IN WELCHEM DAVID TIEFER IN DIE DUNKELHEIT EINDRINGT, EIN MINISTER PROBLEME BEKOMMT, MENGA DAS HERZ BRICHT UND AM ENDE SOGAR EIN VERBRECHEN BEGANGEN WERDEN MUSS
Als sie am Haus ihres Großvaters ankamen, waren David und Ayumi noch immer beeindruckt von ihrem Ausflug zu Erebos Industries, der den halben Tag gedauert hatte. Inzwischen war es bereits später Nachmittag. Im Inneren der Fabrik hatten sie gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war.
David ließ seinen Rucksack von der Schulter gleiten und öffnete das niedrige Gartentor.
»Und? Könntest du dir vorstellen, dort später wirklich mal zu arbeiten?«, fragte Ayumi, während sie das Grundstück betraten.
»Vielleicht. Aber nur wenn ich nichts anderes finde. Ganz oben steht die Lampenklitsche jedenfalls nicht auf meiner Liste. Auch wenn es so ein übermoderner Techniktempel ist.«
»Na ja, zumindest hättest du es zur Arbeit nicht weit.«
»Genau das hat mein Vater sich damals auch gedacht. Und jetzt schraubt er für den Grafen seit 15 Jahren seine Glühbirnen zusammen und schimpft über das Essen in der Kantine. Er sagt allerdings auch: Der Job ist nicht gut, aber sicher.« David zögerte kurz und klopfte lächelnd auf den Karton mit dem Erebos-Logo, der aus seinem Rucksack ragte. »Aber die Geschenke sind schon cool.«
»Wenn man was damit anfangen kann.« Ayumi seufzte.
»Na ja, auf blinde Praktikanten sind die vermutlich nicht unbedingt vorbereitet«, entgegnete David, ohne nachzudenken, biss sich dann aber gleich auf die Zunge.
»Ach weißt du, Licht ist eh nicht so meins.« Sie wandte sich ihm zu und grinste.
»Du nun wieder …« Er lachte erleichtert und knuffte ihr sanft gegen die Schulter.
Über den mit kleinen Schieferplatten gepflasterten Pfad betraten die zwei kurz darauf die Terrasse.
»Heute Abend werde ich zu Hause jedenfalls mit Sicherheit erst mal ein wenig zocken«, fügte er hinzu.
»Morgen«, widersprach Ayumi bestimmt.
»Hä? Wieso morgen?«
»Weil du heute Abend noch etwas vorhast. Oder hast du das schon wieder vergessen?«
Das hatte er tatsächlich. Weniger vergessen als vielmehr verdrängt. Weil es zum einen wirklich Ärger geben konnte und er es zum anderen allein tun musste. Denn Ayumi würde ihm bei diesem Vorhaben kaum etwas nützen. Zumindest hatte er noch nie von einer Gaunergeschichte gehört, bei der ein Blinder Schmiere gestanden hätte. Aber sie hatten sich drauf geeinigt, dass er es tun würde. Weil es anders vermutlich nicht ging.
»Ist ja gut. Keine Sorge. Ich kümmer mich drum«, murmelte er widerwillig und stutzte kurz. Der Garten. Etwas hatte sich verändert. Die schwarzen Kästen vor der Terrasse waren weniger als zuvor.
Da erklang durch die halb geöffnete Verandatür und aus dem Dunkel des Hauses heraus plötzlich die brüchige Stimme Kuro Watanabes: »Wenn ihr zwei euch dann von der Schule erholt habt, würde ich vorschlagen, dass wir David jetzt erst einmal das Wichtigste über die ersten beiden Arten Dunkelheit beibringen.« Der Alte machte eine kurze Pause, bevor er besorgt hinzufügte: »Ich fürchte nämlich, dass wir nicht so viel Zeit haben, wie wir eigentlich bräuchten.«
»Wie … wie meinst du das, Großvater?«, wollte Ayumi wissen, während sie nun zur Tür sprang, sie weiter aufschob und David hinter sich her ins Haus zerrte.
