IN DEM ES ERST ZORN, DARAUFHIN GESCHENKE UND AM ENDE EINE UNANGENEHME ÜBERRASCHUNG GIBT
»R’hee, Kleines. Wenn du so weitermachst, bist du am Ende noch schneller eine Nachtzähmerin als dein Bruder!« Skadwa lachte laut auf. Und Krigk auf der anderen Seite des Raumes fuhr wie von der Glimmergeißel getroffen zusammen. Er hatte alles ganz genau beobachtet. Der Dämmerflechter hatte R’hee einen Mitternachtsmagneten überreicht und sie damit herumexperimentieren lassen. Dann war er gegangen und hatte sich irgendwo in seinem Nachtpalast versteckt. Mithilfe des Magneten hatte seine Schwester ihn dann ausfindig gemacht. Und das nicht nur einmal. Skadwa hatte den Versuch wiederholt. Drei Mal hatte R’hee sich auf die Suche nach ihm machen müssen. Und jedes Mal hatte sie den Schattenflechter innerhalb kürzester Zeit gefunden. Weil sie das Artefakt schnell verstanden hatte; denn der Magnet wies, wenn man sich auf seine Schwingungen konzentrierte, die Richtung zu einem zuvor definierten Gegenstand oder einer Person. In die richtige Richtung gehalten vibrierte er stärker. Und je näher man kam, desto mehr tat er es. Das Prinzip war denkbar einfach. Aber man musste sich darauf einlassen. Krigk hatte es damals noch auf Whaku vom Schattenvater im Rahmen der Lehren der zweiten Höhle erklärt bekommen. Und er war sich sicher, dass er Skadwa mit dem Artefakt doppelt so schnell wie seine Schwester gefunden hätte. Zumal er nicht einmal sicher war, ob sie ihren Meister überhaupt mithilfe des Mitternachtsmagneten gefunden hatte. Vielleicht hatte auch der hechelnde, schwanzwedelnde Shih Tzu, den R’hee inzwischen Pickel genannt hatte, den Dämmerflechter gewittert, sodass sie am Ende bloß dem kleinen Flohfänger gefolgt war.
Es ärgerte Krigk, wie zufrieden der Dämmerflechter mit R’hee schien. Er funkelte seine Schwester an, während diese Pickel tätschelte, der sich im Dunkel eng an ihr Bein schmiegte.
Dann wandte Krigk sich dem Dämmerflechter zu. »Lasst es mich versuchen, Meister! Gebt mir den Mitternachtsmagneten.«
Skadwa aber schüttelte den Kopf. »Nein, mein Junge. Für heute ist es zu spät. Und womöglich reicht es ja auch, wenn einer von euch mit dem Artefakt umgehen kann. Deine Schwester hat es jedenfalls schon sehr gut gemacht. Ich denke tatsächlich, dass sie ein gewisses Talent für die Nachtzähmerei hat.«
Wieder fühlte es sich für Krigk an, als ob irgendjemand ihm aus dem Dunkel zwei Hiebe mit der Geißel verpasste. Ein bitterer Schmerz, der sich bis in sein Innerstes fortpflanzte. »Wie Ihr meint, Meister«, murmelte er und hatte dabei einen bitteren Geschmack im Mund.
Als er den Raum kurz darauf mit hängendem Kopf verließ, spürte er Tränen in sich aufsteigen. Weil Skadwa ihn den ganzen Tag über nicht gesehen, nicht wahrgenommen und sich nur Zeit für R’hee genommen hatte. Krigk war wütend. Seine Unterlippe bebte, als er nach der Glimmergeißel griff, die in seinem Gürtel steckte. Er würde den Nachtkrabb züchtigen, der in seinem Quartier in Ketten lag. Bis die Kreatur wimmernd unter seinen Hieben zusammenbrach.
Im Inneren der Halle war es komplett dunkel.
Da war nicht einmal die Ahnung eines Lichtscheins.
