IN DEM DER NACHTKRABB GEZÜCHTIGT WIRD, EIN BUSFAHRER DERSELBE WIE IMMER IST UND MENGA ETWAS ZU BEGREIFEN BEGINNT
Krigks Arm schmerzte. Die Wunde, von den Klauen des fremdartigen Ungetüms in der Höhle geschlagen und vom finsteren Schnabel des Nachtkrabbs vertieft, hatte sich entzündet. Dumpf konnte er es in seinem Oberarm pochen spüren. Aber Krigk ließ sich nichts anmerken. Auf keinen Fall wollte er seine Fortschritte gefährden. Alles, was sein neuer Meister sehen sollte, war ein eifriger Schüler, der jede ihm gestellte Aufgabe zu meistern vermochte. Schnell und ohne Probleme. Und besser als seine Schwester.
Zwar hatte Krigk, weil Menga die Geschwister so unerwartet ins Dunkel entlassen hatte, seinen lichtgehärteten Dolch am Flughafen eingebüßt, doch Skadwa hatte ihm zum Zähmen der nachtwärtigen Kreaturen etwas anderes gegeben: eine sechsfingrige Glimmergeißel, die aus einem einzigen gebändigten und in die Haut eines Unlichtleviathans eingenähten Blitz bestand. Aus einem der größten Feinde der Dunkelheit und den Überresten eines ihrer mächtigsten Geschöpfe. Dem Dämmerflechter zufolge war diese Geißel die einzige ihrer Art. Ein mächtiges Instrument, das dem, der es führte, erlaubte, dem Dunkel seinen Willen aufzuzwingen.
Die Peitsche wog leicht in seiner Hand. Selbst durch den Griff hindurch konnte Krigk die flirrende Kraft des Blitzes spüren. Und als er ein weiteres Mal zuschlug und die Geißel knallen ließ, ahnte er die Macht, die ihr innewohnte.
Der Nachtkrabb zuckte furchtsam zusammen. Er hatte die Schwingen schützend über seinem Kopf zusammengelegt, kauerte vor Krigk am Boden und wirkte nun weit kleiner als noch bei ihrer ersten Begegnung. Der Junge mit der Peitsche zeigte keine Gnade. Weil sein Meister es ihm befohlen hatte. Weil er dieses Geschöpf aus dem Herzen der Dunkelheit züchtigen und beherrschen sollte. Und weil er ihm nicht verzieh, dass es ihn vor den Augen Skadwas und seiner Schwester verletzt hatte.
In einiger Entfernung standen im Dunkeln Gnista und R’hee und beobachteten schweigend, wie Krigk tobte. Bei jedem seiner Schläge fuhr auch der nordische Zwielichtwichtel zusammen. Gnista war sein Mitleid mit dem Nachtkrabb deutlich anzumerken. Auf dem Rücken der zitternden Kreatur zeichneten sich zwischen den Federn dunkle Striemen ab, die schwärzer noch als die schwarze Haut schienen. Die Glimmergeißel hatte sie gezeichnet. Und Krigk war noch lange nicht fertig. Dieses Monstrum würde ihm nie wieder etwas antun. Dafür würde er sorgen.
Er holte ein weiteres Mal aus. Das Geschöpf schrie auf. Und Skadwa wandte sich lächelnd ab, entfernte sich langsam und gab, während hinter ihm das Knallen der Geißel durch das Dunkel hallte, Gnista einen Wink, ihm zu folgen. Beinahe dankbar riss der Gnom seinen Blick von dem gepeinigten Nachtkrabb los, um seinem Herrn nachzueilen.
»Ich will, dass du mit Mörker aufbrichst. Durchstreift die Nacht. Fangt Streuner, kleine Kreaturen des niederen Dunkel. Dimmlinge, Schattenhamster, Schemenschnabler und bringt sie mir.«
»Wie Ihr befehlt, Meister. Aber … aber wofür?«
»Wir werden bald etwas zu füttern haben. Und wenn es so weit ist, sollten unsere Vorratskammern gut gefüllt sein …« Skadwas nächtisches Raunen klang geheimnisvoll, verschwörerisch und durch das Dunkel wie eine fast vergessene, böse Erinnerung. Wie Worte, die ein Teil der Finsternis waren. Gnista lief es eiskalt den tiefschwarzen Rücken hinab. Im nächsten Moment hallte wieder der Knall der Glimmergeißel durch das Dunkel. Gefolgt vom Aufschrei des Nachtkrabbs.