»Das weiß ich selbst nicht genau, Kleines. Aber dort draußen passiert etwas. Immer wenn es dunkel wird. Etwas, das es so noch nicht gegeben hat.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich auch nicht, Kleines. Aber wenn du nachts die Augen schließt und dich konzentrierst, dann kannst du es spüren. Wie einen tonlosen Donner, der in der Finsternis rumort und jede Nacht lauter wird.«
»Du machst mir Angst, Großvater.«
»Wohl leider nicht grundlos. Aber darum müssen wir uns beeilen. Besonders jetzt, wo die anderen beiden verschwunden sind. Und seltsamerweise habe ich mit Meister Chaya keinen Kontakt aufnehmen können. Aber das Wichtigste ist: Wir haben Krigk und R’hee verloren. Darum muss David jetzt lernen. So schnell wie möglich. Folgt mir, ihr zwei.«
Der Alte begab sich tiefer in das fensterlose Haus. David und Ayumi folgten wie geheißen. Hinter ihnen verblasste das Licht, das durch die Terrassentür ins Innere fiel. Dicht hinter dem Alten bleibend stiegen sie über eine knarrende, schmale Holztreppe in ein tiefer gelegenes Stockwerk hinab. Dort unten schien es sogar noch dunkler als oben zu sein. David staunte, dass er nur aufgrund des wenigen, was er bis jetzt gelernt hatte, das Dunkel selbst hier unten durchschauen und alles darin erkennen konnte. Das hatte beinahe etwas von Magie.
Und er wunderte sich, dass ihn allein aufgrund dieser Fähigkeit ein leerer, dunkler Raum mehr beeindruckte als die hochtechnisierte, gigantische Empfangshalle des Grafen.
Dann bemerkte er sie. Die Kästen aus dem Garten, die der Alte offenbar hier unten aufgestellt hatte.
Ayumis Großvater folgte seinem Blick und nickte lächelnd. »Dich erwarten heute hier zwei Arten Dunkelheit. Zwei Arten Wissen, das ihnen innewohnt, und zwei Arten von Kreaturen, die sich darin verbergen.«
Kreaturen. David bekam eine Gänsehaut. Ein niedlicher, kleiner Schattenhamster war das eine. Aber er erinnerte sich auch an den Grantelschwarz, und wie dieser auf dem Schulklo getobt hatte. Bei dem Gedanken, was sich wohl noch alles im Dunkel verbarg, schauderte es ihn.
Der Alte aber ließ diesen Gedanken keinen Raum und stapfte zu einem der Kästen hinüber. »Normalerweise würde ich dich jetzt fragen, ob du bereit bist. Aber dafür haben wir keine Zeit.«
Mit diesen Worten hob er den Deckel von einem der Kästchen, aus dessen Innerem sich im nächsten Moment ein schwirrender Strom von Schwärze in die Dunkelheit des Raumes ergoss. Staunend hörte, oder besser spürte David das Schwirren zahlloser, für das normale Ohr nicht wahrnehmbarer Flügel.
Das zigflüglige Schwarz begann sich im Raum zu verteilen und nach und nach konnte er darin verschieden große, teils käfer-, teils motten- oder auch insektenartige Kreaturen unterscheiden.
Ayumi kicherte, als ein kleiner, dicker Käfer sich auf ihre Nase setzte. Und David staunte über die riesige Menge halbdurchsichtiger und halbfinsterer Flatterwesen.
In seinem Rücken erklang wieder die Stimme Kuro Watanabes: »Die erste Dunkelheit nennen wir ›Hauch‹, und sie ist kaum mehr als eine Ahnung. Sie ist jener Anteil des Dunkels, der sogar dem Licht innewohnt. Vage Schemen, dunkle Flecken, etwas, das nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen wird. Der Hauch einer Ahnung von etwas, das womöglich nicht einmal wirklich da ist. Ein großes Vielleicht. Schlussendlich ist der Hauch kaum mehr als ein Botschafter der Dunkelheit, der aber allzeit und immer und selbst im hellsten Sonnenschein präsent ist.«
»Hauch …«, murmelte David von halbwirklichen Insekten umschwirrt.
»Im Hauch existieren vor allem Schemenschwirrlinge, Dämmerflügler und Nachtwanzen. Die draußen im Licht kaum wahrnehmbar sind. Sie füllen die Lücke zwischen dem, was ist und dem, was nicht ist. Sie sind da und sind es zugleich auch nicht, sind selbst kaum mehr als ein großes Vielleicht. Dabei aber wunderschön. Vor allem die Muster auf dem Flügel eines Schemenschwirrlings, in deren Betrachtung man stundenlang versinken kann.«
Als hätte er es gehört, setzte sich im gleichen Moment ein solcher Schwirrling auf Davids Hand und spreizte langsam seine Flügel. Das Muster darauf war wirklich unglaublich. Ein dünnes Geflecht aus Schatten, das wie ein Kaleidoskop ständig in Bewegung schien und immer neue Zeichnungen schuf. Und jede Einzelne davon war wunderschön. David lächelte.
