KAPITEL XV

IN DEM EINE WICHTIGE ERKENNTNIS BEZÜGLICH VERSCHWUNDENER DINGE EBENSO EINE ROLLE SPIELT WIE DINOBETTWÄSCHE, DIE WUT EINES WOMÖGLICH AUSERWÄHLTEN UND DER BESUCH DER KANZLERIN SPIELT

Im letzten Licht des Tages saßen sie zusammen auf der Veranda. David, Ayumi, der alte Watanabe und Menga. Der Hüne, der die beiden angehenden Nachtzähmer Krigk und R’hee ursprünglich hatte beschützen sollen, sie aber zugunsten einer Sache verraten hatte, um die man ihn dann schlussendlich betrogen hatte. Whaku, eine Insel in irgendeinem weit entfernten Meer, die er vor Touristen und Geschäftemachern hatte bewahren wollen, die nun aber ebenso in der Finsternis verschwunden war wie jene beiden, die er eigentlich hatte beschützen sollen …

Menga erzählte. Er sprach leise. Manchmal kam er ins Stocken. Zögerte. Ihm war anzumerken, dass es ihm schwerfiel. »Ihr müsst mir glauben. Ich hatte nichts Böses im Sinn. Zu keinem Zeitpunkt. Ich wollte nur meinen Stamm bewahren. Vor einer Welt, die alles in Geld verwandelt, sobald sie es entdeckt. Die Wunder, das Fremde, den Zauber. Ich wollte einfach verhindern, dass Touristenboote, Hotels und Cocktailbars unser Dorf zerstören. Dass es an unseren Stränden irgendwann mehr Müll als Muscheln gibt. Ich habe während meines Studiums die Welt und die Menschen hier draußen kennengelernt, Meister Watanabe. Und vor ihnen wollte ich meine Heimat schützen.«

»Und dafür hast du die Kinder Skadwa überlassen?«

»Was wusste ich schon über ihn? Weder über ihn noch über Euch hat der Schattenvater viel gesprochen. Für mich wart ihr nicht mehr als die drei Meister, Nachtzähmer, die das Dunkel in seiner Gesamtheit verstanden und beherrschten. Wie hätte ich ahnen sollen, dass er anders ist? Dass der Dämmerflechter einen anderen Pfad als der Schattenvater und der Nachtwahrer beschritten hat?«

»Du hast recht. Vielleicht bewahren wir einige unserer Geheimnisse zu gut. Wenn du gewusst hättest, warum wir so wenig von ihm sprechen, wärest du vermutlich nie auf den Gedanken gekommen, ihm die Kinder auszuliefern. Aber dafür ist es zu spät. Du musst damit leben, Meister Chaya und die Insel, die du schützen wolltest, verraten zu haben. Und wir können bloß hoffen, dass wir Krigk und R’hee aus den Fängen Skadwas befreien können, bevor er die beiden verdirbt.«

»Die Insel, Meister Watanabe. Ihr … Ihr habt mitbekommen, was mit ihr geschehen ist?«

»Oh ja, Menga. Und obwohl das Dunkel mir nicht fremd ist, macht es mir ebenso Angst wie dir …«

David stieß Ayumi an, beugte sich ganz nah an ihr Ohr und flüsterte: »Sie sprechen von der verschwundenen Insel, nicht wahr?«

Er erinnerte sich. Das war im Fernsehen gewesen. In den Nachrichten, die sein Vater immer schaute. Obwohl es diesmal mehr David als ihn interessiert hatte. Weil seinen Vater, wenn etwas verschwand, sein Auto grundsätzlich mehr als irgendeine Insel in irgendeinem Meer kümmerte.

Ayumi nickte. »Whaku. Aber sie ist nicht bloß verschwunden, David. Sie ist über Nacht abhandengekommen. Weil das Dunkel sie geholt hat. Wie all die anderen Dinge.«

»Aber warum?«

»Das weiß keiner. Nicht einmal mein Großvater. So etwas hat es einfach noch nicht gegeben. Noch nie.«

»Das macht mir Angst.«

»Das sollte es auch. Wobei das Schlimme daran nicht die Frage ist, was da passiert, sondern vielmehr, wer dafür verantwortlich ist.«

»Und warum er das tut.« David starrte nachdenklich in die kleine Lampe auf dem Tisch, die der alte Watanabe, weil es draußen inzwischen schon beinahe dunkel war, Menga zuliebe aufgestellt hatte. Er grübelte kurz. »Macht mir nicht weniger Angst«, murmelte er.

