IN DEM DER GRAF EINEN ANRUF ERHÄLT, GESCHWISTER GETRENNTE WEGE GEHEN, DIE NACHT SICH MIT FEUER MISCHT UND AM ENDE FAST ALLES DUNKEL IST
Die Praktikanten standen in einem langen Gang hinter einer Glasscheibe und blickten von dort aus auf die etwas tiefer gelegene Glühlampenfertigungsstrecke. An einem beinahe unendlich wirkenden Fließband mit vier verschiedenen Ebenen, standen Hunderte Fabrikmitarbeiter, die, in ihren weißen Overalls und mit dem Erebos-Logo auf der Brusttasche, ihrer Tätigkeit nachgingen. Minutiös. Exakt koordiniert. Ähnlich wie die Roboterarme, die in gewissen Abständen zwischen ihnen standen, um die menschliche Arbeit zu optimieren. Nach und nach formten sich auf den einzelnen Ebenen Stück für Stück verschiedene Glühlampen. Immer wieder nahmen die einzelnen Elemente auf den jeweiligen Fließbändern kleine Umwege durch vereinzelte Maschinen, verschwanden darin, um leicht verändert auf der anderen Seite wieder herauszukommen, kurz von einem Mitarbeiter begutachtet und dann auf den Weg zur nächsten Maschine gebracht zu werden. Abgesehen von den Overalls trugen die Arbeiter zum Schutz der sensiblen technischen Elemente ausnahmslos weiße Haarnetze, sodass sie, von Kopf bis Fuß komplett in Weiß gekleidet, aus dem oberen Gang betrachtet, wie farblose Schemen, beinahe wie Gespenster wirkten. Wenn man ihre präzisen Arbeitsabläufe bedachte, sogar beinahe wie …
»Robotergespenster!«, flüsterte David Ayumi zu und beugte sich dafür etwas näher zu ihr, als es eigentlich nötig war. Sie schauderte, schüttelte sich und kicherte leise. David mochte es, wenn sie das tat. Aber irgendwie fand er beinahe alles, was sie tat, großartig. Er hatte ihr genau beschrieben, was dort unten vor sich ging, die Arbeiter, die Maschinen und die unentwegt in Bewegung befindlichen Roboterarme. Jetzt betrachtete er versonnen eine schwarze Strähne ihres Haares, die sich unter dem Haarnetz hervorgestohlen hatte und vor ihrer dunklen Brille baumelte. David holte tief Luft und sog den Duft ihres Haares ein.
Dann blickte er den Gang hinunter, sah die knapp hundert Schüler, die ihre Nasen an die Fenster drückten und das Fließband beobachteten. Auch sie trugen im Inneren der Fabrik, Haarnetze und Overalls, und wirkten, etwas kleiner und etwas ungelenker als die Arbeiter vor Ort, beinahe wie eine neue Generation Robotergespenster, die bloß noch ein wenig lernen musste, bevor auch sie den Rest ihres Lebens hier verbrachte.
Inmitten der belanglosen Kaufhausmusik, die aus den Lautsprechern im Gang dudelte, ertönte eine wohlklingende Frauenstimme, die die einzelnen Fabrikationsschritte der Fertigungsstraße beschrieb. Indem sie aufzählte, wie viele davon es schlussendlich brauchte, damit am Ende eine Erebos 3000, die Krone der Leuchtmittelinnovation, vom Band lief, versuchte sie die Fertigung interessant zu machen. Aber für David blieb es Glühbirnenschrauben. Er hatte zwischen den bleichen Geistern am Band seinen Vater ausfindig zu machen versucht. Vergebens. Sie wirkten alle zu gleich.
Die Frauenstimme ging, während das Gedüdel im Hintergrund noch belangloser zu werden schien, dazu über, die außerordentliche Leuchtkraft, Haltbarkeit und Qualität der Erebos-Glühlampentechnologie gegenüber der herkömmlichen Leuchtentechnik und die Marktführerrolle der Firma hervorzuheben.
Ayumi stöhnte leise auf. »Boah. Das Gelaber nervt. Einer dieser Momente, in denen ich ernsthaft lieber taub als blind wär.« David klappte die Kinnlade runter, was Ayumi sogar zu merken schien. »Na, ist doch wahr. Als ob es nicht schon langweilig genug wäre, sein Praktikum in diesem sterilen Langweilerbunker verbringen zu müssen, nein, da zerdüdeln und zerbrabbeln sie dir auch noch das letzte bisschen Motivation.«
»Ayumi, wie bist du denn heute drauf?«, fragte David ungläubig.
»Na, ist doch aber so. Das sind alles irgendwelche weichgespülte Werbetexte. Frag mal deinen Vater. Ich wette, der sagt was ganz anderes über diesen Laden.«
»Na, da kannste mal von ausgehen!«
»Siehste. Aber wenn die hier von Überstunden und schlechter Bezahlung erzählen würden, wäre das vermutlich nicht so praktikumsförderlich.«
Ayumi hatte sich in Rage geredet und die letzten Worte sehr laut ausgesprochen. Einige Nachwuchsgespenster wandten sich ihnen verwundert zu. Ein paar weitere legten den Finger an die Lippen und machten: »Pssst!«
Als die Unruhe bemerkt wurde, kamen von der anderen Seite des Ganges plötzlich zwei Gestalten auf David und Ayumi zugeeilt. Eine davon war offensichtlich ein höherrangiges Gespenst. Die andere war niemand Geringeres als der Chef selbst, Jan Graf Erebos, dessen weißer Stock über den glänzenden Boden klackerte.
