IN DEM EINIGE NEUE KREATUREN INS SPIEL KOMMEN, DER NACHTWAHRER INS STAUNEN GERÄT UND VERBÜNDETE SICH AM ENDE VERLIEREN UND FINDEN
Im Herzen seines Nachtpalastes saß Skadwa auf seinem Thron aus reiner Finsternis, spielte mit der Glimmergeißel und funkelte Krigk an, der mit hängenden Schultern vor ihm stand.
Neben dem Thron stand Mörker, dem anzumerken war, dass er die Folgen seines Verrates noch nicht verwunden hatte. Gnistas Tod, der ihn schlussendlich eines Freundes beraubt und irgendwie unvollständig gemacht hatte, war nicht, was er bezweckt hatte. Er war noch immer von jenem Schrecken gezeichnet, der ihn ergriffen hatte, als Gnista vor seinen Augen in tausend schwarze Splitter zersprungen war. Und wenn man genau hinschaute, sah man, wie tief dem Zwielichtwichtel dieses Erlebnis in seine schwarzen Knochen gefahren war: Da war plötzlich eine etwa daumenbreite weiße Strähne, die der Schrecken ihm ins Fell gezeichnet hatte und die ihm vom Kopf bis zur Mitte seines Rückens hinabreichte. Der Dämmerflechter hatte sie gesehen, geschmunzelt und höhnisch von einem Stück Nacht gesprochen, das so empfindsam war, dass es nun wie ein Stinktier aussah.
Und Mörker, der sich nichts so sehr gewünscht hatte, wie der erste Diener des Dämmerflechters zu sein, wünschte sich plötzlich etwas anderes. Nämlich niemals aus der Nacht herausgebrochen worden zu sein. Er wünschte sich zurück in die Vergangenheit: zusammen mit Gnista wieder im großen Dunkel jenseits des Nordpols zu ruhen …
Im Gegensatz zu Mörkers Meister, den die Befindlichkeiten seiner Schergen nicht scherten, hatte Krigk sie noch nicht einmal bemerkt. Wortlos, beinahe apathisch, starrte er vor sich hin. Er wusste gar nichts mehr. Nicht, wer er war oder was er wollte. Da war nur eine große Leere in ihm, die noch viel schlimmer war als die allgegenwärtige Finsternis. Sie lähmte ihn. Seinen Körper, seinen Geist und war dabei durchdrungen von Zorn, Verzweiflung und dem Gefühl, versagt zu haben, und dem noch schlimmeren, benutzt worden zu sein.
Der Wunsch, der Prophezeite zu sein, der größte aller Nachtzähmer zu werden, all das war verblasst. Und jetzt, da diese Wünsche ihn nicht mehr beherrschten, spürte er, wie sehr er seine Schwester vermisste. Was sie ihm bedeutete. Und ahnte, dass niemand außer ihr diese giftige Leere, die er beinahe zu schmecken glaubte, aus ihm würde vertreiben können.
Hätte er die Kraft gehabt, wäre er R’hee nachgeeilt, hätte sie gesucht. Aber er konnte kaum noch stehen und nahm nicht einmal wahr, was um ihn herum eigentlich vorging, und wo er sich befand.
»He, Junge! Schau mich an!«, hallte harsch die Stimme des Dämmerflechters durch den Thronsaal.
Wie betäubt hob Krigk den Kopf, sah Skadwa mit der Glimmergeißel in der Hand auf seinem Thron, den verschüchterten Mörker dahinter und die drei riesigen Löwenstatuen, die um den Dämmerflechter herumstanden. Letztere irritierten ihn. Die beinahe identischen steinernen Abbilder waren größer und anders proportioniert als normale Löwen und irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihnen. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Aber da war etwas. Etwas, das damit zu tun hatte, dass die Statuen nicht aus Dunkelheit bestanden, sondern real waren und tatsächlich aus Stein zu bestehen schienen …
»Gut. Sehr gut. Du kommst wieder zu dir. Komm drüber hinweg. Gnista war ein jämmerliches Stück Nacht und deine Schwester ist wahrscheinlich längst tot. Ebenso wie dein alter Meister, der Schattenvater. Das Dunkel jenseits des Palastes ist nicht ungefährlich, musst du wissen …«
Und ein weiteres Mal bohrten die Worte des Dämmerflechters sich wie mit Widerhaken in Krigks Brust. Und die Leere mischte sich mit Schmerz, der in seinem Inneren widerhallte, bis alles in ihm taub war.