»Frag mich mal …«, flüsterte Ayumi. »Und ich habe im Dunkel schon einiges geschehen sehen.« Menga und der alte Watanabe starrten einen Moment lang schweigend vor sich hin.

Dann brach der Hüne die Stille und fragte mit zitternder Stimme: »Werdet Ihr mich bestrafen?«

»Du bist genug gestraft. Weil du deine Schuld ewig mit dir herumschleppen wirst. Solange die Kinder nicht wieder auftauchen und die Insel verschwunden bleibt, wirst du leiden. Im Bewusstsein, dass du dafür verantwortlich bist.«

Der riesige Mann schlug die Augen nieder. Er wusste, wie recht der Alte hatte. Denn jeden Morgen war die Schuld das Erste, was er spürte.

»Wichtiger aber ist die Frage, was wir tun können. Um sie zurückzuholen. Krigk, R’hee und die Insel. Und um dem Einhalt zu gebieten, was dort draußen vor sich geht.« Unter seinen buschigen weißen Augenbrauen hervor blickte Watanabe den Riesen ernst an. »Wir werden dich brauchen. Und dabei sollte deine Schuld uns nicht im Weg stehen.«

Der Alte reichte Menga die Hand. Unter seinem Bart war der Anflug eines Lächelns zu erkennen. Eines ernsten, aber freundlichen Lächelns, das eines Mannes, den man gern zum Verbündeten hatte, wenn es ins Ungewisse ging.

Der Hüne zögerte nicht, die Hand zu ergreifen.

Ein Bündnis zweier Männer, wie sie verschiedener vermutlich nicht sein konnten.

Und das in diesem Moment sogar die Angst von David und Ayumi ein wenig zu schmälern vermochte. Weil es Hoffnung bedeutete. Ein wenig zumindest.

Kurz darauf löste Menga seine Hand wieder aus der des Alten und nickte ihm entschieden zu. »Ich habe mir bereits ein paar Gedanken gemacht, Meister Watanabe.« Mit diesen Worten zog er ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Tasche, das er aufschlug und im Schein der Lampe vor sich ablegte. Verwundert konnten die Anwesenden eine klein geschriebene Liste von allerlei Dingen erkennen. Autos, Fernseher, technische Geräte und noch so einiges mehr. Menga sprach weiter und fuhr langsam mit dem Finger am äußeren Rand der Seite hinunter. »Das hier ist eine Auflistung all dessen, was während der letzten Tage nachts verschwunden ist.«

»Hm, das ist ja wirklich einiges.« Ayumis Großvater nickte.

»Der Wagen von meinem Vater ist da auch mit bei«, bemerkte David zustimmend.

»Nicht nur der«, meinte Menga. »Insgesamt sind mehr als 300 Autos verschwunden. Ebenfalls Hunderte Fernseher, sowie Tausende andere technische Geräte. Außerdem Schmuck, dessen Wert in die Millionen geht, Unmengen Bargeld und darüber hinaus auch noch ein paar Dutzend Ausstellungsstücke aus Museen. Wobei das nur das ist, was hierzulande weggekommen ist. Weltweit ist es vermutlich noch wesentlich mehr.«

»Aber warum? Wer braucht dieses ganze Zeug denn? Und vor allem wofür?«, fragte Ayumi und runzelte verwundert die Stirn. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wofür man ein paar Hundert Autos und den ganzen anderen Kram brauchen konnte. Wenn es am Ende nur um das Geld ging, hätte man auch gleich nur das nehmen können. Nein, sie verstand es einfach nicht. Und für den Fall, dass hinter der ganzen Sache irgendein Superschurke steckte, war er womöglich ebenso blöde wie genial.

»Genau die Frage habe ich mir auch gestellt«, murmelte Menga und zog mit dem Finger noch einmal einen Kreis um die Notizen. »Was will einer damit? Das ganze Zeug verkaufen? Etwas daraus bauen?« Er schaute von einem zum anderen und hob seinen Zeigefinger. »Was aber, wenn es gar nicht darum geht, was verschwindet, sondern um das Verschwinden an sich?« Menga machte eine kurze Pause und genoss sichtlich, wie alle, abgesehen von Ayumi, ihn verwundert anschauten. »Das Verschwinden von Dingen, die den Leuten etwas wert, die ihnen wichtig sind.«

»Und wofür das jetzt?«, war es an David nachzufragen.