»Meister?«, fragte der Zwielichtwichtel scheu.
»Hm?«, brummte der Angesprochene, seinen Mantel aus fein gewobener Nacht enger um seine schmalen, dunklen Schultern ziehend.
»Der Junge. Weiß er, was er da tut?«
Skadwa lachte leise auf. »Er glaubt, es zu wissen. Das reicht.«
»Wenn … wenn er so weitermacht, wird er den Nachtkrabb töten.«
»Es kann durchaus sein, dass es so weit kommt.«
»Aber wenn das geschieht, dann … dann …«
»Ich weiß, Gnista. Ich weiß.«
»Was gedenkt Ihr dann zu tun, Meister?«
»Seine Schwester loben und Krigk verzweifeln lassen. Wenn wir sie schon beide hier haben, sollten wir sie auch beide benutzen …«
»Und was ist mit der Insel? Dem Versprechen, das Ihr dem verräterischen Riesen gabt?«
»Das, mein treuer Diener, werde ich halten. So, wie ich jedes meiner Versprechen zu halten pflege. Nur Geduld. Menga wird zufrieden sein. Ich werde Whaku vor der übrigen Welt zu bewahren wissen. Bald schon. Sehr bald …«
»David! Jetzt aber los! Beeil dich ein bisschen! Wir müssen los. Die können nicht ewig auf uns warten!« In der offenen Tür des Busses stehend, tippte Frau Drescher mit ihrem dünnen Zeigefinger genervt auf ihre Armbanduhr.
David hastete, den Rucksack locker über der Schulter, vom Schulgebäude auf den Parkplatz. Dass die Abfahrt sich seinetwegen verzögert hatte, war ihm egal. Zumal er ohnehin lieber gar nicht mitgefahren wäre. Dafür hätte er sich allerdings im Vorfeld um ein anderes Praktikum kümmern müssen. Was er gewiss auch getan hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, was er später mal werden wollte. Obwohl er da durchaus einige Ideen hatte, hätte er dennoch nicht gewusst, welche Art von Praktikum eine solide Grundlage für eine spätere Karriere als Künstler, Erfinder oder durch glückliche Zufälle zu Reichtum gelangter Millionär verhieß. Darum würde er nun wohl oder übel in jenen Bus steigen müssen, in dem der größte Teil seines Jahrgangs darauf wartete, zusammen mit Frau Drescher in den Fertigungskomplex von Erebos Industries am Rand der Stadt gefahren zu werden. Was eigentlich vollkommen unnötig war, weil die meisten von ihnen ja von ihren Eltern wussten, wie der Arbeitsalltag dort aussah. Und die Bezahlung. Oder auch die Kantine. Davids Vater pflegte zu sagen, dass sie der einzige Ort auf der Welt war, wo es noch weniger schmeckte als zu Hause. Was, der Buletten zum Trotz, tatsächlich nur halb scherzhaft gemeint war. Das größte Problem bei Erebos war allerdings weniger das Essen als vielmehr die Bezahlung. Davids Vater zufolge zahlte der Graf weit schlechter als die anderen Arbeitgeber der Umgebung. Aber dafür gab es in der Lampenfabrik zumindest Arbeit. Und da, das hatte sein Vater ihm beigebracht, war eine schlecht bezahlte immer noch besser als gar keine.
Ein wenig außer Puste sprang David an seiner Lehrerin vorbei in den Bus, warf sich in einer der vorderen Reihen neben Ayumi auf den für ihn freigehaltenen Sitz und schubste seinen Rucksack achtlos in den Fußraum. Dabei spürte er, wie Marvin und Leon ihn von der Rückbank aus übellaunig anfunkelten. Aber auch das war ihm in diesem Moment egal.
Die Tür schloss sich mit einem leisen Zischen. Wummernd startete der Bus. Nach einem kurzen Blick auf David und Ayumi schnallte Frau Drescher sich auf dem Sitz neben dem Fahrer an. Und damit waren nun gut achtzig, zu etwa gleichen Teilen männliche wie weibliche, Schüler bereit, sich gemeinsam über einen möglichen zukünftigen Arbeitsplatz zu informieren, der zumindest besser als keiner war.
Der Busfahrer, derselbe, der sie auch auf Klassenfahrt und im Rahmen der Tagesausflüge gefahren hatte, schob sich seine Schirmmütze in den Nacken, stellte im Radio irgendeinen Rentnersender lauter und tuckerte, von Volksmusik begleitet, gemächlich vom Schulparkplatz.
