DAS NEBEN REUE, GUTEN ABSICHTEN UND DER SPRACHE DER DUNKELHEIT AUCH EINE REIHE DIEBSTÄHLE ZUM INHALT HAT
Als Menga aufwachte, fühlte er sich miserabel.
Was unter anderem daran lag, dass er am Abend zuvor zu viel getrunken hatte. Aber diesen Kopfschmerz kannte er. Dieses Gefühl, dass ein pulsierender pelziger Ballon von innen gegen seine Schädeldecke drückte. Er wusste, dass das vorbeiging. Weil er oft trank. Ein Alkoholproblem hatte. Seit Jahren. Genau genommen seitdem er die Insel verlassen hatte und in die Welt aufgebrochen war, um die Sprache der Zivilisation zu lernen und den Stamm vor eben dieser zu schützen. Er hatte studiert. Wusste inzwischen, wie Wirtschaft und Tourismus funktionierten und wie interessant das kleine Eiland seiner Väter für das eine wie das andere war. Die ursprüngliche Natur, malerischer Urwald, Wasserfälle, unter denen er als Kind herumgetobt hatte, Palmen und Strände, wie Urlauber sie liebten. An denen man im Schatten großer Hotels kleine Imbissbuden und Cocktailbars aus dem Sand stampfen konnte, wo man bis früh in den Morgen lachte und trank, während es niemals dunkel wurde. Lichter, die nie verloschen und Menschen, die nie verstummten. Und natürlich Bodenschätze. Vor allem seltene Erden, wie man sie für den Bau von Mobiltelefonen und Computern brauchte. Menga wusste von den Vorkommen. Weil er selbst bei einem seiner Besuche heimlich Proben genommen hatte.
Sowohl die Tourismusindustrie als auch Unternehmen warteten also nur darauf, die kleine Insel im Golf von Bengalen zu erobern. Und dann würde es ihr so ergehen, wie zuvor Tonga, Nauru oder Timor. Inseln, die bloß noch ein Schatten ihrer früheren Schönheit waren und auf denen es inzwischen mehr Touristen als Eingeborene und mehr Plastikmüll als Hoffnung gab.
Genau davor hatte er Whaku bewahren wollen. Mithilfe des Dämmerflechters. Der ihm versprochen hatte, die Insel schützen zu können. Weil er die Macht dazu hatte. Vielleicht sogar in dieser Welt und der der Dunkelheit. Menga hatte oft genug am Lagerfeuer des Schattenvaters gesessen und seinen Erzählungen gelauscht, um zu wissen, dass Skadwa der mächtigste der drei verbliebenen Meister war. Weil er die Dunkelheit, während die anderen beiden sie nur verstanden und bewahrten, zu beherrschen vermochte.
Menga, der selbst kein Talent für das Nachtzähmen besaß, hatte schließlich mithilfe eines Mitternachtsmagneten Kontakt mit dem dritten Meister aufgenommen. Und er erinnerte sich genau, wie er eines Nachts Skadwas Stimme aus dem Dunkel gehört hatte. Wie die Dunkelheit mit ihm sprach. Ihm Fragen stellte. Wie er, Menga, von Krigk, dem jüngsten Schüler des Schattenvaters, dessen Schwester und seiner eigenen Angst um die Insel gesprochen hatte. Und wie Skadwa ihm aus dem Dunkel heraus ein Angebot gemacht hatte. Die Insel und den Stamm zu beschützen. Vor lauten Touristen, elektrischem Licht und der Gier der Welt. Insofern Menga ihm Krigk und R’hee brachte. Damit er die beiden anstelle des Nachtwahrers ausbilden konnte. Ein geringer Preis für die Zukunft seines Stammes, seiner Kultur. Hatte Menga zumindest angenommen.
Nun aber waren seine Kopfschmerzen plötzlich das kleinere Problem.
Langsam öffnete Menga die Augen, orientierte sich in dem kleinen Pensionszimmer und richtete sich mit brummendem Schädel auf. Er senkte den Blick und blinzelte müde. Die leeren Flaschen am Boden sprachen eine klare Sprache. Schwerfällig schob er sie mit dem Fuß auseinander.