»Na ihr zwei, was ist denn hier los, hm? Waren die Audioaufnahmen zu kompliziert? Habt ihr etwas nicht verstanden?«, fragte das Gespenst und blickte die beiden fragend an.
Bevor Ayumi überhaupt antworten konnte, hatte der Graf sich bereits zu ihr herabgebeugt. Sie spürte seinen warmen Atem. Er roch seltsam. Und dann hörte sie seine meckernde Stimme: »Das ist aber ein interessantes Amulett, das du da trägst. Hat es womöglich gar eine bestimmte Bedeutung?« Er streckte seine Finger nach ihrem Talisman aus, der gut sichtbar auf dem Stoff ihrer schwarzen Bluse lag. Kaum, dass er ihn an seinem Band berührte, griff sie danach und stopfte sich das Amulett hastig unter den Kragen.
»Es ist etwas Persönliches. Ein Familienerbstück«, entgegnete sie knapp. Jetzt aber hatte ihre Stimme nichts Freches oder Kraftvolles mehr.
Auf seinen Stock gestützt, erhob der Graf sich wieder. Dabei hatte sein Gesichtsausdruck etwas Unheimliches. David hätte allerdings nicht genau sagen können, was es war, doch als er jetzt durch die dunkle Brille hindurch die Augen des Grafen mehr erahnen als sehen konnte, schauderte es ihn.
Erebos ließ seinen Stock auf den Boden sausen, umklammerte seinen Knauf und fuhr sich nachdenklich über das Kinn. Dann wandte er sich noch einmal Ayumi zu. »Du bist dann also das blinde Mädchen. Ich habe schon einiges über dich gehört, junges Fräulein …«
Ayumi schluckte. Und auch David spürte, dass unter diesen Worten etwas mitschwang, das alles andere als freundlich war.
Der Graf hob die Mundwinkel. Aber es war ein kaltes, gefühlloses Lächeln. Er wollte gerade noch etwas sagen, als in der Innentasche seines weißen Jacketts plötzlich ein Mobiltelefon klingelte.
In einer einzigen fließenden Bewegung zog der Graf das Telefon aus der Tasche, drehte sich von den Kindern weg und nahm den Anruf an. »Herr Minister! Einen wunderschönen guten Morgen. Das ist ja eine Überraschung, dass Sie mich sogar persönlich kontaktieren.«
Der Graf schlenderte, im lockeren Plauderton telefonierend, von seinem Mitarbeiter verfolgt, an den anderen Schülern vorbei, zurück den Gang hinunter.
David raunte Ayumi zu: »Du, lass uns gehen.«
»Meinst du wirklich?«
»Na klar. Mir ist plötzlich total schlecht. Dir nicht?«
»Jetzt, wo du’s sagst. Schon so ’n bisschen.«
»Meine Mutter schreibt mir, wenn ich laut genug quengele, wahrscheinlich ’ne Entschuldigung. Und dein Großvater dir doch sicher auch.«
»Boah, ist mir schlecht.«
»Na siehste!« David nickte ihr zu, beide zogen sich die Haarnetze vom Kopf und trotteten, während sie sich jammernd die Bäuche hielten, auf ihre Lehrerin zu.
Gnista stand vor dem noch immer am Boden knienden Krigk, hielt ihn im Arm und redete beruhigend auf ihn ein. So hatten beide beinahe die gleiche Größe.
»Verstehst du? Du darfst den Nachtkrabb nicht töten!«
Mit einem eigentümlichen Rest von Trotz entgegnete der Junge: »Aber … aber der Meister hat gesagt, ich kann mit ihm tun und lassen, was ich will! Und er hat mir die Glimmergeißel gegeben. Sein Leben gehört mir!«
»Ganz genau. Und darum solltest du dir auch genau überlegen, was du tust und was hier eigentlich passiert.«
»Was meinst du?«
»Ist es dir denn noch nicht aufgefallen? Was der Meister dir antut?«
»Er lehrt mich die Geheimnisse der Dunkelheit.«
»Tss. Die Geheimnisse der Dunkelheit. Finsterfanz! Nichts lehrt er dich. Außer Zorn und Unzufriedenheit. Indem er dir erzählt, dass deine Schwester besser ist als du. Alles, was er tut, ist dich vertrösten. Und ignorieren.«
Krigk blickte Gnista verstört an. Die Tränen der Wut auf seinen Wangen waren längst getrocknet. An seinem Zorn vorbei sickerten die Worte des Zwielichtwichtels in sein Gemüt. Erreichten ihn. Lösten etwas aus. Krigk grübelte, versuchte sich zu erinnern. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr fragte er sich, ob der finstere Gnom womöglich recht haben könnte. Dabei fühlte es sich sonderbar an, dass es ein Stück Nacht war, dass ihm inmitten der Dunkelheit die Augen öffnete.
Aber tatsächlich: Seit er und R’hee im Nachtpalast angekommen waren, seit Menga ihnen ihre Schutzamulette weggenommen und sie hergeschickt hatte, hatte der Dämmerflechter alles getan, um Krigk ein schlechtes Gefühl zu bereiten. Wie schillernd schwarze Schuppen fiel es ihm von den Augen. Und plötzlich begann er im Dunkel klar zu sehen. Nur verstehen tat er es noch nicht. Und es machte ihn fassungslos.
»Aber … aber weshalb?«, fragte Krigk kaum hörbar.
