IN DEM DAVID BEINAHE EIN WENIG WIE AYUMI KLINGT, EIN WILDER RITT IN VÖLLIGER FINSTERNIS UND DAVIDS VONSTATTENGEHT VATER SICH AM ENDE DER ANGST SEINES SOHNES ERINNERT
In Watanabes altem Volvo fuhren David, Menga und Ayumis Großvater im Schritttempo durch die Straßen. David hatte einen kleinen Pappkarton mit Rocky und Tinkerbell auf dem Schoß, auf die er sich aufzupassen geschworen hatte. Damit sie nicht auch noch plötzlich verschwanden. Neben Menga lagen der Flammenwerfer und der Gurt mit den Einmachgläsern mit dem Nacht-/Benzingemisch. Mithilfe des Hausmeisterschlüssels hatten sie noch einen ganzen Haufen mehr davon aus der Schule geholt, die jetzt im Kofferraum leise klapperten.
Obwohl es bereits später Abend war, war es taghell draußen. Die Straßenlampen waren bereits beinahe durchgehend mit Erebos-3000-Leuchten ausgestattet worden. Vereinzelt sahen sie noch Techniker in weißen Overalls durch die Straßen huschen, die Schalttafeln kontrollierten und Steuerelemente justierten. Und überall war Licht. Nirgends war auch nur die Ahnung irgendeines Dunkels zu sehen, in dem irgendetwas ungesehen hätte vonstattengehen können.
Dem alten Watanabe war das am unangenehmsten.
Nicht nur, weil dieses Licht seltsam fremdartig wirkte, sondern weil es auf ihn unheimlicher als jedes Dunkel wirkte. Was vor allem daran lag, dass er die Finsternis kannte. Während er über diese Art von Licht rein gar nicht wusste.
Sie waren unterwegs zu Davids Eltern. Weil er Ayumis Großvater darum gebeten hatte. Weil sie sich gewiss Sorgen machten und so.
Der Plan war, dass der alte Watanabe seinen Eltern erklärte, dass David über Nacht bei ihm und Ayumi im Haus ohne Fenster bleiben würde. Sie wollten Hausaufgaben vorschieben. Behaupten, dass Ayumi dabei war, dort alles vorzubereiten. Der Plan war gut. Und die Idee war ja wirklich, dass sie die ganze Nacht über lernen würden. Er hatte schließlich noch die gesamte sechste und siebte Dunkelheit vor sich. David und der alte Watanabe waren sich einig, dass es gut war, wenn er über jede Art Bescheid wusste. So viel lernte, wie in der kurzen Zeit eben noch möglich war. Damit sie zusammen Ayumi finden und befreien konnten. Wo immer sie auch war. Wobei ihr Großvater sich sicher war, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis der Dämmerflechter zum Angriff ansetzte, um seinen letzten in dieser Welt verbliebenen Feind aus dem Weg zu räumen und seinen großen Plan umzusetzen. Was immer der auch beinhaltete.
Darum hofften sie, dass der Besuch bei Davids Eltern nicht zu viel Zeit kosten würde. Damit sie wieder zusammen in den Keller des Hauses ohne Fenster hinabsteigen und dort die Geheimnisse der Dunkelheit ergründen konnten.
Sie parkten schließlich in einiger Entfernung und beschlossen, um sich nicht noch unnötige Erklärungen einfallen lassen zu müssen, Menga mit dem Nachtflammenwerfer im Auto warten zu lassen.
Seite an Seite trotteten David und Ayumis Großvater nun im künstlichen Tageslicht der Erebosleuchten über den Bordstein auf das Haus zu, in dem seine Eltern wohnten.
»Und? Weißt du, was du ihnen sagen wirst?«, fragte der Alte.
»Na, ich erzähle ihnen die Geschichte, auf die wir uns geeinigt haben. Hausaufgaben. Projekt und so weiter.«
»Und ich stehe daneben und sehe wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener aus?«
»Ich denke, das dürfte Ihnen gelingen. Ich hab Sie ja am Anfang auch einen Moment lang für so einen gehalten.«
»Ja, aber du hast dich eben nicht täuschen lassen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Meister, meine Eltern sind nicht ganz so intelligent wie ich …« David grinste den alten Watanabe an.
Und auch der konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. In diesem Moment erreichten sie schon die Haustür.
David streckte bereits die Hand nach der Klingel aus, als der Alte ihm in den Arm griff. »Warte. Bist du dir im Klaren darüber, was wir vorhaben?«
»Was genau meinen Sie, Meister?«, fragte David und runzelte die Stirn.