Das dumpfe Pochen in seinem Schädel war schlimm. Der Kopfschmerz aber würde vorübergehen. Im Gegensatz zu den Schuldgefühlen, die ihn plagten, seit das Dunkel R’hee und Krigk verschluckt und er den Flughafen allein verlassen hatte. Er hatte dieses Geschäft mit Skadwa nur gemacht, um die Insel und den Stamm vor Übel zu bewahren. Zugleich aber machte der Handel es ihm unmöglich, dorthin zurückzukehren. Wie hätte er dem Schattenvater jemals wieder unter die Augen treten können? Wie hätte er ihm erklären sollen, was er getan hatte?
Der Preis für die Rettung der Seinen war, dass er sie womöglich niemals wiedersehen würde. Und das ungewisse Schicksal zweier Geschwister, die das Dunkel vielleicht niemals wieder verlassen würden.
Er war nicht mehr sicher, ob er das Richtige getan hatte.
Menga spürte Tränen in sich aufsteigen. Er wandte den Kopf und betrachtete schwermütig die beiden Amulette auf dem Nachttisch. Dann schloss er die Augen, stützte das Gesicht in die Hände und wünschte sich, dass er nur Kopfschmerzen gehabt hätte.
»Was … was ist das für ein Geschöpf?«, fragte Krigk und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Anblick jener Kreatur ihn verunsicherte. Übermannsgroß, weit größer und schwärzer als alle Wesen, denen er bis jetzt im Dunkel begegnet war, wirkte jenes geflügelte Ungetüm, das ihm dort gegenüberstand, derart Furcht einflößend auf ihn, dass er das Zittern in seiner Stimme kaum unterdrücken konnte.
R’hee indessen machte keinen Hehl aus ihrer Angst, versteckte sich hinter ihrem Bruder und hielt sich wieder einmal die Augen zu.
Skadwas Mundwinkel hoben sich leicht. Es war ein feines Lächeln, sein Mund wie eine dünne Klinge, die die Finsternis durchschnitt. Und seine Lippen bewegten sich nicht, als er nun leise auf Nächtisch antwortete. »Das, junger Schüler, ist ein Nachtkrabb. Eines der wenigen Geschöpfe, die bisweilen aus eigener Kraft die Grenzen zwischen dem Dunkel und dem Licht zu überwinden vermögen.«
Krigk betrachtete das nachtschwarze Ungeheuer. Sein mattschwarz schillerndes Gefieder, den schrundigen Schnabel, der in einen beinahe menschlichen Kopf überging, welcher wiederum auf einem Körper saß, der, teilweise nackt und teilweise gefiedert, eine Mischung aus Mensch und Vogel zu sein schien. Und natürlich die kleinen düsteren Augen, die wie schwarze Perlen aus dem unwirklichen Kopf funkelten und ihn eindringlich musterten.
Ein Nachtkrabb also. Er glaubte bereits von diesen Kreaturen gehört, sie sogar daheim auf den Felszeichnungen im Inneren der Höhle gesehen zu haben. Doch war es, wenn Krigk sich richtig entsann, ein Wesen aus der sechsten Dunkelheit, was bedeutete … Krigk schluckte.
»Ich dachte, dass ich erst einmal die dritte Höhle wiederholen sollte, und …«
Der Dämmerflechter lachte leise auf. »Nein, mein junger Freund. Ich bin nicht wie dein Meister. Der Weg des Schattenvaters, euch das Dunkel verstehen lassen zu wollen, ist langwierig und zäh. Ich werde euch lediglich lehren, es zu beherrschen.«
Etwa im gleichen Moment zuckte der Kopf des Nachtkrabbs vor und mit einem heiseren nächtischen Krächzen hackte er nach den Geschwistern. Erschrocken fuhr Krigk zusammen, drehte sich nach hinten und schloss die Arme um seine Schwester. Doch er war nicht schnell genug. Der schartige Schnabel erwischte ihn an seinem rechten Arm und riss seine beinahe verheilte Wunde wieder auf.
Krigk schrie und griff sich an den Oberarm. R’hee duckte sich in seine Arme. Und Skadwa zwang den Nachtkrabb mit einer knappen Geste zurück an seinen Platz. Der Meister schaute dem Ungetüm ruhig in die kalten schwarzen Augen. Mit schmerzverzerrtem Blick sah Krigk, während Blut zwischen seinen Fingern hindurchlief, wie der Dämmerflechter das Ungetüm mit einer knappen Bewegung seiner Hand scheinbar mühelos bändigte. Wie der Nachtkrabb, schützend seine Flügel vor dem Leib faltend, auf seinen dünnen Beinen zurückwich und dabei den Kopf senkte. Deutlich spürte Krigk die Macht, über die der Dämmerflechter verfügte. Die Fähigkeit, ein Wesen der sechsten Dunkelheit kraft eines Blickes und einer knappen Bewegung zu zähmen, war eine, über die gewiss weder der Schattenvater noch der Nachtwahrer verfügten. Eine Fähigkeit, die er, um sein Ziel zu erreichen, erlangen musste. Er würde das Dunkel beherrschen lernen. Wenn es sein musste, auch bevor er es verstand.