»Weil er weiß, wie weh er dir damit tut. Dass es dich wütend macht. Und genau das ist es, was er will.«
»Nein, er wollte einen Schüler. Einen Nachfolger, den er ausbilden und dem er sein Wissen vermachen konnte.«
»Nein, Krigk. Das wollte er nie. Nur deinen Unmut, deine Unzufriedenheit und deinen Zorn. Um das zu bekommen, hat er alles getan. Sogar deine Schwester gegen dich ausgespielt …«
»R’hee …«
»Sie ist das vielleicht Wertvollste, was du hast. Und auch das wollte er dir nehmen. Damit du nur noch aus Wut, Angst und Unsicherheit bestehst.«
Wie betäubt blickte Krigk sich um und starrte apathisch in Richtung des Zimmers, in dem er und seine Schwester geschlafen hatten.
»Ich fürchte, es ist ihm gelungen. Sie ist fort. Und ich habe sie gehen lassen.«
»Das ist nicht gut. Gar nicht gut.« Nun war es Gnista, der nachdachte. Grübelnd kaute er mit finsteren Zähnen auf seiner schwarzen Unterlippe. »Aber vergiss nicht, all das ist nicht seine Schuld.«
Der Gnom wies auf den Nachtkrabb, der neben ihnen am Boden seiner zahlreichen Wunden zum Trotz inzwischen eingeschlafen war und in seinen Ketten aus Dunkelheit ruhig atmete.
»Weshalb will Skadwa, dass ich den Nachtkrabb töte?« Krigk benutzte den Namen des Dämmerflechters bewusst. Es widerstrebte ihm plötzlich, ihn weiterhin Meister zu nennen.
»Damit du leidest. Und dann bekommt er noch mehr schlechte Gefühle von dir. Weil sie dich dann verfolgen, dich jagen würden.«
»Wer?«
»Jeder Nachtkrabb, der im Dunkel lauert. Weil sie alle miteinander verbunden sind. Das ist es, was sie besonders macht. Mit jedem Hieb der Glimmergeißel hast du jedem einzelnen Nachtkrabb dort draußen Schmerzen zugefügt. Sie hassen dich. Und wenn dieser hier stirbt, werden sie kommen. Um dich leiden zu lassen.«
»Und der Dämmerflechter weiß das?«
»Es ist Teil seines Planes. Denn dann wird zu all deinen anderen Gefühlen auch noch die Angst kommen …«
»Aber … warum?«
»Um damit den Dämmermahr zu füttern. Lass es mich dir erklären: die Dunkelheit, in der wir uns befinden, ist anders als jene sieben Arten, von denen du gehört hast. Diese Art ist …«
»Nichts, worüber du dem Jungen mehr erzählen wirst, du garstige kleine Schattenwanze!«, tönte plötzlich laut die Stimme des Dämmerflechters durch die sie umgebende Finsternis.
Da stand er, ragte hoch über ihnen in die Finsternis. Eine Säule vollkommener Schwärze umgeben von Dunkelheit. Hinter Skadwa blinzelte Mörker scheu hervor. Und Gnista begriff. Sein Artgenosse, aus der gleichen Nacht wie er gemacht, hatte ihn verraten.
Skadwas Augen leuchteten schwarz auf. Gnista fuhr zusammen und tat zitternd einen Schritt zurück. Dabei glaubte der Junge, die Furcht des Zwielichtwichtels förmlich spüren zu können.
Der Dämmerflechter hob seine Mundwinkel zu einem dunklen Lächeln, als er sich nun wie in Zeitlupe bückte und nach der Glimmergeißel griff. Dann wandte er sich wieder dem knienden Krigk zu.
»Und du, mein Junge, bekommst nun deine Chance, ein Nachtzähmer zu werden.« Mit diesen Worten reichte er ihm mit dem Griff voran die Glimmergeißel. »Ich werde dir alles beibringen, was es braucht. Das Nachtwahren, das Dämmerflechten und das andere auch. Wenn du Gnista, diesen garstigen Gnom, in seine Grenzen weist. Mit der Geißel. Bis er schreit. Und es nie wieder wagt, seine freche Zunge im Dunkel zappeln zu lassen.«
Krigk blickte von einem zum anderen. Betrachtete kurz den ängstlich bebenden Zwielichtwichtel, der wie gelähmt hinter seinem Rücken stand, dann Skadwa, den Dämmerflechter, der ihm auffordernd die Glimmergeißel entgegenreckte. Zögernd streckte er die Hand danach aus.
Skadwas Lächeln wurde breiter. »Ja. Nimm sie. Zeig’s ihm. Zeig ihm, wer der Meister ist. Wenn du ihn am Leben lässt, kannst du ihn behalten. Er wird dein Diener sein. Tun, was du ihm sagst. Wann immer du es willst. Es sind nur ein paar Hiebe, die dich von dem trennen, was du immer sein wolltest. Ein Nachtzähmer. Und ich werde dich dazu machen. Wenn du nur tust, was ich sage …«
Der Dämmerflechter streckte den Arm etwas weiter aus. Legte dem Jungen die Geißel beinahe in die Hand.
Krigks Hand begann zu zittern. Er dachte an Gnistas Worte. An R’hee. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und von einem Moment auf den anderen begann er zu zweifeln. Tränen stiegen in ihm auf. In seinem Mund machte sich ein bitterer Geschmack breit. Seine Augen brannten.
Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Nichts tat sich. Nichts bewegte sich. Als wären sie alle, Gnista, Mörker, Skadwa und Krigk selbst einen Augenblick lang in der Finsternis festgefroren.
Dann ließ R’hees Bruder seine Hand kraftlos sinken.
Höhnisch lachte der Dämmerflechter auf und zog die Geißel zurück. »Ha! Ich wusste, dass du es nicht kannst. Weil du selbst dafür nicht taugst. Weil du ein Feigling bist. Und nie ein Nachtzähmer werden wirst! Egal, was du tust. Weil du jämmerlich bist! Und nicht halb so viel wert wie deine Schwester!« Er fasste die Geißel fester, holte aus und stieß Krigk beiseite.