Da aber klatschte Ayumis Großvater schon wieder in die Hände und ebenso schnell wie sie daraus hervorgeschossen waren, verschwanden die zahllosen, halbwahren Insekten surrend wieder in ihrem Kasten und der Deckel schloss sich über ihnen.
Mit offenem Mund starrte David den Alten an.
»Er ist ein Nachtzähmer. Und kann sie allein kraft seines Willens beherrschen«, erklärte Ayumi.
Jetzt erst begriff David, worum es eigentlich ging. Was das Dunkel wirklich zu bieten hatte. Welche Wunder und welche Möglichkeiten dort vielleicht auf ihn warteten. Die Gelegenheit, selbst zum Nachtzähmer zu werden.
Kuro Watanabe fuhr unterdessen unbeirrt fort: »Die Geschöpfe der ersten Dunkelheit sind die Einzigen, die Nächtisch weder verstehen noch sprechen. Womöglich besitzen sie eine eigene Sprache. Wenn dem so ist, dann ist auch sie nur eine Art Schemen. Aber halten wir uns nicht unnötig mit so etwas auf. Fürs Erste reicht es, dass du den Hauch und seine Kreaturen zumindest kennst. Er ist Dunkelheit und eine Ahnung von Form. Kommen wir zur zweiten Dunkelheit. Dunkelheit und eine Ahnung von Willen. Einen Vertreter dieser zweiten Dunkelheit, die wir ›Schatten‹ nennen, hast du ja bereits kennengelernt.«
Rocky. David und Ayumi fuhren kaum merklich zusammen. Sie hatten beide ein schlechtes Gewissen. Schließlich wusste ihr Großvater nicht einmal, dass der Schattenhamster seit Tagen verschwunden war. Aber mit etwas Glück würde David ihn, wenn der Plan aufging, am gleichen Abend noch zurückbekommen.
»Ich habe hier noch zwei weitere Schattenhamster.« Der Alte öffnete die erste Kiste, entnahm ihr zwei der dunklen, struppigen Geschöpfe und setzte sie auf den Boden. Inzwischen konnte David, obwohl alles nicht mehr als Schwarz in Schwarz war, sogar ihr Fell schimmern sehen und ihre kleinen, dunklen Augen und die schwarzen Zähnchen in den dunklen Mäulern erkennen.
»Abgesehen davon …«, murmelte Watanabe und öffnete den nächsten Kasten, »… habe ich hier noch einen Zwergnachtling …« Kaum dass er den Deckel anhob, sprang aus dem Inneren eine seltsame Mischung aus Frosch und Kaninchen ins Dunkel des Raumes. Mit wackelnden Ohren hoppelte das Tier direkt auf David zu und wirkte dabei, als ob es jeden Moment umkippen und der Länge nach hinfallen würde. Was aber offensichtlich Bestandteil seiner Fortbewegung war. Bei David angekommen, beugte sich das Tier, das für die meisten Menschen nur etwas Dunkel im Dunkel gewesen wäre, vor und beschnupperte sein Hosenbein. Zugleich hatte der Alte noch einen weiteren Kasten geöffnet.
»… und einen Dusterwulch.« Aus seiner Behausung kroch nun so etwas wie ein sechsbeiniger stämmiger Affe, eine Art kleiner Gorilla mit riesigen Augen, der David verwirrt anblinzelte.
»Die Geschöpfe der zweiten Dunkelheit verfügen über einen eigenen Willen und existieren im Dunkel seit Urzeiten. Sie verstehen Nächtisch, vermögen es aber nicht zu sprechen. Sie kommunizieren durch ihre Regungen, verbergen sich in der Regel im Schatten, meiden Menschen und sind für solche, die das Dunkel nicht durchschauen, nur wahrzunehmen, wenn sie Angst oder Zorn empfinden.« David erinnerte sich an seinen Mathelehrer. Daran, wie Rocky ihn gebissen hatte. Nachdem er von Dr. Grobholdt durchgeschüttelt worden war. Und in so einem kleinen Karton konnte man sich eben wirklich nur schwer vor Menschen verstecken.