Krigk sackte auf die Knie, sein müder leerer Blick traf die steinernen Augen eines der Löwenabbilder, während Skadwas Stimme weiter durch die Dunkelheit hallte.
»Und du, Krigk, bist schuld daran. Weil du schwach bist. Unvollkommen.«
Krigk schluchzte leise auf. Tränen flossen aus seinen Augen. Er versuchte nicht einmal mehr, sie zurückzuhalten.
Dabei schien der Dämmerflechter ihn gar nicht zu beachten. »Nicht so wie diese drei.« Durch den Tränenschleier sah Krigk, wie Skadwa in einer ausschweifenden Geste mit der Geißel auf die drei vermeintlichen Löwenstatuen deutete. »Die letzten verbliebenen Finsterklauen, Kinder der sechsten Dunkelheit, von mächtigen Nachtzähmern vor mehr als tausend Jahren in Stein gebannt. Weil sie zu gefährlich waren und niemand sie beherrschen konnte. Mächtiger als sie war allenfalls der Unlichtleviathan!«
Skadwas Stimme war feierlich. Doch was er sagte, scherte Krigk nicht. Ihm war es egal. Alles. Wenn R’hee wahrhaftig tot und er schuld daran war, dann gab es nichts, was noch eine Rolle spielte. Was immer der Dämmerflechter auch sagte …
»So lange waren sie Stein, so lange gefangen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass einer kommt, um sie zu befreien und zu beherrschen …«
Angsterfüllt beobachtete Mörker, wie sein Meister während seiner Rede mit der Glimmergeißel gestikulierte.
»Einer, der mächtiger ist, als alle zuvor! Der mehr als bloß die sieben bekannten Arten Dunkelheit zu bezwingen vermag! Größer ist, als alle anderen vor ihm, der mächtigste aller Nachtzähmer!« Mit diesen Worten erhob Skadwa sich von seinem Thron und trat, die einzelnen Schnüre der Glimmergeißel um seine Finger windend, gemächlich näher an Krigk und die Löwenskulpturen heran. »Ich habe sie geholt, damit sie mir dienen. Besser als du oder ein jämmerlicher Zwielichtwichtel es jemals könnten!«
Über seine Schulter warf Skadwa einen kurzen Blick Richtung Mörker, der sich ängstlich hinter den Thron duckte. Dann hob sein Meister die Glimmergeißel und ließ die Macht des darin gefangenen Blitzes auf die Löwenskulpturen niedersausen. Der Stein splitterte, riss auf und zerbrach. Wie zuvor bei Gnista flogen die Splitter durch den lichtlosen Raum, schwirrten an Krigk und dem Thron des Dämmerflechters vorbei und fielen dahinter zu Boden.
Dann erhoben sie sich. Inmitten der Dunkelheit. Drei Finsterklauen, deren Zähne und deren Mäuler schwärzer waren als alles, was Krigk je gesehen hatte. Aus ihren Augen schimmerte eine dunkle und unbändige Mordlust, eine Gier, die nicht diesseits noch jenseits der Finsternis zu stillen war. Sowohl Krigk als auch Mörker fürchteten bereits, von ihnen verschlungen zu werden.
Genau das hatten jene Ungetüme, die aus dem Maul nach Finsternis stanken, wohl auch im Sinn und hätten wahrscheinlich selbst vor Skadwa nicht halt gemacht, hätte sich nicht in diesem Moment hinter dessen Thron ein Schatten erhoben, der um einiges größer und schrecklicher war als sie selbst. Mit einem Aufschrei sprang Mörker beiseite, als der Dämmermahr sich zu seiner ganzen Größe erhob.
Die Finsterklauen jaulten leise auf. Von einem Moment auf den anderen nahmen sie eine demütige Haltung ein, als der Dämmerflechter den Unhold hinter dem Thron zu sich heranwinkte und dieser widerstandslos folgte. Die Finsternis um sie herum wurde schier unerträglich, als jene vier ungeheuerlichen Kreaturen sich vor dem zusammengesunkenen Krigk um den Dämmerflechter versammelten, dessen Lachen düsterer klang als das schwärzeste Schwarz am Ende aller Dämmerung …
»Das ist ja wirklich absolut unglaublich …«
Staunend betrachtete Kuro Watanabe wie Tinkerbell im Schein einer Taschenlampe am Boden hockte, die Schnauze krauszog und ihn verwundert anstarrte. »Ein nachtwärtiges Geschöpf, das im Licht bestehen kann. Faszinierend. Ich habe so etwas tatsächlich noch nie gesehen.«
Menga blickte ihm über die Schulter und pflichtete ihm staunend bei. »Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas überhaupt geben kann. Der Schattenvater hat nie von etwas Derartigem erzählt.«
»Weil er es wahrscheinlich selbst nicht für möglich gehalten hat«, murmelte Ayumis Großvater.