Mörker, der hinter ihm stand und zusehen musste, hob die Hände vors Gesicht.
Gnista aber blieb ganz ruhig. Einen Moment lang blickte er seinem Meister reglos in die Augen. Dann wandte er langsam seinen Kopf und flüsterte Krigk leise zu: »Glaube ihm nicht. Nie. Nichts.«
Da schlug Skadwa zu. Die sechs Schnüre schwirrten durch die Luft. Der Blitz in ihrem Inneren sirrte. Es knallte. Einmal. Und noch einmal. Gnista jaulte auf und brach wimmernd zusammen. Mörker wandte sich ab. Krigk schloss die Augen. Tränen rannen über seine Wangen. Und der Dämmerflechter schlug zu. Wieder und wieder. Bis er schließlich zu einem mächtigen wütenden Hieb ausholte, die Geißel ein letztes Mal auf Gnistas gepeinigten Körper niedersauste und der Gnom in zahllose Stücke Finsternis, in Tausende tiefschwarze Splitter zersprang, die klirrend zu Boden fielen.
Seite an Seite betraten David und Ayumi die Schule.
Frau Drescher hatte gesagt, dass sie sich im Sekretariat melden und sich dort ein bestimmtes Formular ausfüllen lassen sollten. Sie war ein wenig sauer gewesen. Wahrscheinlich, weil sie den Grafen hatte beeindrucken wollen. Was mit ungehorsamen Schülern natürlich nicht so gut ging. Vielleicht rechnete sie sich ja Chancen bei ihm aus. Schließlich war er alleinstehend. Und erfolgreich. Wobei David sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand ernsthaft irgendein Interesse an Frau Drescher haben konnte. Einfach, weil sie so … so lehrerig war. Durch und durch. Und eben Frau Drescher. Die in seiner Vorstellung eigentlich nur vor Schülern stehend existierte. Als ob man sie morgens aus einer Kiste nahm, aufzog, vor die Klasse stellte und danach wieder zurück in die Kiste steckte.
Um sich für eine Frau wie sie zu interessieren, müsste man also bereit sein, den Rest seines Lebens in einer Kiste zu verbringen. Wofür der Graf ganz sicher nicht der Typ war.
David stutzte verwundert. Er hatte eigentlich noch nie darüber nachgedacht, wer zu wem passte. Außer bei seinen Eltern. Die es irgendwie nicht richtig taten. Vielleicht lag es an Ayumi, dass er sich nun solche Gedanken machte. Weil er lange nicht mehr mit jemandem so viel zu tun gehabt und so viel erlebt hatte.
Es war eine seltsame Zeit. Mit all dem, was gerade in der Welt passierte. Den Dingen, die sich veränderten, und den zahllosen Geheimnissen, die sich ihm jenseits des Lichtes offenbart hatten. Er spürte, dass er wuchs. Und Ayumi war dabei an seiner Seite. Mit ihrer großen Brille und ihren hübschen Lippen …
Sie traten gerade aus dem Sekretariat, wo sie irgendeinen Stempel und eine Unterschrift bekommen hatten, als ihnen auf dem Flur der Hausmeister entgegenkam.
»David, Ayumi! Ich dachte, ihr wärt drüben in der Fabrik?«
»Ist ’ne lange Geschichte. Nervt. Ich denk, ich werd wohl doch kein Glühbirnenschrauber, Herr Klandt.«
»Na, das hatte ich mir fast schon gedacht. Aber wir waren beim Du, mein junger Freund. Nicht vergessen.«
»Ach ja. ’tschuldigung. Hoffe, das mit dem Fenster gab nicht noch Ärger.«
»Längst repariert. Kein Problem. Aber gut, dass ich euch treffe. Ich glaub nämlich, dass es schlimmer wird.«
»Was jetzt genau?«
»Was im Dunkel vor sich geht. Die Dinge, die verschwinden, das, was mit den Leuten passiert. All dieses seltsame Zeug …«
Ayumi stieß David an. Und er wusste genau, was sie meinte. In diesem Moment erinnerten sie beide sich an das Gespräch mit Menga und ihrem Großvater. Der Hausmeister wusste wahrscheinlich gar nicht, wie recht er mit seiner Vermutung hatte.
Klandt sprach weiter: »Gestern zum Beispiel. Als ich die Werkstatt verließ, stand mein guter Werkzeugkasten auf dem Tisch. Ich hab das Licht ausgemacht, bin raus, hatte aber noch etwas vergessen. Keine halbe Minute später bin ich umgekehrt, mache das Licht wieder an und er ist verschwunden. Und das aus einem geschlossenen Raum! Ihr könnt sagen, was ihr wollt, im Dunkel geht etwas vor sich. Etwas, das alles andere als gut ist.«
Der Hausmeister war ein wenig aufgeregt. Ayumi legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Ich glaube, wir werden Ihnen jemanden vorstellen müssen. Sobald es geht.«
»Deinen Großvater, hm? Der das Dunkel verstanden hat, nicht wahr?«
»Aber so was von.«
Sie mussten sie wirklich zusammenbringen. Klandt, Menga und den alten Watanabe.
Klandt lächelte gezwungen. »Na, dann werde ich heute wohl einfach mal früher Schluss machen. Ich denke, wir sollten nicht länger warten als nötig. Was immer es ist, es wird nicht besser.« Er nickte den beiden ernst zu. »Aber bevor wir gehen, will ich euch unbedingt noch etwas zeigen. Los, kommt mit, ihr zwei!« Er gab den beiden einen Wink und ging voraus.