»Es lohnt sich, ihr Verhalten zu beobachten. Ihre Sinne sind derart geschärft, dass sie nahende Naturkatastrophen spüren und aus bedrohten Regionen fliehen, sodass Nachtzähmer in der Vergangenheit mit ihrer Hilfe schon Vulkanausbrüche und Erdbeben vorausgesagt haben. Einige von ihnen sind jedoch etwas anhänglich und können bisweilen ein wenig lästig werden.« Er hatte den Satz noch nicht beendet, da klammerte der Zwergnachtling sich bereits an Davids Bein. Irritiert tätschelte er dem sonderbaren Froschkaninchen den Kopf. Inzwischen war auch das affenartige Tier bei ihm angelangt, legte den Kopf schief und streckte seinen haarigen Arm nach ihm aus. Als David sich zu ihm hinabbeugte, ergriff der Dusterwulch seine Hand und begann, ihn mit großen Augen anblickend, an seinem Finger zu nuckeln. Es kitzelte derart, dass David ein Kichern unterdrücken musste. Er fühlte sich ein wenig wie im Zoo, als er sich nun zu den beiden Tieren auf den Boden hockte, während die zwei Schattenhamster aufgeregt um sie herumhuschten.
Versonnen betrachtete der alte Watanabe, wie selbstverständlich der Junge dort am Boden mit jenen Geschöpfen umging, die nur die wenigsten Menschen jemals überhaupt wahrnehmen würden.
Ayumi nutzte die Pause, trat näher zu ihrem Großvater und flüsterte leise: »Glaubst du, dass er es sein könnte, von dem in der Prophezeiung die Rede ist?«
»Der, von dem die alten Räume raunen?«
»Ja. Der erschafft, was zuvor nicht war. Tut, was noch nie getan wurde. Der das Dunkel verändert. Du hast mir in den letzten Jahren so viel davon erzählt.« Ayumis Stimme zitterte leicht.
Nachdenklich betrachtete ihr Großvater, wie David mit den Kreaturen spielte. Wie intuitiv er mit ihnen umging. Grübelnd strich er sich durch den Bart. »Vielleicht ist er es. Vielleicht auch nicht. Er lernt schnell. Als ob er vieles davon bereits tief in seinem Inneren weiß.«
»Wenn es tatsächlich so ist, ist das dann gut oder schlecht, Großvater?«
»Wenn es so ist, ist es vor allem eine Chance, meine Kleine …« Der Alte ergriff ihre Hand und drückte sie. »Keine Angst, wir zwei passen schon auf ihn auf.«
Ayumi seufzte leise.
Ihr Großvater räusperte sich und schnippte mit den Fingern. Von einem Moment auf den anderen lösten sich alle Tiere, der Zwergnachtling, der Dusterwulch und die Schattenhamster, von dem sitzenden David und trotteten zurück zu ihren Kästen.
»Ich denke, es reicht, David. Für heute hast du genug gelernt.«
David sah, wie der Wulch zurück in seinen Kasten kletterte. »Kommen Sie schon, nur noch ein bisschen. Ein oder zwei Stunden.«
Mit einem beherzten Sprung verschwand auch der Zwergnachtling in seinem Kasten.
»Nein. Deine Eltern machen sich vielleicht schon Sorgen«, murmelte der Alte, während er die beiden Schattenhamster einsammelte und ebenfalls zurück in ihre Kiste packte.
»Und du solltest auch nicht vergessen, dass du noch etwas vorhast!«, sagte Ayumi nachdrücklich.
»Ja, schon, aber ich würde gern …« David wirkte beinahe traurig, als Ayumis Großvater die Kästchen nun wieder verschloss.
Der Alte schmunzelte. »Dafür, dass du vor einer Woche noch Angst im Dunkeln gehabt hast, hast du jetzt fast ein wenig zu viel Spaß darin.«
David lächelte ihn an. »Wissen Sie, ein sehr kluger, alter Mann hat mal gesagt, wenn man etwas versteht, dann muss man es nicht mehr fürchten.«
»Oho! Das scheint mir ja ein wirklich kluger Kerl gewesen zu sein. Von dem hätte sich ja selbst der alte Konfuzius noch ein Scheibchen abschneiden können!« Der alte Watanabe lachte laut auf.
Ayumi verdrehte die Augen. »Seid ihr langsam fertig? Das ist ja nicht auszuhalten.«
David winkte lächelnd ab. »Schon gut, schon gut. Aber morgen nach der Schule machen wir weiter, ja?«
Er blickte zu Ayumis Großvater hinüber, der ihm zunickte. »Abgemacht. Morgen gehen wir eine Ebene tiefer und ich zeige dir zwei weitere Arten Dunkelheit.«
David richtete sich auf. Er war zufrieden. Dennoch brannte ihm eine Frage unter den Nägeln: »Wird es gefährlich werden?«
»Gefährlicher als das hier auf jeden Fall. Aber keine Angst, mein Junge. Ich werde dich begleiten.«
David atmete tief durch und nickte Ayumi und dem Alten zu. »Okay. Dann werd ich mich mal auf den Heimweg machen.«
»Mit einem kleinen Zwischenstopp«, meinte Ayumi knurrend.