»Und? Was ist mit Rocky? Hast du ihn wiederbekommen?«, fragte Ayumi neugierig. Dabei war die Besorgnis in ihrer Stimme nicht zu überhören.
»Der Hausmeisterraum war schon wieder zu. Bin extra noch mal ins Sekretariat. Aber die wussten auch nicht, wo Klandt sich rumtreibt.«
»Hm, dann müssen wir jetzt also nicht nur einen Schattenhamster, sondern auch noch einen Hausmeister suchen?«
»Na, zumindest der Hausmeister kann hoffentlich auf sich selbst aufpassen.«
Ayumi kaute einen Moment lang nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Was Rocky angeht, sollten wir uns allerdings was überlegen. Der Kleine tut mir echt leid. Wenn ich mir vorstelle, dass er vielleicht seit Tagen völlig verängstigt in irgendeinem Schatten unter einem Regal hockt …«
»Wenn er dem Schein der Erebos 3000 entkommen ist.«
»Das will ich mir gar nicht erst vorstellen.«
David teilte ihre Sorge. »Aber du hast recht. Wir sollten wirklich was unternehmen. Ich lass mir was einfallen, versprochen.«
»Danke, David.«
Ayumi wandte sich ihm zu und lächelte ihn an. David spürte, wie er rot wurde. Im nächsten Augenblick griff sie nach seiner Hand und drückte sie. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Von hinten hörte er Marvin und Leon dreckig lachen. Was ihm in diesem Moment aber seltsamerweise erstaunlich egal war.
Als der Bus dann kurz darauf auf die Hauptstraße einbog und im Radio ein neuer schrecklicher Schlager ertönte, hatten sich die beiden auf der Rückbank wieder beruhigt. Ayumi aber hielt nach wie vor Davids Hand.
Menga lag noch immer im Bett und versteckte sich dort vor der Welt und den Folgen seines Handelns. Er hatte nicht geschlafen. Nur vor sich hin gedöst und, um sich abzulenken, den Fernseher laufen lassen. Die ganze Nacht. Aber das hatte es nicht besser gemacht. Die Nachrichten waren voll mit merkwürdigen Ereignissen. Geschichten von geheimnisvollen Räuberbanden und eigentümlichen Diebstählen, Dingen, die nachts unter seltsamen Umständen verschwanden, und zornigen Menschen, die irgendjemandem die Schuld dafür geben mussten. Und obwohl die Flaschen vor seinem Bett mehr geworden waren und sein Kopf schmerzte, ahnte Menga, was vor sich ging. Er erinnerte sich, wie Krigk und R’hee am Flughafen verschwunden waren. Wie das Dunkel sie im Bruchteil einer Sekunde geholt hatte. Er hatte nur das Licht ausgeschaltet. Mehr nicht.
Menga hob seine Rechte, betrachtete die beiden Schutzmedaillons darin und fragte sich zum wohl unzähligsten Mal, ob er richtig gehandelt hatte. Ob es richtig gewesen war, Skadwa die Kinder zu überlassen, um das Erbe seiner Väter zu retten.
Plötzlich hämmerte es laut an die Tür. »Sind Sie da?«
Menga schrak hoch. Verwirrt betrachtete er den Wecker auf dem Nachttisch. Kurz nach elf. Das bedeutete, dass er bereits mehr als zehn Stunden wach lag.
»Moment!« Er räusperte sich, stellte den Fernseher stumm und schwang sich aus dem Bett. Wobei es sich als praktisch erwies, dass er seine Kleider gar nicht erst ausgezogen hatte. Er bahnte sich seinen Weg durch die leeren Flaschen und öffnete im Vorbeigehen das Fenster. Noch bevor er die Tür erreicht hatte, wurde von außen wieder dagegengedonnert. Energischer. Unbeherrschter. Mit jedem Schlag spürte er seinen schmerzenden Kopf deutlicher.
»Nur die Ruhe. Ich komm ja schon!«, murmelte er, rieb sich die Schläfen und öffnete die Apartmenttür. Jedoch nur so weit, dass er hinausschauen konnte. Wer immer dort draußen stand, musste nicht sehen, wie es im Zimmer aussah.
Draußen stand, die Arme vor der Brust verschränkt und offensichtlich schlecht gelaunt, der Besitzer der Pension. Menga stutzte und fragte sich, ob er im angetrunkenen Zustand womöglich etwas Dummes getan hatte. Wobei er längst zu dem Schluss gekommen war, die größtmögliche Dummheit bereits nüchtern begangen zu haben.