»Niemand weiß, was Skadwa im Schilde führt, was er vorhat oder was passieren wird. Vielleicht wird es schlimmer, als wir ahnen. Der Dämmerflechter ist mächtig. Sehr mächtig. Womöglich wirst du deine Eltern nie wiedersehen. Ich möchte nur, dass du das bedenkst, wenn du sie gleich anlügst.«
Während Watanabe seinen Arm wieder losließ, schaute er ihm tief in die Augen. Die Worte des Alten ließen David tatsächlich zögern. Doch dann atmete er tief ein und drückte den Klingelknopf entschieden bis zum Anschlag durch.
Das Geräusch klang sonderbar. Er hatte den tiefen Gong im Lauf seines Lebens schon so oft gehört. Hunderte, Tausende Male. Aber so hatte er noch nie geklungen.
Ob es an dem lag, was Ayumis Großvater gerade gesagt hatte? Daran, dass die Stadt abends um 21 Uhr wie im hellen Tageslicht dalag? Oder daran, dass er selbst sich während der letzten Stunden verändert hatte? Er hätte es nicht sagen können. Vielleicht, wenn er die Zeit gehabt hätte, noch ein wenig darüber nachzudenken. Die aber blieb ihm nicht. Denn im gleichen Moment wurde die Haustür aufgesummt.
David nickte dem Alten knapp zu. »Bereit?«
Watanabe nickte. »So bereit, erwachsen und verantwortungsbewusst wie man in meinem fortgeschrittenen Alter nur sein kann.«
David trat an ihm vorbei in den Hausflur und murmelte: »Nun hören Sie aber auf. So alt sind Sie jetzt auch wieder nicht.« In seinem Kopf hörte er Ayumi dabei wieder leise aufstöhnen, weil er sich bei ihrem Großvater einschleimte.
Das fehlte ihm. Sie fehlte ihm.
Der alte Watanabe antwortete nicht. Wahrscheinlich, weil es ihm genauso ging.
Gemeinsam stiegen sie nun die Treppe empor, an deren oberem Absatz bereits seine Mutter stand und mit verschränkten Armen und vorwurfsvollen Blick wartete.
»David! Verdammt noch mal, wo bist du denn so lange gewesen? Warum meldest du dich denn nicht? Du hast das Handy doch dabei, Junge!« Sie schien wirklich sauer zu sein.
»Alles gut. Ist ’ne lange Geschichte. Hausaufgabenprojekt. Bisschen stressig, weil wir ’n bisschen was haben schleifen lassen. Werd die Nacht wohl mit Ayumi zusammenhocken und noch ’n bisschen was tun müssen. Aber ich hab einfach mal ihren Großvater mitgebracht. Damit er’s dir erklärt und du dir keine Sorgen machst, wenn ich über Nacht weg bin.«
»Na, da bin ich ja mal gespannt«, grummelte sie und ließ die beiden in die Wohnung, die durch das Licht von der Straße beinahe taghell erleuchtet wurde.
Der Dämmerflechter saß stolz auf seinem Thron und tätschelte den Kopf eines der dunklen Untiere, das mit aufgerichteten Vorderläufen neben ihm saß. Eine andere der finsteren Kreaturen döste vor Skadwas Füßen, während die letzte unruhig im Thronsaal auf und ab lief.
Der Dämmermahr, der noch weiter gewachsen zu sein schien und wohl inzwischen mehr als drei Meter messen mochte, stand unterdessen reglos hinter dem Thron.
Als Krigk in dem mächtigen Eingangstor erschien und zögernd zwischen den dunklen Säulen hindurch ins Innere trat, zuckten die Köpfe aller drei Finsterklauen herum und ihre schwarzen Augen funkelten ihn feindselig an.
Der Junge wirkte seltsam verloren in dem riesigen Saal, an dessen aus Nacht gemauerten Wänden überall aus Dämmerung gewobene Vorhänge hingen, hinter denen glaslose Fenster den Blick in eine undurchdringliche Finsternis eröffneten.
Schwermütig trat Krigk vor den Thron jener Gestalt, die er vor Kurzem noch »Meister« genannt hatte und von der er die Geheimnisse einer Welt zu lernen gehofft hatte, die ihm nun seltsam fremd vorkam. Jetzt, wo R’hee fort und ihm jede Hoffnung darauf genommen war, jemals ein Nachtzähmer zu werden, schien alles, was er bisher über das Dunkel gelernt hatte, plötzlich nutzlos. Er wusste nicht mehr, weshalb er hier war, was er eigentlich überhaupt noch wollte. Und alles, was er in diesem Moment, als er vor den Dämmerflechter trat und die Finsterklauen ihn umringten, fühlte, war Taubheit und Leere.