»Schau dich um«, sagte Menga. »Was das zur Folge hat, was es mit den Menschen macht: Zorn und Unzufriedenheit. Und beides wächst. Wird immer mehr.«

»Oh ja. Da hast du so was von recht. Seit sein Auto weg ist, ist mein Vater noch unzufriedener als vorher. Und das will schon was heißen.«

Nun war es am alten Watanabe, sich zu wundern. Wieder einmal strich er sich durch den Bart und blickte Menga nachdenklich an: »Ich glaube auch, du könntest wirklich recht haben, Menga. Aber zu welchem Zweck sollte irgendjemand einen solchen Aufwand betreiben, um diese Gefühle hervorzurufen?«

»Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. Aber ich fürchte trotzdem, dass diese Gefühle das Motiv sind. Alles andere ergibt einfach keinen Sinn. Zumal von den verschwundenen Dingen bisher nichts, rein gar nichts wieder aufgetaucht ist. Niemand hat irgendwas davon verkauft oder es auch nur versucht. Das Ganze ist vollkommen verrückt.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht …«, murmelte der alte Watanabe und betrachtete versonnen die dicht beschriebenen Seiten.

In diesem Moment ertönte aus dem Dunkel heraus plötzlich ein leises, meckerndes, grelles Lachen, das alle außer Menga deutlich vernahmen. Nächtisches Gelächter, das dem alten Watanabe seltsam bekannt vorkam.

»Zwielichtwichtel …«, murmelte er, während er sich erhob und in den Garten trat.

Menga griff nach der Lampe und folgte ihm. Und in ihrem kleinen Lichtkegel wurde, als er die mit Steinplatten ausgelegte Veranda verließ, deutlich, was geschehen war: Zwei der schwarz lackierten Kästen, in denen der alte Watanabe die Kreaturen der ersten und zweiten Ordnung hielt, standen offen. Die Deckel lagen daneben im Gras. Ayumis Großvater blickte vorsichtig hinein. Sie waren leer. Beide. Und David war froh, dass er Rocky bei sich daheim unter dem Bett in der Turnschuhschachtel gelassen hatte …

Krigk war wütend. Wütend auf R’hee. Und auf sich selbst. Weil sie fort war und weil es ihm nicht egal war. Kaum dass er aufgewacht war, griff er nach der Glimmergeißel und ließ den Nachtkrabb seine Wut spüren. Er hätte sonst nicht gewusst, wohin damit. Immer wieder schwirrte die Glimmergeißel durch die Luft und knallte auf den Rücken der gepeinigten Kreatur. Dunkles Blut sickerte durch schwarze Federn zu Boden. Der Nachtkrabb wand sich in seinen Ketten. Sein schwarzer Schnabel zitterte. Immer wieder entfuhren ihm grelle Schmerzensschreie. Seinen Peiniger aber scherte das nicht. Krigk hoffte, dass sein Zorn abnahm, dass er sich in den Schlägen entlud. Mit jedem davon weniger wurde.

Doch es funktionierte nicht. Sosehr er auch auf das bedauernswerte Geschöpf einschlug, so laut die Geißel auch knallte. Die Wut wurde nicht weniger. Und das machte ihn noch wütender. Er schrie den Namen seiner Schwester. Und dabei brannten Tränen in seinen Augen. Aber nichts wurde besser. Längst war der Nachtkrabb unter den Schlägen zusammengebrochen, lag wimmernd und zusammengekrümmt auf dem finsteren Boden. Krigk tobte immer noch. Weil es in ihm genauso tobte. Er sah nicht die schreckensweiten dunklen Augen der Kreatur, das Leid und den Schmerz darin, er spürte nur seinen eigenen Zorn, der keinen Anfang und kein Ende hatte, der überall war und der raus wollte. Einfach nur raus. Gerade hob er die Glimmergeißel ein weiteres Mal, als ihm völlig unerwartet jemand in den Arm griff. Verwundert betrachtete Krigk die kleine schwarze Hand, die wirkte, als wäre sie aus gefrorener Dunkelheit gemacht. Sein tränenverhangener Blick folgt einem haarigen Ärmchen, an dessen Ende er über einer schmalen Schulter ein Gesicht erkannte.

»Gnista?«, fragte er tonlos und betrachtete verstört den Zwielichtwichtel, der ihn mit sichtlicher Mühe zurückhielt. Neben der kleinen Gestalt stand eine weitere, ähnlich geartete: Mörker. Der hatte einen prall gefüllten Sack über der Schulter und starrte Krigk fragend an. Gnista hatte, weil er, um Krigk Einhalt zu gebieten, beide Hände brauchte, seinen Sack neben Krigk abgestellt, und blickte ihn aus großen Augen an.