Tinkerbell wandt sich ab und fing an sich zu putzen.
David blickte triumphierend in die Runde. »Ich hab euch doch gesagt, dass er cool ist!«
Klandt, der mit seinem Flammenwerfer zwischen Menga und dem alten Watanabe stand, errötete, was selbst im kargen Licht der Taschenlampe zu sehen war.
Ayumis Großvater lächelte. »Ein Mann, der eine Schattenkreatur ins Licht führen und Nacht mit Feuer mischen kann, ohne je von einem Nachtzähmer unterwiesen worden zu sein, ist wahrscheinlich sogar mehr als cool …«
Ayumi nickte anerkennend und klopfte Klandt auf die Schulter. »Gratulation. So was hat er noch nie über jemanden gesagt.«
Der Angesprochene lächelte unsicher.
Menga blickte ihn fragend an: »Dürfte ich ihn noch mal sehen? Den Flammenwerfer?«
»Aber natürlich. Ich denke, angesichts der aktuellen Entwicklungen sollten wir wohl noch einen zweiten davon bauen.«
Der alte Watanabe stimmte ihm zu. »Das wäre vielleicht keine schlechte Idee. Wie es aussieht, plant Skadwa in den Tiefen des Dunkels etwas wirklich Übles. Ich habe die Nachrichten verfolgt. Und wenn es stimmt, was man dort hört, dann hat er mindestens zwei Finsterklauen in seinen Besitz gebracht.«
Menga pfiff durch die Zähne.
David blickte unsicher in die Runde. »Finsterklauen? Das klingt gar nicht gut.«
»Ist es auch nicht«, entgegnete Ayumis Großvater. »Kreaturen der sechsten Art, die vor Urzeiten in Stein gebannt wurden. Wenn Skadwa sie hat, wird er gewiss danach trachten, sie zu befreien. Und dann wäre es gut, etwas zu haben, mit dem man sie verletzen kann …«
Klandt nahm den Flammenwerfer von seiner Schulter, legte den Gurt mit den Nachtgläsern ab, die wie Munition in elastischen schwarzen Manschetten steckten, und reichte beides Menga, der es vorsichtig und mit anerkennendem Blick entgegennahm.
»Und hier oben schraube ich einfach ein Glas Nacht auf, dessen Inhalt sich dann mit dem Brennstoff mischt?«
»Genau, zwischen den Flammen lodert dann eine Ahnung Schwärze, was auf den ersten Blick befremdlich wirkt, aber sogar diese großen Federviecher mit dem riesigen Schnabel auf Abstand hält.«
»Sie haben mit diesem Ding wirklich schon mal einem Nachtkrabb getrotzt?«, fragte Menga ungläubig.
»Nachtkrabb? So heißt dieses hässliche Ding?«
»Ja. So heißt es.«
»Es war seltsam. Ich habe, als es mich anging, nur eins von diesen Dingern befeuert. Aber danach hat mich nie wieder eines behelligt.«
»Das liegt daran, dass sie alle miteinander verbunden sind. Was ein Nachtkrabb erfährt, erfahren zugleich auch alle seine Artgenossen«, sagte Ayumi mit lehrerhaftem Ton und wendete ihren Kopf in Richtung ihres Großvaters, der anerkennend nickte.
Menga blickte das Mädchen und seinen Großvater verwundert an. »Wie? Sie weiß solche Dinge? Ich dachte, es sei verboten, Mädchen zu Nachtzähmern auszubilden.«
»Menga, wir leben nicht mehr im letzten Jahrhundert. Außerdem habe ich sie nicht ausgebildet. Sondern sie nur an meinem Wissen teilhaben lassen. Aber so oder so wirst du am Ende dankbar sein, dass sie mehr über das Dunkel weiß als du.«
»Aber … aber die Tradition«, stotterte Menga, der sehr wohl wusste, dass Mädchen für gewöhnlich keine Nachtzähmer werden durften.