»Du fragst dich sicher, weshalb ich nach dir habe rufen lassen«, tönte Skadwa hochmütig vom Thron herab und fügte mit einem feinen bösen Lächeln hinzu: »Wo wir doch beide wissen, zu wie wenig du nutze bist …«
Krigk hörte nicht einmal genau, was er sagte. Mit seinen Gedanken war er irgendwo anders. Weit weg. Irgendwo zwischen seiner Heimat und seiner Schwester. Er blickte den Dämmerflechter nicht einmal an.
Skadwa erhob sich und kam langsam auf Krigk zu. Hinter ihm richtete der Dämmermahr sich zu seiner vollen Größe auf und folgte ihm in der gleichen Geschwindigkeit. Dabei entfaltete er seine Gliedmaßen und Krigk erschrak, als er bemerkte, dass das Ungetüm inzwischen mehrere finstere Mäuler und sechs Arme besaß, die ebenso wie seine mächtigen Beine, wie finstere Tentakel wirkten, die im Dunkel umherwaberten, während das Monstrum seinem Meister in einiger Entfernung folgte.
Keinen Meter von dem Jungen entfernt, kam Skadwa schließlich zum Stehen. »Wobei ich dir freilich unrecht tue, wenn ich dich ›unnütz‹ nenne.«
Inzwischen war Krigk aus seiner Starre erwacht und spürte die wachsende Bedrohung, die von seinem Gegenüber, den ihn umkreisenden Ungeheuern und dem tentakelbewehrten Monstrum ausging, das weniger aus Nacht als vielmehr aus vollkommener Finsternis zu bestehen schien. Doch was immer der Dämmerflechter vorhatte, es war eh zu spät. Krigk hätte sowieso nicht mehr gewusst, wie er sich wehren oder wohin er fliehen sollte. Nicht einmal warum. Weil alles ihm bloß noch sinnlos erschien.
»Denn du bist, was dich womöglich verwundern wird …«, bei diesen Worten beugte Skadwa sich verschwörerisch zu ihm hinab und flüsterte in einem sonderbaren Ton: »… beinahe so wichtig wie jener, von dem die Prophezeiung spricht.«
Krigk hörte diese Worte, begriff aber nicht was sie bedeuteten. Fragend blickte er sein lächelndes Gegenüber an.
»Weil es mir ohne dich nie gelungen wäre, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Die achte Dunkelheit, der Dämmermahr, nichts davon wäre ohne dich überhaupt denkbar gewesen, mein Junge.«
Das Schweigen, das diesen Worten folgte, war das Schlimmste. So voll mit Gedanken, Ängsten und Zweifeln, dass die Leere in Krigks Brust sich von einem Moment auf den anderen in Schmerz verwandelte.
Den Dämmerflechter schien das zu amüsieren und sein Lächeln wurde sogar noch breiter, als er fortfuhr: »Du und Menga, der törichte Riese. Ihr seid mir der Schlüssel zu dieser Welt gewesen, habt mir das Tor geöffnet, durch das eine niemals endende Nacht über die Menschen hereinbrechen wird. Und dafür sollte ich dir danken.«
Krigk schüttelte den Kopf. Er spürte wieder Tränen in sich aufsteigen. Merkte wieder einmal, dass er nicht der Held war, der er immer hatte sein wollen. Und dass er es wohl auch niemals sein würde.
»Aber … aber … wie …?«, stammelte er tonlos und Skadwa lachte laut auf.