»Tu’s nicht«, flüsterte er leise auf Nächtisch.

Und während Krigk diese Worte in seinem Kopf hörte, ließ er die Glimmergeißel tatsächlich sinken. Der Nachtkrabb blinzelte dankbar zu dem Zwielichtwichtel hinüber.

»Warum sollte ich?«, fragte er trotzig. »Der Meister hat mir den Nachtkrabb überlassen. Ich kann mit ihm tun, was immer ich will. Ihn auspeitschen, wann immer mir der Sinn danach steht!«

Er wollte gerade die Geißel wieder emporreißen, als ihn Gnistas flehender Blick zögern ließ. Einen kurzen Moment lang blickten die beiden einander an. Der wütende Junge und der Zwielichtwichtel vom nördlichen Rand der Welt. Der eine in der Wirklichkeit, der andere in der Finsternis verwurzelt. Und als die Blicke nichts änderten, senkte Gnista demütig den Kopf, bot Krigk im nächsten Moment seinen Rücken dar und bat leise: »Wenn es sein muss, nimm mich an seiner statt.«

Tatsächlich hob Krigk die Geißel höher und holte damit aus. Mörker schüttelte verständnislos den Kopf. Menschen. Sie waren nicht für das Dunkel gemacht und hatten, wenn es nach ihm ging, auch nichts darin verloren. Abgesehen von seinem Meister vielleicht. Als Krigks Hand niederzuckte, schloss der Zwielichtwichtel die Augen. Er erwartete den schmerzerfüllten Aufschrei seines Freundes. Der aber blieb aus. Krigk hatte Gnista die Glimmergeißel nicht über den Rücken gezogen, er hatte sie fortgeschleudert, fiel auf die Knie und brach schluchzend zusammen. Als Mörker seine Augen wieder öffnete, wunderte er sich noch mehr als vorher: Matt schimmernd lag die Glimmergeißel ein paar Meter entfernt am Boden. Daneben hatte der wimmernde Nachtkrabb sich zusammengerollt. Und direkt vor seinen Augen hatte Gnista seine finsteren haarigen Arme um den schluchzenden Jungen geschlossen und strich ihm tröstend über den Kopf.

So etwas hatte der Zwielichtwichtel noch nie gesehen.

Und er war sich auch nicht ganz sicher, was genau es bedeutete. Klar war nur, dass der Meister es alles andere als gut finden würde, wenn er davon erfuhr.

Und erfahren würde er es. Dafür würde Mörker schon sorgen.

Damit Skadwa erkannte, wer in Wirklichkeit sein erster Diener war.

Als David zusammen mit Ayumi bei sich zu Hause ankam, saßen seine Eltern auf der Couch vor dem Fernseher. Es gab nur zwei Arten, auf die sie dort saßen: entweder zusammen in der Mitte oder jeder auf einer anderen Seite, so weit auseinander wie möglich. Wenn sie mittig saßen, legte sein Vater in der Regel irgendwann den Arm um seine Mutter und wenig später verschwanden sie dann normalerweise lachend im Schlafzimmer. Wenn sie dagegen weit auseinander saßen, schlief sein Vater am Ende meist auf der Couch. David hatte das oft genug beobachtet. Und er war alt genug, um es zu verstehen.

Dass die beiden zusammen in der Mitte gesessen hatten, war lange her. Inzwischen saß meist sogar nur noch einer von beiden auf der Couch.

Er war froh, dass er vorher angerufen und gefragt hatte, ob Ayumi heute Nacht bei ihm schlafen durfte. Und noch froher darüber, dass seine Mutter Ja gesagt hatte. So wie seine Eltern jetzt dasaßen, hätte er sich nicht mehr zu fragen getraut. Sein Vater hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete mit finsterem Blick den Bildschirm, über den gerade irgendeine Sondermeldung flimmerte, weil irgendein Staat einen anderen beschuldigte, in der Nacht geheime Unterlagen aus dem Regierungssitz geraubt zu haben. Der beschuldigte Staat hingegen verdächtigte wiederum den anderen, aus einem staatlichen Museum bedeutende Kulturgüter entwendet zu haben. Und obwohl David das nur am Rande mitbekam, fiel ihm doch auf, dass zwei Länder in einer solchen Situation etwas von Eltern hatten, die missmutig auf entgegengesetzten Seiten einer Fernsehcouch hockten.

Seine Mutter, die nebenbei mal wieder irgendein albernes Handyspiel mit bunten Klötzen spielte, die man verschieben, drehen, werfen oder schütteln musste, blickte kurz auf, als David seinen Schlüssel in die kleine Keramikschale auf der Kommode fallen ließ.