»Sieht die etwa vor, dass man den letzten angehenden Nachtzähmer verrät?« Energisch drehte Ayumi sich in seine Richtung.
Der alte Watanabe versuchte, die beiden zu beschwichtigen. »Ruhig. Ganz ruhig. Vergesst bitte nicht, dass wir auf der selben Seite stehen. Und dass wir einander brauchen werden, wenn wir uns diesem neuen Dunkel entgegenstellen wollen.«
»Neues Dunkel?« Klandt stutzte.
Ayumis Großvater seufzte. »Ich habe es beobachtet. Die Phänomene, die Dinge, die in der Nacht verschwinden. Es ist tatsächlich eine neue Dunkelheit. Eine achte Art, die Skadwa erschaffen hat, die er beherrscht, während keiner von uns sie kennt. Und es steht zu befürchten, dass auch in diesem Dunkel etwas lebt. Etwas, das weit fürchterlicher ist als etwa der Unlichtleviathan.«
»Oh Mann. Unlichtleviathan. Das klingt jetzt aber richtig übel …«
»Ist es, David. Ist es. Ich habe nur einmal einen gesehen, und wünschte mir, es nicht getan zu haben. Aber darum ist es umso wichtiger, dass wir dir, bevor Skadwa seine Ungeheuer freilässt, so viel wie möglich beibringen.« Der alte Watanabe schaute David ernst an. »Bist du bereit dafür?«
»Na ja, solange es nicht um dieses Unlichtding geht, wär ich schon bereit.«
Ayumis Großvater lachte leise auf. »Wir sind bei der fünften Dunkelheit, mein Junge. Mit Glück schaffen wir es noch bis zur sechsten. Länger wird Skadwa, der alte Schattenschinder, kaum warten. Also wirst du dem Unlichtleviathan ziemlich sicher entgehen …«
»Na dann …«
»Aber bevor wir das tun, solltest du noch etwas bekommen.«
Ayumis Großvater hob eine seiner buschigen weißen Brauen. »Ja. Ich denke, es ist jetzt an der Zeit.«
»Na, das seh ich aber mal ganz genau so!«, bekräftige Ayumi.
Lächelnd griff der alte Watanabe in eine Tasche seiner weiten Leinenhose, und hielt ihm kurz darauf seine geschlossene Hand hin. Als David die seine darunter öffnete, ließ der Nachtwahrer, während David vor Aufregung die Luft anhielt, das Vielnachtamulett hineingleiten.
Ayumi trat näher und zog das dünne Lederband, an dem ihr Amulett hing, über ihren Kopf und reichte es ihrem Großvater. Er schien sofort zu erkennen, wo das Problem lag. Dass das Lederband offenbar zumindest an einer Stelle brüchig geworden war.
»Warte, ich richtet es dir wieder«, murmelte Watanabe und machte sich umgehend an dem Anhänger zu schaffen. Unterdessen betrachtete Klandt Davids Amulett, staunte darüber, wie die Schwärze darin in steter Bewegung war und eine sich mit der anderen zu mischen schien.
»Was ist das?«, fragte er staunend, während Menga in seinem Rücken weiter den Nachtflammenwerfer begutachtete.
Das Lederband aufknotend murmelte Ayumis Großvater: »Ein Schutzamulett. Das vor Zaubern schützt, wie ein Meister sie kraft der Dunkelheit zu wirken vermag.«
»Und Sie, Herr Watanabe, sind so ein Meister?«
»Das bin ich wohl. Einer von dreien. Und jeder tut etwas anderes mit dem Dunkel. Der Schattenvater versteht, der Nachtwahrer schützt und der Dämmerflechter verändert es.«
Der Alte hatte die brüchige Stelle aus dem Lederband herausgetrennt und betrachtete sie verwundert, während Klandt hinter ihm weitersprach.
»Und das Problem ist, wenn ich es recht verstehe, dieser Veränderer?«
»Oder besser das, was er geschaffen hat.«
»Und davor kann dieser Talisman nicht schützen?«
»Nur vor Zaubern. Nicht vor Kreaturen und nicht vor den Meistern selbst …«
Watanabe verknotete das Lederband des Amuletts seiner Enkelin wieder neu und hielt die herausgetrennte Stelle nachdenklich in den Lichtkegel der Taschenlampe.
»Ich vermute mal, wir bekommen keins davon?«, wollte Klandt wissen.