»Klar. Mit einem kleinen Zwischenstopp«, murmelte David und schulterte den Rucksack mit der Konsole, den er beinahe vergessen hätte.
Der alte Watanabe stutzte und schaute die beiden verwundert an. »Na, was habt ihr denn noch vor?«
»Nichts, Großvater. Gar nichts. Mach dir keine Gedanken. David muss bloß noch nach etwas schauen.«
Kuro Watanabe spürte, dass seine Enkelin ihm etwas verschwieg. Was in diesem Moment jedoch keine Rolle spielte. Es ging um Größeres. Und das durften sie nicht gefährden.
»In Ordnung, mein Junge. Aber trödle nicht zu lang. Nicht, dass du am Ende Hausarrest oder so etwas bekommst. Dann hätten wir nämlich noch weniger Zeit, als wir ohnehin schon haben.«
Als sein persönlicher Assistent schließlich nach mehrmaligem Klopfen mit seinem Laptop unter dem Arm das Büro betrat, war der Minister gerade am Telefonieren. Thorben Molchert wollte den Raum schon wieder verlassen, sein Vorgesetzter aber bedeutete ihm zu bleiben. Dementsprechend bemühte er sich nun, so wenig wie möglich von dem Telefonat mitzubekommen und musterte nachdenklich die Rücken der Bücher im Regal. Es waren überwiegend Nachschlagewerke und Klassiker. Nationales und internationales Recht, Sicherheit, Wirtschaft, Goethe und deutsche Balladen. Schwere, dicke Bücher. Er wusste allerdings, dass zumindest zwei davon nicht echt waren. Der Minister hatte es ihm gegenüber mehrfach erwähnt. Es waren Attrappen, in denen er jeweils eine Flasche äußerst teuren Whisky aufbewahrte, den er jedoch nur für andere hochrangige Politiker und bei Besprechungen unter vier Augen hervorholte. Dementsprechend wusste Molchert auch nicht, wo genau die unechten Bücher sich befanden. Obwohl er schon oft vor dem Regal gestanden und einige Male sogar schon neuen Whisky für seinen Vorgesetzten besorgt hatte. Er tippte auf Goethe. Die Jubiläumsausgabe in sechs Bänden. Das hätte ihm angemessen geschienen. Schon von der Höhe des Regalbretts her. Wobei er sich natürlich nicht sicher war. Und vielleicht auch nie die Gelegenheit bekommen würde, es herauszufinden.
Unauffällig streckte er den Zeigefinger nach einem der Bücher aus, um dessen Gewicht einschätzen zu können.
In diesem Moment legte der Minister in seinem Rücken auf und begann laut zu schimpfen. »Was denken diese Leute sich eigentlich? Dass ich all diese Dinge selbst verschwinden lasse? Dass ich nachts vielleicht mit einem Laster durch die Gegend fahre und alles mitnehme, was nicht niet- und nagelfest ist?«
Molchert fuhr herum und blickte in das hochrote Gesicht seines kopfschüttelnden Vorgesetzten. Gerade wollte er etwas entgegnen, als der Minister ihn anblaffte: »Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie solche Anrufer abwimmeln sollen? Verdammt noch eins, ich habe doch auch keine Antworten!«
Mit gesenktem Kopf trat der Assistent an den Schreibtisch. »Genau deswegen hatte ich ja geklopft, Herr Minister. Es … es tut mir leid. Bedauerlicherweise lassen sich nicht alle Anrufer abwimmeln. Das dürfte jetzt Herr Retzlaff, der Vorstandsvorsitzende von RetzTech gewesen sein, nicht wahr?«
»Ganz genau. Der von mir eine Erklärung dafür haben wollte, wie jemand ihm in der Nähe von Berlin innerhalb einer Nacht drei gut gesicherte Lagerhäuser voller Hightech ausräumen konnte. Und natürlich wer ihm das alles ersetzt.«
»Wobei Herr Retzlaff ja, wenn ich mich richtig entsinne, auch für Ihre Wiederwahl im kommenden Jahr eine Rolle spielt.«
»Nun ja, er hat einen gewissen Einfluss. Aber das ist jetzt erst einmal nicht wichtig. Wie es aussieht, wird ihm keine Versicherung den Schaden ersetzen. Weil es weder Hinweise auf einen Einbruch noch eine Erklärung dafür gibt, wie irgendjemand so etwas überhaupt hätte bewerkstelligen können.«
»Und ich vermute, das ist ein Problem?«
»Mehrere Probleme, Molchert. Mehrere. Hunderte Plasmafernseher, Computer, Waschmaschinen, Bluetoothlautsprecher und wasweißichnicht noch. Ich hab mir das nicht mal alles merken können. Alles die neueste Generation. Vorbestellt. Teilweise schon bezahlt. Und wie es aussieht, ist Retzlaff auch nicht der Einzige, dem man während der letzten Nächte sein Lager ausgeräumt hat. Da draußen wartet ein Haufen einflussreicher Unternehmer, die am Rad drehen. Und das ist schlimmer als ein paar Autos oder geplünderte Keller. Es muss langsam etwas passieren, Molchert! Das kann so nicht weitergehen!«