Stirnrunzelnd betrachtete er seinen Vermieter, der ihn vorwurfsvoll anblickte und schwieg. Zwischen den beiden Männern entstand eine kurze unangenehme, beinahe schmerzhafte Stille. In Mengas Kopf rumorte es weiter. Bis er schließlich das Wort ergriff.
»Guten Morgen. Was gibt es denn? Ist etwas vorgefallen?« Er bemühte sich, freundlich zu sein. Was aber offenbar keine Wirkung auf sein Gegenüber hatte.
»Das kann man wohl sagen. Ich habe gestern Nacht meinen Laptop an der Rezeption stehen lassen.« Der Mann machte eine Pause, sog scharf die Luft ein und fuhr dann in harschem Ton fort. »Der jetzt nicht mehr dort ist.«
Menga schaute ihn verständnislos an. »Und was genau hab ich damit zu tun?«
»Genau das wollte ich gerade herausfinden. Ich denke, es ist kein Problem, wenn ich kurz reinkomme?«
Das war natürlich doch ein Problem. Einerseits der Flaschen, andererseits des Zimmers wegen. Weil es Menga peinlich war. Er überlegte kurz. Sein Gegenüber war gut einen Kopf kleiner als er. Ein Größenunterschied, den seine Wut jedoch wieder wettmachte. Der Mann war zornig. Und Menga ahnte auch, woran es lag, dass er, wenn es um seinen verschwundenen Computer ging, ausgerechnet zu ihm kam. Weil seine Haut dunkler und sein Akzent seinem Gegenüber nicht bekannt war. Weil man immer als Erstes die Fremden verdächtigte. Er zögerte kurz, kam dann aber zu dem Schluss, dass es besser war, wenn sein zorniger Vermieter ihn für einen Alkoholiker als einen Dieb hielt. Darum gab er der Tür einen Stoß, sodass sie aufschwang und so den Blick auf verstreute Schmutzwäsche, Schnapsflaschen, halb zugezogene Vorhänge und ein ungemachtes Bett eröffnete. Der zornige kleine Mann machte einen Schritt nach vorn, blieb im Türrahmen stehen und blickte sich misstrauisch um. Einzig Krigks Dolch und die Amulette auf dem Nachttisch schienen ihn kurz zu irritieren.
Menga schnaubte leise. »Reicht Ihnen das? Oder möchten Sie vielleicht noch reinkommen und genauer nachschauen, ob ich Ihren Laptop nicht irgendwo versteckt habe?«
Der Angesprochene winkte ab, murmelte, an ihm vorbeischauend eine halbherzige Entschuldigung und drehte sich weg. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass Menga mit dem Messer umgehen konnte.
Nachdenklich schaute er seinem Vermieter nach, der wütend den Flur hinunterstapfte und dabei wohl überlegte, wer, wenn nicht der Ausländer, seinen Laptop noch gestohlen haben könnte. Dann schloss Menga die Tür wieder.
Sein Blick fiel auf den stumm geschalteten Fernseher, auf dem unter dem reißerischen Slogan DIEBSTÄHLE NEHMEN DRAMATISCH ZU eine Moderatorin gerade mit ernstem Blick ihren Mund bewegte. Menga ahnte den Text. Dinge verschwanden. Menschen wurden zornig. Irgendjemand musste schuld sein.
Und er konnte sich vorstellen, wie viele unzufriedene Menschen dort draußen gerade irgendwo an Türen klopften, um irgendeinen Schuldigen zu finden.
Die Empfangshalle im Hauptgebäude des Erebos-Fertigungskomplexes war beeindruckend. Schon von der Größe her. Die neunten Klassen der Hedwig-Klötzke-Gesamtschule waren durch einige Schulbusladungen der gleichen Jahrgangsstufe aus dem Umland verstärkt worden. Und obwohl sich inzwischen gut 200 Schüler im Inneren der Halle tummelten, wirkten sie inmitten des riesigen Raumes, der vermutlich noch fünfmal mehr von ihnen hätte fassen können, seltsam verloren. Die Schüler staunten. Über die mit weißem Kunststoff überzogenen Wände und die Säulen, die Monitore, die zahllos und in verschiedenen Größen in die einzelnen Wandsegmente eingelassen waren und auf denen sich in beinahe hypnotischer Langsamkeit die von den zwei griechischen Buchstaben umgebene Glühbirne drehte. Das Erebos-Logo war allgegenwärtig und spiegelte sich in seiner Zahllosigkeit noch einmal in den blanken weißen Marmorkacheln am Boden. Hunderte Alphas, Omegas und gekrönte kleine es. Und als wäre das noch nicht genug, erhob sich zu allem Überfluss im Zentrum der Halle das Ganze ein weiteres Mal in Form eines riesigen Springbrunnens, aus dessen gut vier Meter großem e sich ein steter Wasserstrom über seinen Querbalken ergoss und in ein Becken plätscherte, das das Dinkwitzer Hallenbad geradezu jämmerlich wirken ließ.