Vor Kurzem noch wäre David angesichts der völligen Finsternis im Inneren der Halle irre geworden. Er spürte, wie Ayumi seine Hand ergriff. Früher hätte er sich ängstlich auf dem Boden zusammengerollt. Womöglich sogar geheult. Doch jetzt, wo er dank des Mädchens an seiner Seite und dem alten Watanabe etwas Nächtisch beherrschte und die Dunkelheit zumindest ein wenig kannte, war es anders. David hatte etwas verstanden. Das Dunkel war nicht ungefährlich. Aber es gab, ebenso wie im Straßenverkehr oder wenn ein Feuer ausbrach, gewisse Gesetzmäßigkeiten. Regeln. Und wenn man die kannte, vermochte man dem Schlimmsten zu entgehen. Als das Licht verlosch, schloss David die Augen. Versuchte, sich in das Dunkel einzufühlen. Es zu spüren. Sich mit ihm zu verbinden. Doch dafür blieb ihm nicht die Zeit. Weil die Empfangshalle von Erebos innerhalb weniger Augenblicke noch mehr Science-Fiction wurde: Durch seine geschlossenen Augenlider konnte David erkennen, wie plötzlich dünne helle Lichter das Dunkel durchdrangen und sich mitten im Raum bündelten. Er blinzelte und sah wie sich über ihren Köpfen inmitten des Raumes, von verschiedenen Lasern gespeist, ein dreidimensionales hochkomplexes Hologramm aufbaute. Es brauchte nicht lange, bis sie alle begriffen, was dort entstand: das Erebos-Logo. Dieses Mal allerdings aus reinem Licht. Und während die Laser das Bild in die Dunkelheit zeichneten, erklang aus Wänden und Decke die Stimme des Grafen: »Erebos ist Licht. In mehr als dreißig Ländern dieser Welt steht unser Name nicht nur für Qualität, sondern für Leuchtentechnologie, die ihrer Zeit weit voraus ist und in Stromersparnis, Leistung und Preis ihresgleichen sucht. Hier, am Rande von Dinkwitz, befindet ihr euch im zentralen Fertigungskomplex des weltweiten Marktführers für innovative Leuchtmitteltechnologie.«
Ehrfürchtig schwiegen die Anwesenden, lauschten und starrten wie gebannt auf das animierte Laserlogo. Nur Ayumi, die Davids Hand inzwischen wieder losgelassen hatte, stieß ihn an und flüsterte leise: »Ernsthaft? Das klingt jetzt wie eine dieser Reden, die so lang werden, dass man sich wünscht, man hätte sich ein Pausenbrot mitgenommen.«
David nickte und lauschte, während das Logo sich hypnotisch langsam zu drehen begann, den Worten des Grafen.
»In all ihren Fabriken beschäftigt unsere Firma über den Erdball verteilt mehr als 20.000 Mitarbeiter. Sie hält 72 Patente und befindet sich auf der Liste der wertvollsten Unternehmen seit Jahren unter den ersten fünf. Wir bringen das Licht. Überall. In tausend Formen.«
Die einzelnen Laser fächerten sich auf und begannen, etwas anderes in den Raum zu zeichnen. Schemazeichnungen von Glühlampen, Neonröhren und Halogenstrahlern bauten sich über ihnen auf. Und dazu erklang von allen Seiten wieder die Stimme des Grafen: »Ihr alle werdet bald schon im Rahmen eures Schulpraktikums die Gelegenheit bekommen, herauszufinden, ob auch ihr Teil unserer großen Lichtbringerfamilie sein wollt.«
Bei den letzten Worten des Grafen hatte die Lasershow die gesamte Produktpalette von Erebos Industries abgebildet. In der Mitte flammte noch einmal das Logo auf und drehte sich im Dunkel um sich selbst.
Dann ging das Licht wieder an.
Im Bruchteil eines Augenblicks wurde es, beinahe wie durch einen Blitzschlag, wieder hell im Saal. Ayumi hob die Hand vor ihre Brille und die Anwesenden blinzelten irritiert ins Licht.
Oben auf der Empore blickte der Graf, auf den schimmernd weißen Knauf seines Stockes gestützt, auf die Schüler herab. »Und um euch die Entscheidung ein wenig leichter zu machen, hab ich für euch alle eine Kleinigkeit vorbereitet …«
Ein Lichtreflex brach sich in seiner breitrandigen Brille, als der kleine Mann in Weiß mit den Fingern schnippte, die Seitentüren sich öffneten und zwei weiße führerlose Gabelstapler mit dem Erebos-Logo auf der Seite in die Halle surrten. Zugleich setzte auch die Fahrstuhlmusik wieder ein.
Die Schüler machten Platz und die beiden Geräte stellten jeweils eine mit kleinen glänzenden Kartons beladene Palette auf dem Hallenboden ab.
»Was ist los? Was passiert da?«, wollte Ayumi wissen.
»Die haben hier gerade zwei Paletten mit irgendwelchem Zeug reingefahren. Keine Ahnung, was das soll.«
Verwundert runzelte das Mädchen die Stirn und war ebenso verwirrt wie die übrigen Schüler, die sich ebenfalls fragten, was das wohl bedeuten mochte.