David und Ayumi folgten, ohne zu zögern. Aus dem Flur, durch die Eingangshalle, vorüber an den Stundenplänen und an Klandts Arbeitsraum in Richtung Keller. Es war Unterrichtszeit, sodass die drei auf ihrem Weg kaum jemandem begegneten.
Während sie das Gebäude durchquerten, flüsterten sie leise miteinander.
»David hat dir sicher erzählt, dass ich auch einen Weg ins Dunkel gefunden habe, nicht wahr?«, wandte Klandt sich an Ayumi.
»Oh ja. Und ich habe gestaunt. Ich hatte immer gedacht, dass es einen Meister braucht, einen Nachtzähmer, der einem die Geheimnisse der Dunkelheit offenbart.«
»Dann war ich wohl so was wie mein eigener Meister.« Der Hausmeister lachte leise. »Hier lang. Kommt.« Er schloss die schwere Brandschutztür zum Keller auf und winkte sie hinein. Gemeinsam stiegen sie im brummenden Licht der Neonröhren die Stufen hinab.
»Ich denke, ich habe meinen eigenen Weg gewählt. Weil ich Angst hatte und sie aber nicht haben wollte. Darum habe ich mich der Dunkelheit langsam angenähert. Gelernt, was ich ihr entgegensetzen konnte.«
»Entgegensetzen?«
»Na ja, ich hab recht schnell begriffen, dass im Dunkel Kreaturen hausen, die sich nicht kontrollieren lassen. Die gefährlich sind. Ich habe in der Finsternis schreckliche Dinge gesehen. Schnäbel, Krallen und klaffende Mäuler mit finsteren Zähnen.«
David schluckte. Das klang keinesfalls nach einem Zwergalb oder einem Nachtschwatz. Aber er hatte schon geahnt, dass da im Dunkel noch einiges mehr auf ihn wartete. Und dass er vermutlich noch nicht so weit war.
Im gleichen Moment kamen sie am Fuß der Treppe an, wo der Hausmeister sich einer verschlossenen Tür zuwandte, an der er sich sogleich mit seinem riesigen Schlüsselbund zu schaffen machte. Als Erstes öffnete er ein Vorhängeschloss und löste eine schwere Kette. Dann kümmerte er sich um das Türschloss.
»Und weil dort, auf der anderen Seite der Nacht all diese fürchterlichen Geschöpfe lauerten, musste ich etwas finden, um ihnen auch Angst zu machen …«
Leise quietschend schwang die Tür auf und eröffnete einen im dunklen liegenden Raum mittlerer Größe. Klandt betätigte einen Lichtschalter. Neonröhren flammten auf, in deren Schein David nun im Gegensatz zu Ayumi Regale voller schwarzer Einmachgläser erkannte.
»Was zum Dämmerdrummel ist denn das?«, fragte Ayumi, die offensichtlich irgendetwas in dem Raum wahrnahm.
»Reine unverfälschte Dunkelheit, Ayumi. Die ich im Lauf der Jahre destilliert und aus der Nacht herausgefiltert habe.«
»Aber, aber wie hast du das denn geschafft?«, wollte David wissen, betrachtete staunend den komplett schwarz wirkenden Inhalt des Glases und war froh, dass er den Hausmeister zumindest mal geduzt hatte.
»Indem ich mich all die Jahre intensiv mit ihr auseinandergesetzt habe. Ich habe die Nacht verstehen gelernt und nach zahllosen Versuchen schließlich ihre Essenz extrahiert. Wobei ich irgendwann selbst gemerkt habe, dass es mehr als eine Art Nacht gibt.«
Inzwischen war auch Ayumi an eines der Regale herangetreten und fuhr mit der Hand über die Gläser. »Oh ja. Das ist Dunkelheit. In kleinen Portionen. Sonderbar. Aber spannend. Sehr spannend.«
»Und was tust du mit dieser Finsternis in Gläsern?«, wollte David wissen.
»Ich mische sie. Mit Feuer …«
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da wandte der Hausmeister sich einem hinter der Tür befindlichen Schrank zu, schloss ihn auf und entnahm ihm einen Flammenwerfer.
»Wow!«, entfuhr es David.
»Was denn, was denn?«, fragte Ayumi neugierig.
»Er hat gerade einen Flammenwerfer rausgeholt. So ein richtig krasses Ding. Fast wie aus einem Actionfilm …«
Klandt hatte das Gerät offenbar ein wenig modifiziert. Auf der Oberseite des auf den Rücken schnallbaren Tanks für das Benzingemisch befand sich eine Schraubvorrichtung, die in etwa die Größe eines Einmachglasverschlusses hatte. David pfiff durch die Zähne.
»Ich mische Benzin mit Nacht«, sagte Klandt und klang dabei hörbar stolz. »Davor haben sie Angst. Besonders die großen Kreaturen. Weil es sie nicht bloß vertreibt, sondern auch verletzen kann.«
»Aber du weißt schon, dass sie nicht böse sind, oder? Die Geschöpfe im Dunkel. Sie leben nur dort und wollen niemandem schaden …«, murmelte Ayumi und wirkte mit ihrem erhobenen Kopf beinahe, als ob sie den Hausmeister anschaute.
»Das hab ich irgendwann auch begriffen. Es hat einige Zeit gebraucht. Aber ich wollte mich vor allem im Ernstfall verteidigen können. Und vielleicht habe ich auch geahnt, dass irgendwann mal etwas passiert. Dass das Dunkel einmal zur Bedrohung wird.«
»Wie kommt man denn auf so was? Ich meine, wer mischt denn Benzin mit Dunkelheit? Also eigentlich, wer mischt Dunkelheit überhaupt mit irgendwas?«, flüsterte David ungläubig und fuhr mit der Hand über den Schlauch, der den Tank mit der Sprühvorrichtung, einer Art metallenem Lauf, verband.