»Da seid ihr ja. Ich hab für deine Freundin oben alles fertig gemacht.«

David verzog das Gesicht. Freundin war einfach ein seltsames Wort. Weil es sowohl das eine als auch das andere bedeuten konnte. Wobei das eine eben etwas vollkommen anderes als das andere war. Und das eine ihm irgendwie unangenehmer war als das andere. Weshalb konnte er auch nicht sagen. Aber »Freundin« klang eben komisch.

Darum war er auch dankbar dafür, dass seine Mutter weitersprach und dieses unangenehme Wort nicht zu lange im Raum stand.

»Wenn ihr noch was essen wollt, ich hab euch ein paar Brote geschmiert. Stehen in der Küche.«

David beugte sich zu Ayumi hinab, hob einen Zeigefinger und flüsterte in gespielt bedeutsamem Ton: »Vegan!«

Seine Mutter wandte sich auf der Couch wieder ihrem Spiel zu. »Und dann Zähneputzen und ab ins Bett. Dass ihr morgen nicht zu spät in die Fabrik kommt.«

Das klang tatsächlich noch schlimmer als die Aussicht auf tierfreie Brotscheiben. Als ob er den Rest seines Lebens bei Erebos verbringen musste. Genau wie sein Vater. Was die Vorstellung irgendwie noch beängstigender machte.

»Kannst du jetzt mal ruhig sein, Schatz? Ich will das sehen.«

»Ist ja schon gut, Jochen. Ich wollte den beiden nur …«

»Du spielst dein Spiel, die Kinder verziehen sich nach oben, fertig. Und jetzt ist gut.«

David spürte, dass seine Mutter noch etwas sagen wollte. Aber sie kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, wohin das führte. Ärger. Von dem es schon genug gab. Aber um noch weiter auseinanderzurücken, hätten sie sich wohl scheiden lassen müssen. Also spielte sie ihr Spiel, die Kinder verzogen sich nach oben und Davids Vater konnte sehen, wie die führenden Politiker irgendwelcher Länder einander mit Krieg bedrohten.

Zwanzig Minuten später lagen David und Ayumi im Bett. Sie in seinem und er auf dem quietschenden Gästeklappding, in dem man immer aufwachte, sobald man sich umdrehte. Seine Mutter hatte die alte Dinobettwäsche aufgezogen. Im ersten Moment war ihm das peinlich. Aber dann erinnerte er sich, dass Ayumi blind war. Sonderbar. Seit er mit ihr abhing, war es so selbstverständlich geworden, dass er es inzwischen gar nicht mehr wahrnahm. Womöglich war das das ganze Geheimnis, wenn es um andersartige Dinge ging. Vielleicht musste man so lange einfach machen, bis es selbstverständlich wurde.

David drehte sich um. Das Bett quietschte.

»Bist du auch noch wach?«, fragte Ayumi leise.

»Klar. Sobald ich mich umdrehe.«

Sie kicherte. David richtete sich ein wenig auf und schaute zu ihr hinüber. Sah ihren Blindenstock, der zusammengefaltet neben Rockys Karton auf dem Nachttisch lag, und Ayumis Silhouette, die sich unter der Bettdecke abzeichnete, welche sich unter ihrem Atem sachte senkte und hob. Es war merkwürdig, wie viel er inzwischen im Dunkel erkennen konnte. Vermutlich war das der Grund, dass er keine Angst mehr davor hatte. Dass das Dunkel für ihn gar kein Dunkel mehr war. Trotz der Jalousien konnte er alles erkennen. Fast wie auf einem Schwarz-Weiß-Bild. Obwohl es natürlich eher schwarz-schwarz war. Aber eben in verschiedenen Abstufungen, die es David ermöglichten, alles voneinander zu unterscheiden.

Er konnte Ayumi erkennen, ihr Gesicht, ihr Lächeln. Und den friedlich schlummernden Schattenhamster, den sie im Arm hielt. Auch der Gedanke hatte etwas Merkwürdiges. Dieses kleine Fellknäuel, dieses herrliche Tier, von dessen Existenz er überhaupt erst erfahren hatte, als er ins Dunkel zu schauen gewagt hatte. Über seine Furcht hinaus.

Eines aber sah er im Dunkel seines Zimmers deutlicher als alles andere: Das Amulett, das Ayumi um den Hals trug. Den Talisman, der auf den ersten Blick komplett schwarz wirkte, aber aus allen Arten Dunkelheit bestand. Im Dunkel schien das Vielnachtamulett, so absurd es auch schien, förmlich zu glühen. Irgendwie hypnotisch.

