dabei auch ein paar Worte an seine angehenden Praktikanten richten. Damit, dass er pünktlich erschien, hatte aufgrund seines Terminkalenders ohnehin niemand gerechnet. Denn Jan Graf Erebos war nicht nur der größte Arbeitgeber, sondern vermutlich auch der meistbeschäftigte Mann der Gegend und ebenso in Dinkwitz wie New York, Tokyo und Helsinki zu Hause. Heute kam er, wenn David es richtig mitbekommen hatte, direkt aus New York, was eine gewisse Verspätung vermutlich verzeihlich machte.
»Und wer ist das genau, der da heute zu uns sprechen wird?«, wollte Ayumi wissen.
»Jan Graf Erebos, der Besitzer der Lampenfabrik drüben im Industriegebiet«, flüsterte David ihr zu.
»Du meinst den riesigen Fabrikkomplex am Rand des Ortes?«
»Was? Woher kennst du denn den?«
»Na, die Gebäude hört und riecht man auf zehn Kilometer, David. Die Anlage ist so groß, dass sich der Schall daran bricht, und sie stößt dabei so viele Schadstoffe aus, dass das ganze Ding mit Sicherheit so groß wie ein Viertel von Dinkwitz ist.«
»Dürfte sogar ungefähr stimmen. Aber dafür arbeitet dort auch mehr als die Hälfte aller Anwohner. Und es ist die umweltfreundlichste Fabrik ihrer Art in der Gegend.«
»Na ja, wahrscheinlich weil es die einzige ist.«
David warf Ayumi einen bösen Blick zu, erinnerte sich dann aber, dass das gar keinen Sinn machte. Sie grinste trotzdem. Während er das Mädchen verwundert anschaute, die Mobiltelefone leise piepten und surrten und Teenagerstimmen flüsterten, begann plötzlich die Luft um sie herum zu vibrieren. Mit einem Mal hielten alle inne und lauschten.
Aus der Ferne näherte sich ein rhythmisches, gleichmäßiges Brummen, das ganz allmählich lauter wurde.
Im nächsten Moment stürmte der Direktor aufgeregt und wild gestikulierend auf die Bühne. »So, liebe Schüler, werte Lehrkräfte. Es ist so weit! In wenigen Augenblicken wird der Graf mit seinem Firmenhubschrauber auf dem Dach unserer Aula landen und direkt von dort zu uns hier auf die Bühne kommen. Bitte verhaltet euch während seiner Ansprache gesittet, steckt eure Mobiltelefone weg und bereitet für später eure Fragen vor.«
Der Rektor hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da war die Aula plötzlich von hektischer Geschäftigkeit erfüllt. Ohrhörer wurden ausgestöpselt, Handys weggesteckt, Gespräche verstummten und die Aufmerksamkeit aller richtete sich nach vorn auf die Bühne.
Ayumi schmunzelte. »So schnell reagieren deine Mitschüler sonst nicht. Muss ja wirklich wichtig sein, dieser Kerl.«
David versuchte leise zu sprechen, als er ihr antwortete: »Oh ja. Wichtig ist er auf jeden Fall. Vielleicht sogar der wichtigste Mann im Ort. Der hat, wenn ich mich richtig erinnere, sogar die Aula gestiftet. Und die Laptops für die Oberstufe. Ganz zu schweigen vom Mercedes des Direktors.«
Draußen vor der Fensterfassade senkte sich für einen kurzen Moment der Hubschrauber ins Sichtfeld. Komplett weiß, mit surrenden Rotoren, auf der Kabine das markante Erebos-Logo: die, von den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega flankierte Glühbirne, in der das kleine gekrönte e zu erkennen war. Während der Pilot, der wie in einem Actionfilm einen schwarzen Overall mit Sonnenbrille, Kopfhörern und Schirmmütze trug, etwas länger zu sehen war, konnte man den komplett in Weiß gekleideten Passagier im Innenraum nur einen kurzen Moment lang erahnen.
»Aha. Dann benehmt ihr euch jetzt, weil ihr auch was von ihm haben wollt?«
»Zumindest ’n Praktikumsplatz. Die Fabrik kann man immerhin mit’m Fahrrad erreichen. Sonst muss man sich am Ende noch was in der Stadt suchen. Und das wär halt echt stressig.«
»Hm.« Ayumi nickte und wusste in ihrer Eigenschaft als blinde Austauschschülerin nicht einmal, ob sie überhaupt ein Praktikum würde machen müssen.