Mit überkreuzten Beinen saß David, das Handy neben sich liegend, am Boden eines fensterlosen, unbeleuchteten Raumes. Er spürte seinen eigenen Herzschlag, versuchte, ruhig zu atmen. Dem Rat Ayumis entsprechend hatte er seine Augen geschlossen. Um das Gefühl zu bekommen, zumindest ein wenig Kontrolle über die Dunkelheit zu haben. Ihm gegenüber auf der anderen Seite des Raumes stand Kuro Watanabe mit seiner Enkelin und beobachtete ihn. Das Verrückte dabei war, dass er die Blicke des Alten spüren konnte. Aufgrund eines einzigen Ratschlages, den Ayumis Großvater ihm gegeben hatte: Die Dunkelheit als einen Organismus wahrzunehmen und zu vergessen, was ihn von ihr trennte. Sich nicht als Fremdkörper darin zu empfinden. Sondern als Teil von ihr. Um die Grenze aufzulösen und jene Kräfte fließen zu lassen, von denen die wenigsten etwas ahnten.
Es war nicht leicht gewesen. Eine gute halbe Stunde hatte David reglos hier gesessen und mehr als einmal aufspringen und nach draußen rennen wollen. Einzig aufgrund des leisen beruhigenden Summens Ayumis, ihr Großvater hatte es »Nachtsang« genannt, war er geblieben.
Nach und nach war er zu einem Teil des Dunkels geworden, war darin versunken. Dann hatte er zu spüren begonnen, sobald der Alte ihn anschaute. Und dann plötzlich sogar, was er anschaute. Linker Arm, rechter Arm, linkes Bein, Kopf, Schulter, Hand. Wenn er sich konzentrierte, konnte er durch das Dunkel hindurch den Blick Kuro Watanabes inzwischen tatsächlich fühlen. Das war die erste Übung gewesen.
David hatte begonnen, in die Geheimnisse der Dunkelheit einzutauchen. Und er spürte bereits, wie sich ihm ein weiteres Geheimnis zu erschließen begann. Weil er Ayumis Gesang, den er gerade noch nur mit den Ohren wahrgenommen hatte, nun plötzlich auch in seinem Inneren zu hören begann.
»Das, David, ist Nächtisch. Jene Sprache, die alle eint, die das Innere der Dunkelheit kennen. Sie braucht keine Worte, keine Zeitformen. Und es braucht weder Mund noch Ohren, sie zu sprechen oder zu verstehen. Wer immer Nächtisch spricht, wird, wenn du in einem Raum, einem Dunkel mit ihm bist, kraft des Dunkels und seiner Gedanken mit dir zu sprechen vermögen. Ein Meister gar auf große Entfernung.«
David staunte wortlos. Ayumis Singsang hatte beinahe etwas Magisches. Als ob sich ihre Worte einen Weg durch sein Inneres suchten und dort etwas zum Klingen brachten, das immer schon dort, aber bis jetzt nicht bereit gewesen war. Als flutete Ayumi ihn durch das Dunkel hindurch mit ihren Gedanken, ihren Gefühlen. Und er glaubte deutlich zu spüren, wie froh sie darüber war, ihn nun zwischen Licht und Dunkel an ihrer Seite zu wissen. Und zugleich strömten durch die Schwärze des Raumes zahllose andere Eindrücke auf ihn ein. Er vernahm die Gedanken der Dunkelheit selbst, aus der es tonlos wisperte.
Wer ist das? Woher kommt er? Was will er? Wem dient er? Weshalb will der Nachtwahrer ihn die Geheimnisse der Nacht lehren?
So viele Fragen, so viele Gedanken, dass es David schier von innen heraus zu erdrücken schien. Bis er »Halt!« schrie und die Stimmen in seinem Inneren von einem Moment auf den anderen verstummten. Im gleichen Augenblick lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Denn er hatte dieses Wort keinesfalls laut gerufen, sondern lediglich gedacht. David hatte Nächtisch gesprochen.