»Das ist für euch. Zum Mitnehmen. Aber jeder nur eins. Ach, und für eure Lehrer sind auch welche da!«
Von seiner Empore deutete der Graf zwinkernd auf die glänzenden Päckchen. Die Schüler blickten einander kurz an. Dann stürmten sie los, um sich jeder eines zu schnappen. Sie drängten sich um die Paletten, schubsten und stießen einander beiseite, nur um vor den anderen eines der Pakete zu bekommen. Ohne überhaupt zu wissen, was sich darin befand. Einzig unter dem Eindruck dieser unglaublichen Kulisse und in der Hoffnung, dass es sich, wenn die Firma schon so lukrativ war, um irgendwelchen geilen Scheiß handelte.
Und das tat es auch. Teilweise zumindest.
David wartete, bis der Andrang kleiner und die Paletten schon beinahe geplündert waren. Dann nahm er Ayumi bei der Hand, führte sie hin, drückte ihr eines der Päckchen in den Arm und nahm sich selbst auch eines. Um sie herum war die Aufregung groß. Weil sich in jenen Geschenkpaketen vollkommen unterschiedliche Dinge befanden. Einen kurzen Moment lang betrachtete David das schimmernde Papier, auf dem glänzend und schwarz auf schwarz einmal mehr das Erebos-Logo geprägt war. Dann riss auch er sein Päckchen hastig auf und fand im Inneren verwundert ein Buch über die Geschichte der Glühbirne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Ayumi hingegen, die für das Auspacken etwas länger brauchte, zog eine kleine Spielekonsole aus ihrer Schachtel.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, sagte David kopfschüttelnd, verriet ihr, was sie da in der Hand hielt und verkniff sich mit Mühe die Frage, ob sie mit ihm tauschen wollte.
»Super«, meinte Ayumi daraufhin. »Am liebsten spiele ich ja Autorennspiele. Die machen nach Gehör noch am ehesten Spaß.«
»Ernsthaft jetzt?«
»Nein, du Dödel. Von mir aus kannste das Ding haben.«
David musste grinsen. So breit, dass Ayumi es wahrscheinlich sogar hören konnte. Um sie herum versuchten alle anderen ebenfalls Geschäfte miteinander zu machen. Weil die einen Glühlampen und die anderen MP3-Player, wieder andere Fotoapparate und die nächsten Bettwäsche mit dem Erebos-Logo bekommen hatten. Was unter den Schülern zu einem gewissen Unmut führte, den der Graf jedoch im Keim erstickte.
Von oben und überallher donnerte seine Stimme auf sie herab: »Aber damit könnt ihr euch später vergnügen. Jetzt bekommt ihr erst einmal eine Führung durch den Betrieb. Bitte begebt euch zu den ausgewiesenen Türen und leistet den Anweisungen meiner Mitarbeiter Folge. Vor euch liegen zwei Stunden Abenteuer in der Wunderwelt der Leuchtmittelherstellung!«
Um sie herum nahmen die Angestellten in ihren weißen Anzügen Aufstellung, um den Schülern den Weg zu einer der offenen Türen zu weisen. Die Jugendlichen setzten sich, jeder ein Päckchen unter dem Arm, die einen mehr, die anderen weniger zufrieden, in Bewegung. Und David schauderte es bei dem Gedanken an die zwei Stunden Abenteuer in der Wunderwelt der Leuchtmittelherstellung. Vor allem, weil sein Vater irgendwie seit über fünfzehn Jahren in genau dieser Welt gefangen war und zu Hause kaum etwas von ihren Wundern erzählte …
Viele Tausend Kilometer entfernt sammelte sich zum Abend des gleichen Tages vor dem Eingang der Höhle, in welcher das Dunkel wohnte, ein Dutzend Speerträger des Stammes der H’ru um Meister Chaya, den Schattenvater.
Seit dem Vorfall im Inneren hielt der Stamm vor dem Höhleneingang mehr als ein Dutzend Fackeln und einige größere Feuerschalen am Brennen. Hinter ihnen waren breite Bahnen aus hellem Stoff aufgespannt, die den Schein des Feuers noch einmal zurückwarfen und den Platz beinahe taghell erscheinen ließen. Eine Lichtlinie, wie die Nachtzähmer sie seit Anbeginn der Zeiten zu ziehen pflegten, um Geschöpfe, die das Licht fürchteten, in ihre Grenzen zu weisen.
Seit das seltsame Schattenungeheuer Krigk und seiner Schwester erschienen war, waren einige Tage vergangen. Das Notfeuer im Inneren der Höhle war längst verloschen. Niemand wusste, was dort unten seitdem vorgegangen war. Ob das schauerliche Geschöpf im Dunkel womöglich noch weiter gewachsen war und ob es noch andere Kreaturen in sich aufgesogen hatte. So oder so war es vollkommen fremd.