Ayumi schien seinen Blick zu spüren. »Du weißt ja, dass mein Großvater für dich auch noch eines hat.«

»Was kann es denn überhaupt genau?«

»Na ja, es schützt dich vor jedem Zauber, den man mithilfe der Dunkelheit wirken kann.«

»Cool.«

»Ja. Ziemlich. Ursprünglich hat jeder Meister zwei davon für seine Schüler gehabt. Damals, als es noch mehr Nachtzähmer gab. Aber inzwischen hat sich das alles geändert.«

»Was denn alles?«

»Mädchen, zum Beispiel. Wenn es nach der Tradition geht, dürfen die gar keine Nachtzähmer werden. Aber meinem Großvater ist das egal. Er hat mir trotzdem einiges beigebracht. Und mir eines von seinen Amuletten gegeben. Schon weil es seit Jahren niemanden gab, der den nötigen Sinn für die Dunkelheit gehabt hätte.«

»Sinn?«

»Sie zu spüren. Zu ahnen, dass sie aus mehr als bloß Finsternis besteht. Wie deine Angst zum Beispiel. Die kommt nur daher, dass du dieses Gespür hast. Dass du von Anfang an insgeheim mehr über das Dunkel wusstest.«

»Na ja, eigentlich hatte ich nur Angst.«

»Mein Großvater sagt, Angst ist manchmal nur Wissen, das man noch nicht hat.«

»Der hat gut reden. Der weiß ja auch alles.«

»Tut er nicht. Das, was dort draußen im Dunkel gerade passiert, ist ihm so fremd, wie dir das Dunkel war. Eine Bedrohung, die er nicht kennt. Vor der er nicht einmal sich selbst schützen könnte.«

»Na, dann soll er sich doch auch ein Vielnachtamulett umhängen.«

»Die Meister dürfen sie nicht tragen. Die Amulette sind nur für ihre Schüler gedacht. Sie selbst müssen sich kraft ihres Wissens schützen.«

»Oh, dann ist es natürlich wirklich ein Problem.« David nickte verständnisvoll. Er legte sich wieder hin, schloss die Augen und dachte einen kurzen Moment lang schweigend nach. Dabei hörte er, wie auch Ayumi sich wieder lang machte, die Decke bis zum Kinn zog und sich an Rocky kuschelte. Bevor sie aber einschlief, flüsterte David noch leise: »Könntest du deinen Großvater mal fragen? Also, ob er wirklich noch ein Amulett für mich hat. Weil, ich glaub, ich hätt’ das schon ganz gern …«

Er hätte sich gewünscht, dass sie daraufhin zumindest gekichert hätte. Stattdessen antwortete sie leise, aber sehr ernst: »Ja, ich hätte auch gern, dass du es so schnell wie möglich bekommst. Ich frag ihn. Gleich morgen.«

Als Thorben Molchert aus der Cafeteria über den Flur zurückgeschlendert kam, verstellte ihm ein kräftiger Mann im schwarzen Anzug mit Sonnenbrille den Weg zum Vorzimmer des ministerlichen Büros. Durch das schmale Glasfenster in der Tür konnte er erkennen, wie vor der Bürotür des Ministers ein weiterer Mann stand. Typen dieser Art hatte er oft genug gesehen, um zu wissen, was die kleine Ausbuchtung unter ihren Jacketts bedeutete. Sie waren bewaffnet. Klassische Leibwächter, wie Molchert sie selbst schon für den Minister gebucht hatte. Abgesehen von der Gebäudesicherheit waren Bodyguards die einzigen Personen, die im Inneren des Ministerialgebäudes Waffen tragen durften. Zu wissen, wer sie waren, war aber nur das eine. Viel wichtiger war die Frage, weshalb sie da waren.

Doch schon ein kurzer Blick in das Gesicht des Personenschützers ließ ihn ahnen, dass der ihm nichts dazu verraten würde. Also wandte Molchert sich einer der beiden Sekretärinnen zu, die offenbar aus dem Vorzimmer hinausgeworfen worden waren und nun verstört auf dem Flur herumstanden. Bevor er ihnen aber überhaupt eine Frage stellen konnte, flog in seinem Rücken bereits die Tür auf. Einer der Leibwächter stieß ihn unsanft zur Seite und einen Augenblick später verließ der zweite, gefolgt von einer dritten Person, das Vorzimmer. Letztere reihte sich zwischen den beiden Bodyguards ein und bewegte sich entschiedenen Schrittes über den Flur Richtung Ausgang.