Jetzt war es komplett still im Saal. Lehrer und Schüler waren bereit für die Ankunft jenes so bedeutenden Gastes.
Sie alle spürten wie der Helikopter über ihnen auf dem Dach aufsetzte. Ayumi hob eine Augenbraue, schien dabei aber nicht halb so beeindruckt wie der Rest der schier in Ehrfurcht erstarrten Anwesenden, die beinahe die Luft anzuhalten schienen, als hinter der Bühne laute Schritte erklangen und die Tür zum Backstagebereich sich öffnete. Und dann betrat Jan Graf Erebos, auf den schimmernd weißen Kugelknauf eines weißen Gehstocks gestützt, die Bühne.
Er war ein untersetzter Mann, allenfalls 1 Meter 60 groß, kleiner sogar als David, trug einen weißen Anzug, glänzende Lackschuhe von ebensolcher Farbe und eine dunkle Sonnenbrille mit einem breiten, ebenfalls weißen Rand, ohne die er, wenn man seine Promofotos und Fernsehauftritte betrachtete, scheinbar nie aus dem Haus zu gehen pflegte.
Seiner Größe zum Trotz erschien der Graf, dessen fülliges Gesicht wie eine seltsame Mischung aus George Clooney und einem angeschmolzenen Schneemann wirkte, auf eigentümliche Art Ehrfurcht gebietend. Lächelnd trat er an den vorderen Rand der Bühne.
Und weil diesem Mann der größte Teil der Stadt gehörte, begann der Saal zu applaudieren.
Ayumi schüttelte den Kopf.
Das Lächeln des Grafen wurde breiter, als er lässig seinen Stock schulterte, mit der anderen Hand in die Innentasche seines Jacketts griff, ein schmales Mobiltelefon hervorzog und daraufhin mit einer knappen Geste das komplette Saallicht auf ein Minimum dimmte. David staunte nicht schlecht. Im gleichen Moment flammte auf der Leinwand das Erebos-Logo auf und über dem gekrönten kleinen e startete die Präsentation. »Guten Morgen, junge Menschen von Dinkwitz. Ich bin heute hierher eingeladen worden, um mit euch, wie schon mit den Jahrgängen zuvor, über die Bedeutung des Lichtes zu reden. Und natürlich über die weiterführenden Karriereoptionen, die sich für euch durch ein Praktikum bei Erebos Industries ergeben könnten.«
David beugte sich zu Ayumi hinüber und wisperte: »Den Satz bringt er seit fünfzehn Jahren. Damit hat er schon meinen Vater bekommen.«
»Und der hat die Karriereoptionen genutzt?«
»Na ja, er ist jetzt zumindest Oberlampenschrauberfachkraft. Und kann von seiner Arbeit ein Haus abzahlen und ’ne Familie versorgen. Zumindest, wenn er jeden Monat ein paar Überstunden macht«, meinte David schulterzuckend.
»Na, das klingt doch mal nach einer lohnenden Zukunft.«
»Leuchtend.« David nickte. »Eine leuchtende Zukunft. Energiesparend. Bei 10 bis 50 Watt. Und zehnmal so hell. So lautet zumindest der Werbespruch der Firma.«
Vorne auf der Bühne lief unterdessen Jan Graf Erebos mit seinem Stock auf und ab, veränderte mit seinem Telefon die Lichtstimmung im Saal und begann mit begeistertem Tonfall und einem gewinnenden Lächeln Richtung Publikum seinen Vortrag.