»Ach, dummer kleiner Krigk, ich habe mit dir gespielt, dich benutzt, von Anfang an. Du willst es verstehen? Dann will ich es dir erklären. Ein wenig zumindest … Weil ich dir so dankbar bin.« Beinahe zärtlich strich er dem Jungen über die Wange. »Sieben Arten Dunkelheit kennst du. Hauch, Schatten, Zwielicht, Dämmer, Dunkelheit, Finsternis und Schwärze. Sieben Teile eines großen Ganzen, das vollständig schien, bis ich begriff, wo die achte Art schlummerte. Die Innernacht, wie ich sie nenne, ruht in den Menschen selbst. Und zwar unvorstellbare Mengen davon, wenn man sie zu wecken versteht. Es brauchte noch einige Zeit, bis ich verstand, wie mächtig dieses Dunkel war, wie man es wecken und freilassen konnte. Aber das Wissen, dass es in jedem einzelnen Menschen dort draußen schlummert, war das Wichtigste. Ich habe es in den Menschen gezüchtet, habe, wo immer ich konnte, ihr Inneres mit Unmut, Unzufriedenheit und Neid verdunkelt. Und aus jenem Dunkel habe ich diese Welt geschaffen, die dunkler ist, als alles, was vor ihr war. Der Rest war beinahe einfach …« Skadwa wandte sich ab, betrachtete stolz den mächtigen Dämmermahr, der nur auf seine Anweisungen zu warten schien. Doch noch war er nicht fertig. »Als Erstes kam der Riese. Dessen Angst um seinen Stamm und seine Heimat ein guter Nährboden war. Ich bot ihm an, Whaku zu retten, wenn er bereit wäre, den Schattenvater zu verraten. Oh, wie wundervoll er mit sich haderte. Und wie herrlich sein schlechtes Gewissen wuchs. Angst und Schuld, die seine Innernacht wuchern ließen. Und dabei tat er alles, was ich ihm sagte. Nur, um zu retten, was ihm wichtig war.«
»Was … was hat er getan? Außer uns zu verraten und dir auszuliefern?«
»Er ist heimgekehrt, um euch zu holen. Hat sich in die Höhlen geschlichen und seine Innernacht freigelassen. Seine Angst, seine Wut, seine Unzufriedenheit und einen meiner Zauber in die Gänge fließen lassen. Und er wusste nicht einmal, was er tat …«
Jetzt glaubte Krigk zu begreifen. »Das Ungeheuer, damals in der dritten Höhle. Vor dem R’hee mich gerettet hat. Das Monster, aus dem der Dämmermahr wurde …«
»Ganz genau. Er war mehrere Tage dort unten. Und hat nur darauf gewartet, dass einer kommt, in dem nicht bloß Innernacht, sondern auch Macht über die Finsternis war. Menga war das Stroh und du, mein Junge, warst der Funke.«
Gerade noch hatte Krigk geglaubt, zu verstehen. Doch von einem Moment auf den anderen verstand er gar nichts mehr. Was den Dämmerflechter sichtlich amüsierte.
»Die Wunde, mein Junge. Der Schnitt, den der Mahr dir zufügte. Durch die er in dich fuhr, als deine Schwester das Notfeuer entfachte …«
Es war, als ob diese Worte einen Vorhang zerrissen, der undurchdringlich über seinem Verstehen gelegen hatte. Die Wunde. Eine Kreatur des Dunkels, für das Raum oder Größe keine Rolle spielte … Natürlich! Das Flugzeug, die Wunde, die sich immer wieder geöffnet hatte, die schwarze Schlange … Sie war aus ihm gekommen! Er hatte den Dämmermahr erst von der Insel fort und hierher gebracht!
Der Dämmerflechter bemerkte, was in Krigk vorging, sah das Verstehen in seinen Augen.
»Oh ja, du kleiner dummer Junge. Du hast ihn hergebracht. Den Dämmermahr, das Herz dieser neuen dunklen Welt. Er ist es, durch den ich zusammen mit der Macht, Dinge aus der Wirklichkeit hierher, in die achte Dunkelheit zu holen, unbesiegbar werde …«
Krigk fröstelte. Er zitterte am ganzen Körper. Zu begreifen, was für eine Rolle er in Skadwas bösartigem Plan gespielt hatte, war noch schlimmer als die Leere, die er zuvor empfunden hatte. In ihm tosten Wut, Hass und Verzweiflung. Dunkle Wogen, die krachend irgendwo zwischen Herz und Hirn übereinander zusammenschlugen.
Dabei entsprach das Maß von Krigks Verzweiflung dem von Skadwas Zufriedenheit.
Krigk bemerkte nicht einmal, wie sein ehemaliger Meister den Dämmermahr herbeiwinkte und ihm befahl, sich vor dem Jungen aufzubauen. Weder spürte er die klingenbewehrten Tentakel, die sich hoben und senkten, noch den sonderbaren Geruch von Finsternis, den der Unhold ausdünstete. Er bemerkte auch nicht, wie Skadwa hinter ihn trat, die Hände auf seine Schultern legte und leise flüsterte: »Und bald, mein Junge, wird sich allein dank dir, die ganze Welt in Dunkelheit verwandeln …«
Mit diesen Worten stieß er ihn in Richtung des Dämmermahrs, dessen zähes Schwarz von einem Moment auf den anderen nachgab und Krigk, dem weder die Kraft noch der Wille geblieben war, sich zu wehren, langsam aber unaufhaltsam in sich hineinsog. Zähe schwarze Schlieren umwaberten ihn, verstopften Mund und Nase und legten sich über seine Augen, bis sie ihn ganz umschlossen.