Ungläubig starrte Thorben Molchert der kleinen Gruppe hinterher. »Aber … aber das war doch …«

»Oh ja«, murmelte eine der beiden Sekretärinnen, die beinahe ebenso fassungslos wirkte wie er selbst.

»Ganz genau. Das war sie«, bestätigte die andere, die sich inzwischen scheinbar ein wenig beruhigt hatte, aber trotzdem noch immer mit ihnen den Flur hinunterschaute.

Molchert schluckte. Er atmete einige Male tief durch. Kaum dass er sich gefangen hatte, eilte er, die beiden Frauen auf dem Flur zurücklassend, mit großen Schritten durch das Vorzimmer in das offene Büro des Ministers.

Seinen Vorgesetzten fand er, das Gesicht in die Hände gestützt, zusammengesunken am Schreibtisch. Vor ihm lag eine Reihe Dokumente, allesamt in der oberen Ecke mit dem Vermerk streng geheim gekennzeichnet. Molchert brauchte kein zweites Mal hinschauen. Er wusste, worum es sich handelte. Über Listen wie diesen hatte er in den vergangenen Tagen viele Stunden gesessen und sich den Kopf zermartert. Die Anzahl der verschwundenen Dinge war für sich genommen schon unglaublich. Ihr Wert, wenn man ihn zusammenrechnete, lag jenseits dessen, was man sich vorstellen wollte. Aber die Tatsache, dass sie noch immer kein System darin entdeckt hatten, war das wirklich Unfassbare. Und nachts verschwand mit jeder Stunde mehr.

Beunruhigt trat Molchert näher an den Minister heran, der so in Gedanken verloren schien, dass er ihn bis jetzt offenbar nicht bemerkt hatte. »Verzeihen Sie, Herr Minister, ist … ist alles in Ordnung?«

Wie in Zeitlupe hob sein Vorgesetzter den Blick. Er wirkte müde. Die Ringe unter seinen Augen schienen tiefer und dunkler geworden, seit Molchert ihn das letzte Mal gesehen hatte. Und die Augen selbst wirkten seltsam glasig. Der Minister versuchte zu lächeln. Aber es gelang ihm nicht.

»Was soll ich sagen, Molchert? Sie haben sie ja sicher gesehen. Gerade war die Kanzlerin hier. Und sie hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, was sie erwartet.«

»Dass wir die Situation in den Griff bekommen?«

»Ganz genau. Und das schnellstmöglich.«

»Und wenn uns das nicht gelingt?«

»Wird bald jemand anderes an diesem Schreibtisch sitzen.«

Thorben Molchert verstand. Wenn der Minister seinen Hut nehmen musste, würden mit großer Wahrscheinlichkeit auch seine engsten Mitarbeiter gehen müssen. Schon weil ein neuer Minister mit Sicherheit seine eigenen Leute mitbringen würde. Ein Gedanke, der Molchert gar nicht gefiel. Er hatte zu lange für diese Position gearbeitet, um jetzt noch einmal von vorne anzufangen.

»Gut. Dann werden wir also handeln müssen.«

»Handeln?« Der Minister schaute ihn verwundert an. »Und was sollen wir tun? Ich weiß nicht, ob Sie wirklich verstehen, Molchert. Die Sache mit diesen verschwundenen Dingen ist kein kleines Problem mehr!«

»Natürlich, Herr Minister. Ich verstehe.«

»Ich fürchte, das tun Sie nicht. Die Kanzlerin hat mir die Angelegenheit sehr genau erklärt: Einmal ganz abgesehen von dem, was im Rest der Welt passiert, welcher Staat welchen anderen bedroht und wem was wie auch immer abhandenkommt, bin zunächst einmal ich es, der hier, in unserem Land, für die Sicherheit zuständig ist. Plötzlich verschwinden einfach Dinge. Und niemand kann etwas dagegen tun. Dann verschwinden noch mehr Dinge. Größere Dinge. Wertvollere Dinge. Und die Menschen verlieren ihr Vertrauen in uns. In die Politik, die Polizei, den Staat. In die Sicherheit. In mich. Verstehen Sie, was das bedeutet? Und darum dürfen einfach keine Dinge mehr verschwinden. Zumindest nicht bei uns …«

Sein Gegenüber blickte Molchert ernst an. Doch stärker als der Ernst war die Müdigkeit.