»Es gibt nur wenige von ihnen. Und sie sind vor allem dafür geschaffen, die Lernenden zu schützen.«
Menga hüstelte leise. Alle drehten sich in seine Richtung. Mit einem unsicheren Lächeln ließ er den Flammenwerfer sinken und zog den Kragen seines Hemdes beiseite, sodass sie alle das Vielnachtamulett sehen konnten, das er um seinen Hals trug. Der Hüne zuckte mit den Schultern. »Ich muss zugeben, dass ich es mit den Traditionen auch nicht immer ganz genau nehme.«
»Menga!«, rief Watanabe kopfschüttelnd aus. Er wusste schließlich, woher die Talismane stammten. Dass es die von Krigk und R’hee waren, die ihr Beschützer ihnen auf dem Flughafen abgenommen hatte.
Der Hüne sprach weiter. »Nach allem, was passiert ist, hab ich mich so sicherer gefühlt. Ach ja, und für Sie, Hausmeister, hab ich auch noch eins.« Er nickte Klandt zu und griff in seine Tasche.
Ayumis Großvater blinzelte müde, und wendete das Stückchen Band in den Händen. Und jetzt bemerkte er, was ihn daran irritiert hatte: Es wirkte beinahe wie angeschnitten. Fast als ob …
Und in diesem Moment begriff er, in welcher Gefahr sie schwebten.
»Ayumi! Schnell!«, rief er und warf ihr im gleichen Atemzug das Amulett wieder zu. Im selben Moment aber schien das Licht der Taschenlampe zu verlöschen, als der Raum schlagartig von einer Finsternis geflutet wurde, die dunkler war als alles, was der Nachtwahrer jemals gesehen hatte. Sie brauchte nur wenige Augenblicke, um in jeden Winkel des Raumes zu dringen. Und sie schluckte alles. Das Licht, die Geräusche, selbst die Hoffnung. Die Anwesenden schauderten.
Doch als dieses merkwürdige Etwas wieder schwand und der Lichtkegel der Taschenlampe wie zuvor den Boden erhellte, wo Tinkerbell noch immer teilnahmslos hockte, lag das eine Amulett am Boden, während das andere aus Mengas ausgestreckter Hand baumelte.
Darüber hinaus waren sie bloß noch zu dritt.
Klandt und Ayumi waren verschwunden.
R’hee ging neben dem Schattenvater her, der sich an seiner Schnur entlang zurück durch das Dunkel hangelte. Die beiden Hunde liefen neben ihnen. Pickel und Tiger hatten sich beruhigt. Nur von Zeit zu Zeit, wenn R’hee sie beim Namen rief, blickten sie zu ihr empor.
Obwohl sie noch immer nicht verstand, wo sie waren und was hier in der Finsternis eigentlich vor sich ging, obwohl sie sich um Krigk sorgte und obwohl sie auch noch Angst hatte, war die Tatsache, dass sie nun den Schattenvater an ihrer Seite hatte, ein Trost, der ihr die Kraft und den Mut gab, sich weiter durch das fremde Dunkel zu schleppen. »Wie kommen wir von hier wieder fort? Gibt es einen Weg hinaus?«, fragte sie den Schattenvater, der schweigsam seiner Schnur ins Dunkel folgte und dabei Meter um Meter aufwickelte.
»Nun, kleine R’hee, ich glaube, dass es überall, wo es einen Weg hinein gibt, auch einen Weg hinaus geben muss.«
»Mir wäre lieber, Ihr wüsstet es, statt es bloß zu glauben, Meister«, sagte sie leise und versuchte dabei zu lächeln.
»Sobald ich etwas weiß, wirst du es als Erste erfahren, tapferes Mädchen.« Dem Schattenvater gelang das Lächeln ein wenig besser als R’hee. Obwohl auch ihm anzumerken war, wie sehr ihn das Dunkel um sie herum verunsicherte. Was zum einen an der Fremdheit lag, zum anderen aber auch an den seltsamen Dingen, an denen sie auf ihrem Weg durch die Finsternis vorbeikamen. In der Dunkelheit lagen Computer, Monitore, Fahrräder und schier unzählige technische Geräte. Kaum etwas davon kannte der Schattenvater. Das wenigste war jemals bis nach Whaku gelangt. Lediglich einen Laptop hatte er schon einmal gesehen. Weil Menga einen besessen hatte. Menga … R’hee hatte dem Schattenvater inzwischen berichtet, was geschehen war. Wie Menga sie und Krigk verraten und dem Dämmerflechter überlassen hatte, der sie hierher ins Dunkel geholt hatte und dessen Palast sich irgendwo inmitten dieser Finsternis erhob. Der Schattenvater wusste nicht, was den Hünen dazu getrieben hatte. Menga, der Einzige aus dem Stamm, den sie je in die Welt hinausgeschickt hatten, der ihm einst seinen Laptop gezeigt und ihm erklärt hatte, dass dies ein mächtiges Werkzeug in der äußeren Welt war. Hier lagen Hunderte dieser mächtigen Werkzeuge nutzlos zwischen allerlei anderem in der Schwärze herum.