»Also, wir … wir haben inzwischen ja eine fünfzigköpfige Sonderermittlungskommission eingesetzt, die …«
»… die in ganz Deutschland agiert und bis jetzt rein gar nichts herausgefunden hat. Das ist mir alles bekannt, Molchert. Aber was wir jetzt brauchen, sind Ergebnisse! Bevor das Ganze noch eskaliert.«
Der Minister, der sich nur langsam beruhigte, legte die Unterarme auf den Schreibtisch und blickte abwartend auf seinen Assistenten. Doch schon dessen Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass er diesbezüglich nichts Gutes zu berichten hatte.
»Ich fürchte, das ist bereits geschehen, Herr Minister. Wir haben gerade eine internationale Meldung hereinbekommen, die darauf hindeutet, dass die Angelegenheit ernsthaft außer Kontrolle zu geraten scheint.«
Sein Gegenüber ließ seinen Kopf sinken und murmelte kaum hörbar: »International. Na ja, dann ist es ja zumindest nicht mehr allein unser Problem.«
»Ja. Das Ganze wächst sich, wie es scheint, tatsächlich zu einer weltweiten Angelegenheit aus. Dabei wird es allerdings, wenn Sie mir dieses Urteil erlauben, nicht besser.«
Sein Vorgesetzter hob den Kopf und blickte ihn irritiert an. »Wie meinen Sie das, Molchert?«
Der Angesprochene zog seinen Laptop hervor. »Lassen Sie mich Ihnen eine Mail zeigen, die einen beunruhigenden Vorfall in internationalen Gewässern beschreibt, der höchstwahrscheinlich direkt mit unserem Problem zu tun hat.«
Unter den aufmerksamen Blicken des Ministers positionierte Thorben Molchert seinen Rechner auf dem Schreibtisch, klappte ihn auf, öffnete das Mailprogramm und klickte darin auf eine bestimmte Nachricht.
Sein Vorgesetzter rückte seine Brille zurecht und begann zu lesen. Im nächsten Moment wurde er kreidebleich. »Aber das … das kann doch unmöglich wahr sein.«
»Leider doch, Herr Minister. Und es kommt noch schlimmer: Die Presse hat Wind davon bekommen. Der Vorfall ist bedauerlicherweise bereits öffentlich geworden.«
Menga lehnte auf seinem Bett an der Wand. Die Flaschen hatte er inzwischen am Boden hinter der Tür ordentlich zusammengestellt. Seit zwei Tagen hatte er bloß Wasser getrunken und sich von Tütensuppen ernährt. Er war vollkommen nüchtern und klar. Und das musste er auch sein. Weil er seinen Kopf brauchte, um etwas zu verstehen. Am Fußende des Bettes lief immer noch der Fernseher. Er hatte ihn leise gestellt, um sich besser konzentrieren zu können. Nachdenklich fuhr er sich über das unrasierte Kinn und betrachtete die gegenüberliegende Wand. Mithilfe kleiner metallener Heftzwecken hatte er dort mehrere Dutzend Zeitungsausschnitte und Notizen befestigt, auf denen er mit Rot einzelne Worte eingekreist und über Pfeile wieder mit anderen Notizen verbunden hatte. Aufmerksam betrachtete er die wirre Ansammlung von Zetteln und Linien. Alles, was er über die während der letzten Tage verschwundenen Dinge herausgefunden hatte, hing dort an der Wand. Artikel, die er aus Zeitungen herausgeschnitten, Listen, die er aus Fernseh- und Radiosendungen abgeschrieben hatte. Auffällig war, dass es ausnahmslos Dinge von gewissem Wert gewesen waren. Angefangen mit Schmuck, Uhren und Mobiltelefonen. Aber auch Größeres. Menga dachte an den Laptop seines Vermieters. Außerdem Unterhaltungselektronik und andere technische Geräte. Fernseher, Beamer, Spülmaschinen. Und dann natürlich die Autos. Menga hatte die Medienlandschaft aufmerksam beobachtet. Beiträge, die immer wieder zwischen anderen, vermeintlich wichtigen Meldungen auftauchten und davon berichteten, was jetzt nun noch verschwunden war. Es gab keine sicheren Zahlen, aber anhand der Häufigkeit der Berichte hatte er in Klammern vage Schätzungen neben den entwendeten Gegenständen notiert. Menga wusste, dass hinter all diesen Vorfällen der Dämmerflechter steckte. Schließlich hatte er Krigk und R’hee verschwinden sehen. Die das Dunkel, dessen Wunsch entsprechend, geholt hatte.