»Sehr gut, mein Junge«, vernahm er die Stimme des Alten in seinem Kopf. »Du begreifst schnell. Während all der Jahre, die du Angst vor dem Dunkel hattest, spürtest du womöglich nur, was sich alles in seinem Inneren verbirgt. Und jetzt, wo du es zu verstehen beginnst, wirst du es bald nicht mehr fürchten müssen.«
Die Worte Kuro Watanabes klangen einleuchtend und gaben ihm ein gutes Gefühl. Langsam öffnete David seine Augen, ahnte in völliger Finsternis die Konturen des Alten und seiner Enkelin. Die Grenzen begannen tatsächlich zu verschwimmen. Das Dunkel um ihn herum begann sich zu lichten.
Und dann leuchtete plötzlich sein Handy auf und vertrieb das Dunkel aus dem Raum. Er hatte es auf lautlos gestellt, aber vergessen, es auszuschalten.
Stirnrunzelnd sah er Ma auf dem Display leuchten und griff nach dem Telefon.
»David?«, hörte er die Stimme seiner Mutter.
»Ja?«
»Schaffst du es vielleicht, obwohl es schon dunkel ist, nachher den Bus zu nehmen?«, fragte sie mit einem besorgten Unterton in der Stimme.
David lächelte. »Dunkel« würde jetzt vermutlich kein größeres Problem mehr darstellen. »Denke schon. Kein Problem. Aber warum? Wollte Paps mich nicht eigentlich abholen?«
»Schon. Aber das Auto ist weg. Irgendjemand scheint es gestohlen zu haben.«
»Was? Wann denn das?«
»Frag mich nicht. Heute Nachmittag war es noch da. Scheint aber auch nicht der einzige Wagen zu sein, der verschwunden ist. Dein Vater ist jedenfalls schon drüben bei der Polizei. Zusammen mit den Nachbarn.«
Das war gar nicht gut. Vor allem, weil der Verlust des Autos die Laune seines Vaters alles andere als verbessern würde.
»Krass. Da scheint ja eine richtig üble Bande am Werk zu sein. Na ja, ich mach mich dann bald auf den Weg.«
»Pass auf dich auf, David.«
Kaum dass er aufgelegt hatte, führten Ayumi und ihr Großvater ihn nach draußen auf die Veranda, wo es inzwischen ebenfalls längst dunkel war. Was David merkwürdigerweise kaum noch beunruhigte.
Als der Alte ihn nun wieder mit seiner normalen Stimme ansprach, irritierte es ihn sogar für einen kurzen Augenblick. »Ich möchte auch, dass du auf dich aufpasst, David. Und das hier wird dir ein wenig dabei helfen.« Mit diesen Worten zog er aus den Falten seiner Robe ein Amulett und reichte es ihm. David zog die Stirn kraus. Es war sonderbar. Auf den ersten Blick wirkte der kleine runde, in Metall gefasste Talisman vollkommen schwarz. Auf den zweiten Blick jedoch mischten sich darin verschiedene Arten von Schwarz. Dazu schienen sie stetig in Bewegung zu sein, flossen ineinander, mischten sich, trennten sich wieder, verwirbelten. Und wenn er ganz genau hinhörte, dann wisperte das kleine Amulett auf Nächtisch unverständliche Zauberformeln.
Gerade wollte David danach greifen, als der Alte lächelnd seine Hand wieder schloss und zurück in die Falten seiner Robe schob. »Sobald du so weit bist. Das Dunkel besser verstehst. Im Moment könnte das Amulett dir sogar noch schaden. Aber bald wird es dich schützen. Und zwar vor Dingen, von denen du bis jetzt noch nicht einmal etwas ahnst.«
David verzog das Gesicht. Kuro Watanabe aber schien zufrieden. Und sah dabei mehr als je zuvor aus wie Meister Yoda.
»Danke, Meister. Wobei mir das Ding kaum helfen wird, wenn ich dort draußen irgendwelchen Autodieben über den Weg laufe.«
Der Alte schüttelte den Kopf. Von einem Moment auf den anderen schwand die Zufriedenheit aus seinem Gesicht. Und als er sprach, war die Sorge in seiner Stimme kaum zu überhören. »Keine Diebe, David. Ich weiß nicht, wie oder warum. Aber es war das Dunkel, das diese Autos geholt hat.«