Der Schattenvater war seiner Schnur bis zu einer Waschmaschine gefolgt, deren strahlendes Weiß sich trotzig der Schwärze entgegenstemmte und an der er das Ende der Schnur fest verknotet hatte. Er wickelte sie komplett auf, hängte sich das Ganze über die Schulter und machte sich daran, einen weiteren Knoten zu lösen, der zu einem Stück Schnur gehörte, das noch tiefer ins Dunkel hinein führte.
»Brauchst du eine Pause?«, fragte er besorgt und wendete sich R’hee zu. Sie und die Hunde schauten ihn aus großen Augen an.
»Ich glaube nicht. Wie weit ist es noch?«
»Vier Schnüre.«
»Gut. Gehen wir.« Das Mädchen nickte ihm zu. Einmal mehr bewunderte der Schattenvater die Kraft jenes Mädchens, das, egal was auch passierte, stets stärker als seine Verzweiflung schien. Und dabei wusste er sehr wohl, dass sie ihm ebenso Mut gab wie er ihr.
Entschlossen begann er, die Schnur aufzuwickeln. R’hee, Tiger und Pickel blieben dicht hinter ihm. Zusammen bahnten sie sich ihren Weg durch das Dunkel, hindurch zwischen Dingen, die hier vollkommen sinnlos schienen.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als der Schattenvater abrupt stehen blieb und die Hand hob.
»Halt. Bleib stehen, Mädchen. Keine Bewegung!«
R’hee tat wie geheißen. Die Hunde taten es ihr nach.
»Warum? Was ist los?«, fragte sie unsicher.
»Schau nach rechts. Aber Vorsicht. Keine hektischen Bewegungen, kleine R’hee …«
Langsam drehte sie ihren Kopf und glaubte im nächsten Moment in einiger Entfernung Konturen in der Finsternis ausmachen zu können. Sie musste sich konzentrieren, blinzelte ins Dunkel und dann erkannte sie sie. Schattenhafte Ungeheuer, ein gutes Dutzend. Vielleicht zwanzig Meter entfernt. Sie streiften durch das Gerümpel, das sich in der Finsternis auftürmte, und hatten die kleine Gruppe offenbar noch nicht bemerkt.
»Dunkeldachse«, flüsterte der Schattenvater. »Sie entstammen der fünften Dunkelheit. Schwer zu zähmen. Leicht zu erzürnen.«
»Aber Ihr seid doch ein Meister.«
»An jedem anderen Ort könnte ich sie beherrschen, kleine R’hee, hier aber nicht. Schau sie nur an. Aber sachte. Ganz sachte.«
Sie sah noch einmal genauer hin. Und nun bemerkte sie es. Die Augen der Ungetüme waren nicht schwarz, sondern um ein Vielfaches dunkler.
Plötzlich begann Tiger zu knurren. Und kaum dass er das tat, begann Pickel zu bellen. Gleichzeitig zuckten die Köpfe der Dunkeldachse herum. Ihre Lefzen zogen sich zurück, enthüllten finstere Zähne, die aus einem noch finstereren Zahnfleisch ragten. Ihre Augen funkelten angriffslustig. Anders. Fremd. In der gleichen Schwärze, wie die Finsternis, die sie umgab. Tonlos begannen nun auch die Ungeheuer zu knurren.
Jetzt kläffte auch Tiger wild los. R’hee blickte den Schattenvater hilflos an. Was sollten sie tun? Wenn sie flohen und sich im Dunkel verloren, würden sie einander womöglich nie mehr wiederfinden. Doch im Blick ihres Gegenübers lag die gleiche Hilflosigkeit wie in ihrem eigenen.
In diesem Moment stürzten die Dachse auf sie zu.
Aus ihren finsteren Mäulern troff schwarzer Geifer und in ihren düsteren Augen leuchtete eine abgrundtiefe Mordlust …