Gedankenverloren spielte Menga mit den Schutzamuletten der Geschwister. Hinter all dem, so viel war ihm klar, steckte Skadwa. Auch wenn Menga sich beim besten Willen nicht erklären konnte, weshalb er all diese Dinge verschwinden ließ. Was er mit ihnen wollte oder wofür er sie womöglich brauchte. Aber was immer es auch war, der Dämmerflechter hatte einen Plan. Und Menga würde herausfinden, was für einer das war. Und dann würde er etwas tun. Irgendetwas. Ihn aufhalten. Schon der Kinder wegen. Das war er ihnen schuldig.
Menga schloss die Augen. Er brauchte unbedingt Schlaf. Doch schmerzhaft deutlich erinnerte er sich unentwegt daran, wie Skadwas schattige Gestalt ihn umflossen und umflüstert hatte. Wie er ihm schließlich geglaubt und mit ihm den Handel geschlossen hatte. Aber jetzt war er müde. So müde.
Und er war tatsächlich beinahe schon eingeschlafen, als einige Worte, die aus dem halblauten Fernseher drangen, ihn wieder hochfahren ließen. Es waren seltsam bekannte Worte. Namen. Als Menga die Augen aufschlug, sah er Kamerabilder, die offenbar aus einem fliegenden Helikopter heraus aufgenommen worden waren. Der Hubschrauber bewegte sich über das Meer. Menga erkannte die Form und die Küstenstriche der Nachbarinseln. Etwas aber irritiere ihn. Und dann begriff er, was es war. Beinahe zeitgleich wurde im unteren Drittel des Bildschirms eine Schrift eingeblendet, die seine schreckliche Erkenntnis bestätigte:
Das Rätsel von Whaku – Insel im indischen Ozean verschwindet spurlos über Nacht.
Menga spürte Tränen in sich aufsteigen.
Skadwa hatte ihn reingelegt.
Inzwischen war es dunkel geworden. Bei dem Gedanken, dass er sich eine Woche zuvor nicht einmal getraut hätte, um diese Zeit allein draußen herumzuschleichen, war David ein wenig seltsam zumute. Zumal es jetzt sogar nötig war, dass niemand ihn bemerkte. Und weil er keine Taschenlampe benutzen durfte, war es von Vorteil, dass er das Dunkel inzwischen zumindest ein wenig verstehen gelernt hatte. So vermochte er in der Nacht immerhin zu sehen.
Sein Fahrrad hatte er, um nicht aufzufallen, in einiger Entfernung zur Schule abgestellt, war unauffällig bis an das Gebäude herangeschlichen und bewegte sich nun vorsichtig im Schatten an der Außenwand der Aula entlang.
Soweit er wusste, bezahlte die Schule einen Wachdienst, der jedoch erst ab zehn Uhr abends in einstündigen Abständen patrouillierte. David schaute auf seine Armbanduhr. 20:45 Uhr. Er hatte also noch Zeit. Trotzdem wollte er es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Weil jede Minute zu viel die Gefahr barg, entdeckt zu werden. Und das wollte er auf keinen Fall. Schon um Ayumi nicht zu enttäuschen, mit der er den Plan zusammen ausgeheckt hatte. Wobei Plan beinahe etwas viel gesagt war. Aber zumindest wusste David, was er wollte: Gewissheit. Und was er tun musste, um sie zu bekommen.