Der Schattenvater hatte lange nachgedacht. Meditiert. Hatte seinen Geist auf Wanderschaft durch das Dunkel geschickt und dort mit Geschöpfen kommuniziert, von denen die wenigsten Menschen jemals überhaupt etwas ahnen würden. Alle sieben Kreise der Dunkelheit hatte er durchwandert. Mehr als einmal. Aber nirgends hatte er Antworten gefunden. Er hatte keine Ahnung, was es sein konnte, das da aus der Finsternis aufgetaucht war und den Jungen angegriffen hatte. Was immer es war, es schien völlig fremd. Etwas, das so im Dunkel noch nie existiert hatte. Eine Gefahr. Womöglich nicht nur für den Stamm und die Insel …
Der alte Chaya hatte die Rüstung angelegt, die vor Urzeiten aus den Schuppen des einzigen Unlichtleviathans zusammengefügt worden war, den die Nachtzähmer jemals besiegt hatten. Aus jener Rüstung ragend wirkte sein Kopf ein wenig wie der einer ausgemergelten Schildkröte. Aber der Alte war weit weniger wehrlos, als es den Anschein hatte: In seinem Gürtel, der aus der Haut einer Nachtschattennatter geflochten war, steckte ein Bund aus Schattenbolgfedern. Um den Hals trug er die gebogene und in schwarzes Silber gefasste Kralle eines großen Zwielichtlings und in der Hand das Zepter aus Dämmerstein. Der Schattenvater war gewappnet. Und bereit, dem Untier entgegenzutreten. Auch wenn nicht sicher war, ob er das überlebte. Denn er hatte lange nicht mehr im Dunkel gekämpft.
Den Speerträgern hatte er mit Farbe aus Schwarzsteinasche die alten Zeichen auf den Leib gemalt und ihnen dadurch jenes Maß an Schutz verliehen, das ohne eines der Vielnachtamulette möglich war. Ihre Speere hatte er mit Dämmersteinspitzen versehen und am Gürtel trug jeder von ihnen einen kleinen, mit Zunder und trockenem Gras gefüllten Eisenzylinder mit einer dünnen Schnur, an der ein kleiner Feuerstein baumelte. Die mobile Variante des Notfeuers, das zu entfachen keine zehn Sekunden brauchte. Auch die Männer waren bereit. Und sie alle wussten, wie gefährlich es werden würde.
Der Schattenvater schritt an ihnen vorüber. Bei jedem Einzelnen hielt er kurz inne, um ihm die Augen mit einem nachtgetränkten Tuch zu verbinden, das den jeweiligen Krieger zumindest während der nächsten Stunde im Dunkel würde sehen lassen.
Kurz darauf waren sie so weit. 12 Speerträger und ein Nachtzähmer. Bereit, in das Dunkel der Höhle zu dringen und sich dort einem Ungetüm zu stellen, das vollkommen unberechenbar, einer fremden Finsternis entsprungen und völlig unbekannt war.
Der Schattenvater ging voran. Vorsichtig. Konzentriert. In der einen Hand das Zepter, die andere um die sanft vibrierende Kralle gelegt, die sich bei wachsender Gefahr im Dunkel stärker regen würde. Und die Männer folgten dem Alten. Nach und nach schwand mit jedem Schritt, den sie tiefer ins Innere der Höhle vordrangen, der Schein des Fackellichtes von außen. Bis sie bei der ersten Höhle schließlich in völliger Dunkelheit anlangten.
Nichts regte sich. Nicht in der ersten und auch nicht in der zweiten Höhle. Weder darin noch davor. Nicht ein Geschöpf bewegte sich in der Finsternis. Kein einziges. Selbst in den hinteren Höhlen nicht. Komplett leer erstreckte das Dunkel sich vor ihnen.
Als sie wenig später aus den Höhlen zurück in die Lichtlinie traten, war der Schattenvater beinahe verwirrter als zuvor. Noch nie hatte er eine derart entleerte Finsternis gesehen. Eine Dunkelheit, die rein gar nichts beinhaltete. Als wäre alles darin geflohen oder von irgendetwas anderem verschlungen worden. Was das bedeutete, wollte er sich gar nicht vorstellen.
Doch noch während der Alte in Gedanken war und die Speerträger um ihn herum ihre Augenbinden abnahmen und in das Licht der umstehenden Fackeln blinzelten, begann die Kralle in seiner Hand zu vibrieren.
Stärker als es je ein Nachtzähmer zuvor erlebt hatte.