Aus der Decke, die mit den gleichen Plastiksegmenten wie der Rest des Raumes verkleidet war, ragten in sieben Meter Höhe einige futuristisch anmutende Scheinwerfer, die den Raum gleichmäßig erhellten und entgegen seiner Fensterlosigkeit wie von Tageslicht erfüllt scheinen ließen.
Über dem Ganzen lag, aus mehreren Dutzend in Wänden und Decke versenkten Lautsprechern tönend, eine ebenso entspannende wie nichtssagende Fahrstuhlmusik, die das aufgeregte Plappern der Schüler übertönte. Sie standen in kleineren Gruppen herum. Einzelne Klassen, Kumpels, Freundinnen. Unterhielten sich aufgeregt. Über diesen Raum, in dem abgesehen von ihnen ohne Weiteres auch noch ein Einfamilienhaus Platz gehabt hätte. Darüber, wie viel die Monitorwand, der Marmorboden und erst dieser Springbrunnen gekostet haben mochten.
In ihrer unmittelbaren Nähe wartete unterdessen ein gutes Dutzend Erebosmitarbeiter in weißen Anzügen und mit Tablets, um mögliche Fragen zu beantworten.
Sogar die Lehrer waren verblüfft und schienen sich angesichts des modernen Prunksaals beinahe zu überlegen, ob eine Tätigkeit bei Erebos Industries nicht womöglich lohnender als die Lehrerlaufbahn sein konnte.
David staunte wortlos. Das alles wirkte, als stammte es aus einer weit entfernten Zukunft. Beinahe wie in Star Wars. Die riesige Halle mit ihren mächtigen Säulen und der umlaufenden Empore erinnerte an einen Thronsaal. Was auch an den beiden breiten, rechts und links emporführenden Treppen und den riesigen Toren lag, die von hier aus in die Fertigungsgebäude führten. Offenbar konnte man damit, dass man den Menschen Licht verkaufte, ganz schön reich werden.
Von den aufgeregten Stimmen der anderen, der Kaufhausmusik und dem Plätschern des monströsen Brunnens umwabert, nahm Ayumi ihre Sonnenbrille ab. Für einen kurzen Moment konnte David ihren leeren ausdruckslosen Blick sehen. Sie rieb sich die Augen.
»Seltsam. Hier drin ist es so hell, dass ich davon ernsthaft Kopfschmerzen bekomme.«
»Wirklich? Du merkst das?«
»Na ja, Unterschiede zwischen hell und dunkel nehm ich schon noch wahr. Und hier drin ist es echt überhell.«
»Krass«, murmelte David, während Ayumi sich ihre Brille zurück auf die Nase schob.
Ungefähr im gleichen Moment begann sich die Musik aus den Lautsprechern zu verändern: die nichtssagende Melodie verstärkte sich, wurde lauter und begann von den Wänden widerzuhallen, bevor sie langsam in etwas anderes, etwas Größeres überging und zu einem melodischen Fanfarengeschmetter anschwoll.
In ihren Gesprächen innehaltend hoben die Anwesenden ihre Köpfe. Die aus Decken und Wänden tönende Musik bildete eine Art akustischen Korridor, an dessen Ende nun auf der Empore lautlos eine übermannsgroße, zweiflüglige Tür aufglitt. Heraus trat, von zwei weiteren Tabletträgern flankiert und gerade mal halb so groß wie die Tür wirkend, Jan Graf Erebos.
Die Fanfaren erreichten ihren Höhepunkt. Alle Blicke wandten sich in seine Richtung und ein Raunen ging durch die Schüler und Lehrer, als der Graf nun lächelnd und, seinen weißen Stock in der Hand, in einer übertriebenen Geste die Arme ausbreitete.
»Willkommen, junge Menschen, im Herzen von Erebos Industries!«
Er trug offenbar ein Mikrofon. Denn seine Stimme schien aus den Wänden und der Decke, von überall zu kommen. Und kaum, dass das letzte Wort verhallte, wurde es mit einem Schlag dunkel in der Halle.