»Ich habe im Lauf der Jahre viel experimentiert. Ebenso mit Licht wie mit Feuer.«
»Du hast ausprobiert, wie man ihnen Angst macht. Wie man ihnen wehtut«, sagte Ayumi vorwurfsvoll.
»Nein. Darum ging es mir nicht. Ich wollte sie und ihre Gesetzmäßigkeiten verstehen. Begreifen, was dort im Dunkel lauert. Und mich zur Wehr setzen können, wenn es nötig sein sollte.«
»Das sagst du so. Für mich sind das Gläser voller Nacht und eine Waffe, die jenen Geschöpfen im Dunkel Schmerzen zufügen kann.« Ayumi schien von der Argumentation des Hausmeisters nicht überzeugt zu sein.
»Gut. Wenn du mir nicht glaubst, zeige ich dir noch etwas anderes. Etwas, das dir zeigt, dass es mir wirklich nicht darum ging.«
»Ach, und was soll das sein?«, fragte sie trotzig.
»Wart’s ab.« Klandt schaltete das Licht aus und trat hinter eins der Regale. »David? Du erinnerst dich, wie ungern Rocky mich verlassen hat, als du ihn abgeholt hast?«
»Ja klar. Ich hab mich ziemlich gewundert.«
»Na ja, um ehrlich zu sein, lag das nicht an mir.«
Sie hörten, wie Klandt sich an irgendetwas zu schaffen machte. Das leise Klappen einer Käfigtür war zu vernehmen. Dann kam er wieder hinter dem Regal hervor.
»Wenn ich euch jemanden ganz Besonderen vorstellen dürfte?« Auf seinem Arm hielt der Hausmeister ein kleines dunkles Fellknäuel, das sie aus wirren dunklen Augen anstarrte und seine finstere Nase krauszog. »Das ist Tinkerbell.«
»Cool! Ein Schattenhamster!« Begeistert kam Ayumi näher und griff nach dem Tier.
»Ah. Das ist also die Freundin, die Rocky gefunden hat. Von der du mir damals erzählen wolltest. Eine, die so ist wie er …« David glaubte zu verstehen, trat neben Ayumi und streichelte Tinkerbell lächelnd über den Kopf.
»Nicht ganz«, entgegnete Klandt. »Wie gesagt, ich habe einiges ausprobiert und dabei sehr eigentümliche Dinge gelernt. Und durchaus auch einiges … verändert …« Mit diesen Worten schaltete er das Licht wieder an.
Wie im Reflex versuchte Ayumi den Schattenhamster zu schützen. David schaute Klandt entsetzt an und schrie: »Was tun Sie da? Sind Sie verrückt?«
»Ganz ruhig, David. Ich will euch nur etwas zeigen …«, sagte Klandt beschwichtigend und deutete auf den Schattenhamster. Tinkerbell lag in Ayumis Arm und blickte sich mit großen Augen um. David klappte die Kinnlade herunter. Das Licht der Neonröhren schien der Kreatur nichts auszumachen. Es war so wirklich wie ein reales Tier. Ein Stück Schatten, der sich in der Wirklichkeit manifestiert hatte.
Klandt grinste David und Ayumi an. »Ich sagte ja, dass sie jemand ganz Besonderes ist …«
R’hee irrte in einem lichtlosen Irgendwo umher.
Sie wusste weder, wo sie war, noch wo sie hinwollte. Um sie herum war es komplett dunkel. Es war eine kalte und beinahe schmerzhafte Schwärze, dunkler als die Nacht.
Nur Pickel leuchtete hell in der Finsternis. Der Shih Tzu wackelte vergnügt neben ihr her, alle paar Schritte schaute er sie aus großen treuen Augen an und wedelte mit dem Schwanz. Ihn schien das Dunkel nicht zu kümmern.
Und auch bei R’hee war es nicht die Dunkelheit selbst, die ihr Sorgen machte. Es war vielmehr ihre Endlosigkeit. Sie bewegten sich auf einer Fläche aus Finsternis durch einen Raum voll Dunkelheit und auf einen Horizont aus reiner Schwärze zu. Alles um sie herum war schwarz. Und auch die Tatsache, dass R’hee im Dunkel besser sehen konnte als andere Menschen, ließ sie hier nicht mehr erkennen. Selbst in ihrem Inneren spürte sie es. Eine übermächtige, alles verschlingende Schwärze. Sie hatte alles verloren. Ihre Heimat, ihren Ziehvater, ihren Bruder und einzigen Vertrauten. Nur Pickel war ihr noch geblieben. Eine kleine Fellboje, an die ihr Herz sich inmitten des undurchdringlichen Dunkels klammerte.
Schwermütig schleppte R’hee sich mit hängendem Kopf durch das Dunkel. Schritt für Schritt. Immer tiefer hinein. Während in ihr eine Verzweiflung wuchs, die sie beinahe schmecken konnte.
Wofür bewegte sie sich überhaupt noch durch diese hoffnungslose lichtentleerte Welt? Für wen? Warum? Wie sehr war ihr danach zumute, sich einfach fallen zu lassen, liegen zu bleiben und mit dieser Nacht zu verschmelzen. Teil dieser Finsternis zu werden. Nichts mehr zu spüren, zu fürchten oder zu wollen. Nur noch schwarz zu sein. Aber dann hätte Pickel sie angestupst, ihr seine Zunge durchs Gesicht gezogen und mit dem Schwanz gewedelt.
Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln. Es war ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lächeln. Doch es machte etwas mit ihr. Ließ sie weitergehen. Schritt für Schritt.
Plötzlich begann Pickel zu zittern und zu bellen. Er kläffte die sie umgebende Wand aus Finsternis an.
R’hee stutzte verwundert. Um sie herum war nichts. Zumindest konnte sie nichts erkennen. Wobei sie während der letzten Stunden gelernt hatte, dass sie in dieser Art der Finsternis nicht so weit sehen konnte wie innerhalb gewöhnlicher Finsternis. Weil diese hier anders war. Anders als jede der ihr bekannten Arten Dunkelheit … Sie schaute sich um. Schaute auf den Hund, der einen Wimpernschlag später aufsprang und wild bellend im Dunkel verschwand. R’hee blieb verdattert stehen, wusste nicht, ob sie Pickel folgen sollte oder nicht. Doch noch bevor sie überhaupt zu einem Schluss gelangen konnte, kam er aus der Finsternis zurückgesprungen. Und das nicht allein. Ihm auf dem Fuße folgte ein anderer Hund, ein kurzhaariger spitzohriger Jonangi, der ihr seltsam bekannt vorkam. Eine zweite Leuchtboje inmitten des endlosen Schwarz.
Im Ministerium herrschte helle Aufregung.
Der Minister hatte inzwischen Kontakt mit dem Vorstandsvorsitzenden von Erebos Industries aufgenommen und die Umsetzung des Planes seines persönlichen Assistenten in die Wege geleitet. Dieser sah vor, dass zunächst die Straßenbeleuchtung aller Großstädte, und später auch die kleinerer Ortschaften, auf Kosten des Steuerzahlers komplett mit fortschrittlicher Erebos-Technologie ausgestattet werden sollte. Um dem Dunkel seine Grenzen aufzuzeigen und die sonderbaren Vorfälle zu beenden. Im gleichen Atemzug gab die Firma des Grafen auch an die Bevölkerung Erebos 3000 Glühlampen aus, um für den Notfall ein flächendeckendes und möglichst lückenloses Lichtnetz zu schaffen. Ein Bollwerk gegen die Finsternis und das, was in ihrem Inneren vor sich ging.
Die Umsetzung des Programms war bereits seit dem frühen Morgen im Gange, was nur aufgrund des Eingreifens der Kanzlerin möglich geworden war, die die Maßnahmen in der Nacht zuvor im Rahmen eines Ausnahmezustandes angeordnet hatte.
Freiwillige Hilfskräfte, Erebosangestellte und die Armee, alle arbeiteten auf Hochtouren.
Unterdessen machte man sich im Ministerium bereit, Jan Graf Erebos, den Vorstandsvorsitzenden des weltweit agierenden Leuchtenimperiums, den Mann, der die Welt aus der Finsternis führen würde, zu empfangen.
Der Hubschrauberlandeplatz war bereit. Mitsamt seinem Assistenten und einem kleinen Empfangskomitee war der Minister bis aufs Dach gestiegen, von wo aus sie den sich nähernden Helikopter betrachteten.
»Ist unten soweit alles vorbereitet, Molchert?«
»Sehr wohl, Herr Minister, die Verträge liegen bereit, die Whiskyvorräte sind aufgefüllt und mit dem Grafen ist im Vorfeld alles besprochen worden.«
»Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kann diesen Grafen nicht leiden.«
»Er ist eigenartig. Nicht besonders sympathisch. Da stimme ich Ihnen zu.«
»Und nicht nur das. Sie wissen, dass wir diesen Mann verdammt reich machen werden, nicht wahr?«
»Im Gegenzug dafür wird er uns bei dem Problem mit der Dunkelheit helfen. Und ich wüsste nicht, wer außer ihm das in der gegenwärtigen Situation überhaupt könnte.«
»Aber unser Deal wird, wenn er an die Öffentlichkeit dringt, einige Leute sehr unzufrieden machen. Zumal ja der Graf in seiner Rolle als Arbeitgeber alles andere als beliebt ist. Es gibt Leute, die behaupten, dass er seine Angestellten regelrecht ausbeutet.«
»Wenn Sie mich fragen, sollten wir uns vorrangig auf unser Problem konzentrieren. Das Verschwinden von Dingen und die aufkommenden Unruhen unterbinden. Und was das Geld angeht: Er ist schon reich. Ich denke, seine Motivation ist eine andere. Vielleicht will er wirklich helfen.«
Der weiße Hubschrauber war jetzt ganz nahe. Das Erebos-Logo war bereits ebenso deutlich zu erkennen wie der Pilot, der das Fluggerät in Richtung Landeplatz manövrierte.
Der Minister bemühte sich um sein staatsmännisches Lächeln. Seine folgenden, etwas besorgt klingenden Worte, gingen beinahe im lauter werdenden Wummern der Rotoren unter. »Dann hoffen wir mal, dass Sie recht haben. Und dass er nicht merkt, dass ich ihn nicht leiden kann …«
Wenig später setzte der Hubschrauber auf dem Dach auf, die Seitentür öffnete sich und dem Inneren entstieg, in einen weißen Pelzmantel gekleidet und seine breitrandige Sonnenbrille auf der Nase, der Graf. Mit einem dumpfen Geräusch setzte er seinen Gehstock auf das Dach und stützte sich darauf. In dem polierten weißen Knauf, der wie eine überdimensionale Perle wirkte, funkelte das Licht der Sonne.
Während die Rotoren langsamer wurden, eilten Molchert und der Minister ihrem wichtigen Gast mit offenen Armen entgegen.