»Und wie sollen wir das Ihrer Meinung nach bewerkstelligen, Herr Minister?«

»Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.« In seinen Worten schwang Resignation mit. Für einen kurzen Moment wirkte der Mann beinahe verzweifelt. Die Befürchtung, dass dies, ohne dass er dagegen auch nur irgendetwas unternehmen konnte, das Ende seiner politischen Laufbahn war und er seinen Posten bald würde räumen müssen.

Seufzend stemmte sich der Minister aus dem gepolsterten Schreibtischstuhl und tapste mit hängenden Schultern an Molchert vorbei bis an das Bücherregal und murmelte, wie zu sich selbst: »Wir haben kein Motiv, keine Verdächtigen, wir wissen ja nicht einmal, wie die Dinge überhaupt abhandenkommen!« Einen Moment später wusste Molchert dann endlich, wo der gute Whisky stand. Es war tatsächlich hinter Goethes Gesamtausgabe. Träge entkorkte der Minister die Flasche, nahm zwei Gläser und füllte sie langsam. Kurz darauf reichte er seinem Assistenten eines davon und prostete ihm müde zu. »Tatsächlich wissen wir nichts, Molchert. Rein gar nichts.«

Sie tranken. Doch während der Minister sein Elend offenbar trübsinnig nippend mit kleinen Schlucken ertränken wollte, kippte sein persönlicher Assistent den teuren Whisky in einem Zug herunter und funkelte seinen Vorgesetzten verwegen an.

»Das ist so nicht ganz richtig, Herr Minister.«

Der Angesprochene hörte auf, in sein Glas zu starren und hob verwirrt den Kopf. Molcherts tatendurstiger Blick irritierte ihn sichtlich.

»Wie? Was? Ich verstehe nicht …«

»Da ist eine Sache, die wir mit Sicherheit wissen. Und glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Weil ich mich tagelang mit diesen Akten beschäftigt habe.« Molchert wies auf die Papiere auf dem Schreibtisch, und während er das tat, schien die müde Verzweiflung aus seinem Vorgesetzten tatsächlich ein wenig zu schwinden. »All diese Dinge verschwinden nur bei Dunkelheit.«

Stirnrunzelnd ließ der Minister sein Glas sinken.

Molchert versuchte es näher zu erklären. »Der größte Teil der verschwundenen Gegenstände ist in einem unbeobachteten Moment und in völliger, oder zumindest vorübergehender Finsternis verschwunden.«

»Natürlich. Weil Diebe und Einbrecher vor allem nachts zu Werke gehen, und …«

»Eben nicht! In den wenigsten Fällen ist überhaupt jemand am Tatort gesehen worden. Kameras haben nichts aufgezeichnet und es sind keine Spuren zurückgeblieben. Zumindest beinahe. Wobei wir bei den wenigen Fällen, in denen es anders war, davon ausgehen, dass sie nicht mit dem Phänomen zusammenhängen.«

»Dem … Phänomen?«

»Ich fürchte, Herr Minister, so müssen wir es wohl nennen. Was vor allem daran liegt, dass wir es nicht verstehen können. Aber ich kann Ihnen zumindest mit Gewissheit sagen, dass das, was geschieht, maßgeblich mit der Dunkelheit zusammenhängt.«

Kopfschüttelnd lachte der Minister zynisch auf, setzte sein Glas wieder an und nippte missmutig an seinem Whisky. »Tss, als ob ein solches Wissen uns jetzt noch helfen könnte.«

»Oh doch, das kann es, Herr Minister. Das kann es.« Mit diesen Worten griff Molchert an seinem Gegenüber vorbei nach der Flasche, schenkte sich selbst nach und leerte, bevor er weitersprach, auch dieses Glas mit einem einzigen Schluck. »Weil es nämlich jemanden gibt, der uns dabei behilflich sein kann, der Dunkelheit entgegenzuwirken. Eine Firma, die genau das schon Nacht für Nacht tut und die sogar bereit ist, zu günstigen Konditionen mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Um einerseits die Dunkelheit zu bekämpfen und somit zu verhindern, dass in ihr etwas verschwindet? Das könnte, wenn Sie recht haben, Molchert, tatsächlich funktionieren! Und wenn es das tut, dann ist für sie ganz ohne Zweifel eine Gehaltserhöhung fällig!« Nun leerte auch der Minister sein Glas und schenkte noch einmal nach. »Aber sagen Sie, was für eine Firma ist es denn, die uns da so bereitwillig unter die Arme greifen will?«

»Es handelt sich um ein Unternehmen mit Sitz in der Nähe von Düsseldorf, Herr Minister: Erebos Industries.«