Auf der gegenüberliegenden Seite bellte ein Hund. David duckte sich in den Schatten und beobachtete, wie das Tier das Bein an einer Straßenlaterne hob, daraufhin unmotiviert einer streunenden Katze hinterherkläffte und dann seinem Herrchen die Straße hinunter folgte.
Er schaute Hund und Besitzer nach, bis beide im Dunkel verschwunden waren. Nachdem er einen weiteren Blick auf seine Uhr geworfen hatte, schlich er weiter an der Wand entlang, an der Aula vorüber und bis zum Haupteingang der Schule. Dort schaute er sich noch einmal kurz um und eilte dann zu dem kleinen, aus dem Hauptgebäude herausragenden Flachdachanbau, links vom Eingang, hinüber. Die Werkstatt des Hausmeisters. Klandts Hauptquartier. Er hatte David einmal verraten, wie man im Notfall dort hineinkommen konnte, ohne dabei die Alarmanlage auszulösen. Weil er ihm vertraute. Weil sie Freunde waren. Bei dem Gedanken, dass Barabas Klandt nun schon genau so lang wie der Schattenhamster verschwunden war, wurde David ganz mulmig zumute. Aber der Hausmeister war ein erwachsener Mann und konnte vermutlich auf sich selbst aufpassen. Was man von Rocky so nicht sagen konnte. Für einen Schattenhamster gab es dort draußen zahllose Gefahren. Jede plötzlich aufflammende Glühbirne konnte sein Ende bedeuten. Ganz zu schweigen vom Sonnenlicht. Ayumi und David waren sich einig gewesen: Sie konnten nicht länger warten. Selbst wenn es gefährlich war.
David schritt die quadratischen Fenstersegmente des Anbaus ab und zählte. Die dritte Scheibe von links war die einzige, die nicht mit der Alarmanlage verbunden war. Klandt zufolge gab es sogar irgendeinen komplizierten Mechanismus, mit dem man sie von außen aufhebeln konnte. Den hatte David allerdings vergessen. Weshalb er nun einen weniger komplizierten Mechanismus wählte.
Unter dem faustgroßen Stein splitterte das Fenster sofort. Scherben klirrten ins Innere des Raumes. Hastig schaute David sich um, benutzte seine Jacke, um die restlichen Scherben aus dem Fensterrahmen zu stoßen, kletterte dann auf den Fenstersims und sprang hinein.
Der Schein der Außenbeleuchtung fiel durch die Fenster hinein. Schummriges Zwielicht erhellte den vorderen Teil des Raumes. David richtete sich auf. Er musste sich nicht einmal umschauen. Im nächsten Moment schon hatte er im Dunkel hinter der Tür das entdeckt, was er suchte. Aus einer Kiste mit Altpapier ragte der Karton, in dem sie Rocky in die Schule geschmuggelt hatten. David war erleichtert. Mit einem Satz war er dort, hatte den Karton hervorgezogen, geöffnet und hineingegriffen.
Enttäuscht zog er die Hand wieder heraus. Der Karton war leer. Verdammt. Wie sollte er den Schattenhamster jetzt wiederfinden?
»Da haben Sie sich aber Zeit gelassen, Herr Gliehm.« Erschrocken fuhr David herum. In der dunklen Ecke des Raumes saß in seinem Stuhl Hausmeister Klandt und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Ich habe tatsächlich schon die letzten beiden Nächte hier gesessen und auf dich gewartet. Weil ich mir dachte, dass du für das, was du hier vergessen hast, einiges tun würdest.«
David folgte Klandts Blick, als der Hausmeister seufzend das eingeschlagene Fenster betrachtete. »Es war übrigens das vierte Fenster. Nicht das dritte. Du solltest vielleicht etwas besser aufpassen, wenn ich dir was erzähle. Hattest Glück, dass ich die Alarmanlage ausgeschaltet habe, als ich dich kommen sah.«
David suchte bereits nach einer Ausrede. Doch bevor er diese überhaupt fand, bemerkte er auf dem Schoß des Hausmeisters plötzlich den Schattenhamster. Ungläubig sah er, wie Rocky sich leise brummend rekelte und anstandslos von Klandt kraulen ließ.
»Aber … aber wie … weshalb?«
Der Hausmeister nickte. »Ja. Du hast vollkommen recht. Ich denke auch, dass wir reden müssen. Und das am besten, bevor der Wachdienst kommt.«