»Herr Graf!«, schrie der Minister gegen den abschwellenden Lärm an. »Sie ahnen nicht, wie sehr wir uns freuen, Sie persönlich hier begrüßen zu dürfen!«
Der Graf lächelte von einem Ohr zum anderen und rief mit seiner hellen Ziegenstimme: »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Minister. Aber lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Ich habe leider nicht viel davon, weil wir in der Fabrik gerade Sonderschichten einlegen müssen, die bedauerlicherweise meine Anwesenheit erfordern. Wir haben schließlich eine Welt zu erleuchten.«
»Natürlich, Herr Graf. Natürlich. Wir werden das alles zügig hinter uns bringen«, entgegnete der Minister, der den Grafen noch immer nicht leiden konnte und sich insgeheim freute, dass sein Gegenüber nicht die Zeit hatte, ihm seinen Whisky wegzutrinken.
R’hee hatte beschlossen, den Jonangi Tiger zu nennen. Der Hund wirkte zwar weder bedrohlich noch majestätisch, aber es würde ein gutes Gefühl sein, nach ihm zu rufen. Vor allem hier, umgeben von dieser trostlosen Finsternis.
Neben den beiden Tieren trottete sie, den Blick auf den Boden gerichtet, durch das Dunkel. Es war seltsam, aber die Tatsache, dass Tiger plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte ihr ein wenig Hoffnung gegeben. Darauf, dass es vielleicht einen Weg hinaus gab, eine Verbindung in die wirkliche Welt und sie vielleicht sogar eine Möglichkeit fand, ihren Bruder zu retten.
Von Zeit zu Zeit rief sie nach den Hunden. Pickel, der auf seinen Namen bereits hörte, drehte sich dann um und schaute sie freudig an. Tiger wandte sich ihr auch manchmal zu. Egal welchen Namen sie rief. R’hee lächelte schwach. Er musste nicht hören. Es reichte, dass er da und sie nicht allein war.
Plötzlich hielt sie mitten im Schritt inne. Irgendetwas hatte sich verändert. Sie konnte nicht sagen, was es war. Weder Pickel noch Tiger reagierten. Als R’hee den Kopf hob, begriff sie. Auf einmal war es nicht mehr bloß das Dunkel, das sie umgab.
Plötzlich stand sie nämlich zwischen Autowracks, die inmitten der Finsternis nebeneinander, aufeinander und durcheinander standen. Es mussten Hunderte, wenn nicht gar Tausende sein, die sich um sie herum, teilweise mehrere Meter hoch stapelten. Wahllos, ohne jegliche Ordnung im Dunkel zusammengewürfelt. Wie ein riesiger Schrottplatz. Wobei ihr dieses Wort freilich nicht in den Sinn kam. Schon weil sie die zahllosen Blechkadaver um sie herum nur mit Mühe mit den wenigen Autos in Verbindung brachte, die sie auf dem Weg zum Flughafen gesehen hatte. Menga hatte ihr erklärt, wofür sie gut waren. Aber sie hatte es vergessen. Sie sah nur Dinge ohne Sinn, die aus dem gleichen Material wie sinnvolle Dinge gemacht waren. Töpfe und Pfeil- oder Speerspitzen zum Beispiel, von denen man vermutlich aberzig Millionen aus diesen Eisenklumpen hätte machen können.
Verstört blickte sie sich um und begriff nicht, was all das bedeutete. Da begannen plötzlich sowohl Pickel als auch Tiger zu bellen. Im gleichen Moment legte sich eine Hand auf R’hees Schulter. Mit einem Aufschrei zuckte sie zusammen und fuhr beinahe zugleich wie im Reflex mit erhobener Faust herum. Doch eine weitere Hand packte ihren Arm, bremste ihren Schlag und eine wohlbekannte Stimme flüsterte: »Ruhig. Ganz ruhig, kleine R’hee. Du musst keine Angst haben. Nicht vor mir.«
Schluchzend sank sie in die Arme des Schattenvaters.
Und dabei spielte es keine Rolle, woher er kam oder warum er hier war. All diese Fragen würde sie später stellen. Vielleicht.
Der alte Mann war ganz ruhig, musterte erst die Umgebung und fuhr ihr dann tröstend über den Kopf.
Dabei hielt er in seiner rechten Hand die ganze Zeit über ein wirres Knäuel geflochtener Schnur, die hinter ihm zu Boden fiel und im Dunkel verschwand. Aber auch das bemerkte R’hee gerade nicht.
»Es … es ist etwas passiert. Etwas Schlimmes. Etwas wirklich Schlimmes«, flüsterte sie unter Tränen und schmiegte sich in seine Arme.
Der Schattenvater, dessen Ruhe sich langsam auf sie übertrug, nickte bedächtig. »Ich weiß, kleine R’hee. Ich weiß. Ich habe mich in dieses Dunkel hineingefühlt. Und ich fürchte, es ist kein gewöhnliches Dunkel. Es ist, als wäre es gezüchtet worden. Es ist anders als die Arten, die wir kennen. Und die Geschöpfe in seinem Inneren sind böse. Gefährlich.« Er deutete auf Pickel und Tiger. »Es ist gut, dass du Gefährten gefunden hast.«
R’hee weinte noch immer. Sie war viel zu aufgeregt und viel zu glücklich, dass der Schattenvater sie hier gefunden hatte, und hatte ihm nicht einmal zugehört.
»Krigk. Ich … ich habe ihn verloren.«
»Das ahnte ich beinahe. Ich fürchte, er ist ein Teil dessen, was hier geschieht. Denn in dem Dunkel, das uns umgibt, kleine R’hee, steckt ganz viel von deinem Bruder …«