Dabei klang seine Stimme seltsam hell und laut, wie das Meckern einer aufgeregten Ziege. »Ich will euch von der Zukunft erzählen. Einer leuchtenden Zukunft. Energiesparend. Bei 10 bis 50 Watt. Und zehnmal so hell!«
Veit und Leonid mochten ihren Job. Die beiden hatten, seit sie im Berliner Pergamonmuseum als Nachtwächter arbeiteten, meistens ihre Ruhe. Zwischen den nächtlichen Rundgängen und dem Check der Überwachungsmonitore lag jeweils eine gute Stunde. Wenn sie sich abwechselten, konnten sie in der Zwischenzeit ein entspanntes Nickerchen machen. Und wenn sie das nicht taten, hatten sie viel Freude daran, nachts allein durch die Ausstellungsräume zu schlendern und eine Ahnung Tausender Jahre Geschichte zu spüren. Auch wenn die wichtigsten Ausstellungsstücke, die legendäre Laokoongruppe oder das Markttor von Milet weitgehend moderne Kopien waren, ahnte man doch, wie die Menschen sich vor Hunderten von Jahren im Schatten jener Bauwerke gefühlt haben mochten. Und es war ein ganz besonderes Gefühl, wenn man sich nachts inmitten der Notbeleuchtung allein davor befand. Manchmal standen Veit und Leonid auch etwas länger dort, atmeten tief durch und träumten von vergangenen Zeiten, von denen sie nicht mehr wussten als das, was auf den kleinen Plastikschildchen an der Wand stand.
Nebenbei kümmerten sie sich um die Alarmanlage, die zwar nicht unkompliziert war, die sie aber im Verlauf der letzten Monate beinahe blind zu bedienen gelernt hatten. Wobei sie zu dem Schluss gekommen waren, dass das Museum mit seinen zahllosen Druck-, Licht- und Schallsensoren womöglich der sicherste Ort in ganz Berlin war. Vor allem, weil während der vergangenen Wochen bereits etwas Zugluft und eine verirrte Motte einen Großalarm ausgelöst hatten. Ebenso wie ein Besucher, der nach Museumsschluss auf der Toilette eingeschlafen war. Bei eingeschaltetem Sicherheitssystem gab es tatsächlich nichts, das unbemerkt in dieses Museum hätte eindringen können.
Um ihre Rundgänge ungestört machen zu können, mussten die beiden jedes Mal eine hochkomplizierte Tastenfolge auf den Schaltkonsolen eingeben. Inzwischen aber beherrschten sie diese beinahe, ohne hinzusehen.
Die letzte Sicherheitstastenchoreografie lag bereits einige Minuten hinter ihm, als Leonid, gedankenverloren auf einem Karamellbonbon herumlutschend, vor dem Markttor stehen blieb, gähnend die Hände in die Seiten stemmte und sich streckte. In diesen Moment beneidete er Veit, der gerade vermutlich vor der Monitorwand döste. Aber dafür konnte er nachts im Museum, im matten Widerschein der Notbeleuchtung, mit den Zeugnissen der Vergangenheit zumindest ein wenig allein sein. Mit Skulpturen, die Tausende Jahre Geschichte an sich hatten vorüberziehen sehen.
Leonid schob das Bonbon in seinem Mund von rechts nach links und betrachtete den lebensechten steinernen Grablöwen, eines der wenigen Originalausstellungsstücke im Raum. Manchmal, wenn er sie des Nachts so betrachtete, wirkte die Kreatur auf ihn beinahe lebendig.
Er schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete der Skulptur in ihr graues steinernes Auge.
Im gleichen Moment begann plötzlich die Notbeleuchtung an der Decke zu flackern. Leonid runzelte die Stirn. Weil es hier drei unabhängig voneinander funktionierende Stromkreise gab, die einander gegebenenfalls ergänzten oder ersetzten, sodass, wenn einer ausfiel, immer noch zwei blieben, die seine Aufgabe übernahmen und die Spannung stabilisierten. Dementsprechend war es eigentlich gar nicht möglich, dass die Deckenlampen überhaupt flackerten.
Noch unmöglicher war es allerdings, dass seine Taschenlampe es ebenfalls tat!
Einen Wimpernschlag später war es vollkommen finster.
Zögernd bewegte Leonid sein Bonbon zurück nach rechts, und fragte sich, ob Veit vor den Monitoren das, was hier passierte – was immer es auch war – ebenfalls mitbekam.
Dabei wagte er nicht, sich zu bewegen. Er war verwirrt, bemühte sich, ruhig zu atmen, sich einzureden, dass es bloß ein Stromausfall war. Es gelang ihm, das Bonbon ein weiteres Mal zur einen und dann erneut zur anderen Seite zu schieben. Gleich darauf gingen Deckenlicht und Taschenlampe wieder an.
An Leonids Verwirrung änderte das allerdings nichts.
Denn seine Taschenlampe leuchtete ins Leere.
Der steinerne Grablöwe von Milet, der gerade noch direkt vor ihm gestanden hatte, war verschwunden.