Das Letzte, was er sah, war, wie sich aus der Finsternis vor einem der Fenster ein verwundeter Nachtkrabb in einen Himmel nicht enden wollender Schwärze erhob …
Der Minister hatte zunächst gar nicht gemerkt, dass eines seiner Telefone klingelte. Was umso schlimmer war, weil es sich um sein Diensthandy handelte. Über das ihn jedoch für gewöhnlich niemand abends um zehn anzurufen versuchte. Es sei denn, es handelte sich um dringende Notfälle. Probleme von dem Ausmaß, wie er gerade eines bewältigt zu haben glaubte. Weshalb er sich auch, nachdem er früher am Tag ein paar Pressekonferenzen gegeben und später das überwältigende Medienecho im Zuge der städtischen Umbeleuchtung genossen hatte, in seine Lieblingsbar zurückgezogen, das Hinterzimmer gemietet und ein paar Freunde eingeladen hatte.
Die Sicherheit war wiederhergestellt, die Bevölkerung beruhigt und alles erschien Dank Erebos Industries in einem völlig neuen Licht. Grund genug für den Minister, ein wenig zu feiern. Sie alle waren da. Freunde, Wegbegleiter und Unterstützer, die ihm im Laufe seiner Karriere zur Seite gestanden hatten. Und der Minister war willens, sich diesen Abend etwas kosten zu lassen. Alle tranken und aßen auf seine Kosten. Sie waren froh, dass er vermutlich weiter im Amt bleiben würde. Die Musik war laut und die Stimmung ausgelassen.
Bis der Minister bemerkte, dass sein Diensttelefon klingelte. Auf dem sein persönlicher Assistent ihn seit einer geschlagenen Stunde zu erreichen versuchte.
Kaum, dass der Minister die Stimme Thorben Molcherts vernahm, sackte er auf einem Stuhl zusammen und wurde kreidebleich. Seine Frau winkte dem DJ zu, der umgehend die Musik leiser drehte, sodass wirklich jeder im Raum hören konnte, wie der Minister ungläubig ins Telefon blaffte: »Was soll das heißen, wir haben ein Problem, Molchert?«
Knapp zwanzig Minuten später war dann weder vom DJ, den Freunden, den Wegbegleitern oder den Unterstützern noch etwas zu sehen. Selbst seine Frau hatte der Minister fortgeschickt, starrte nun mit halboffenem Hemd trübsinnig in ein Glas Wasser und wartete ungeduldig auf seinen Assistenten.
Und als dieser dann kurz darauf das Hinterzimmer betrat, war er nicht allein.
Der Minister wunderte sich über den Begleiter, einen schlecht rasierten rollkragentragenden Brillenträger mit wirrer Frisur und einer so blassen Haut, dass man auf den ersten Blick den Verdacht hatte, dass er in einem Keller lebte und diesen nur sehr selten verließ. Molchert stellte den Mann als Haustechniker des Ministeriums vor, was jedoch die Verwunderung seines Vorgesetzten über dessen Anwesenheit nicht schmälerte.
Sein Assistent versuchte es ihm zu erklären. »Herr Fischer hat sich heute im Lauf des Tages in den Räumen des Ministeriums mit seinem Team um den Einbau der neuen Leuchten gekümmert. Und dabei ist ihm etwas aufgefallen …«
Molchert machte eine Art Kunstpause, die dem Minister jedoch sehr missfiel, weshalb er seinen Assistenten ungehalten anblaffte. »Ja, was denn nun, verdammt noch eins! Jetzt reden Sie doch endlich! Ich will wissen, wo das Problem liegt!«
Er war aufgebracht. Und das richtig. Schließlich hatte er der Presse den Erebos-Plan als seinen eigenen verkauft. Er wollte sich nicht vorstellen, was passierte, wenn da jetzt etwas schieflief.
Verunsichert antwortete an Molcherts Stelle nun der blasse Techniker mit der seltsamen Frisur. Dabei sprach er so leise, dass der Minister sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
»Also, ich … ich habe mir eine von diesen 3000ern mal näher angeschaut. Sie in ihre Einzelteile zerlegt und das alles mal unter die Lupe genommen. Und dabei habe ich festgestellt, dass es keine normale Glühbirne ist.«
»Natürlich ist sie das nicht. Weil sie besser ist. Heller. Und das Einzige, was gegen das Dunkel hilft, das die Stadt ins Chaos zu stürzen droht, Sie Depp!«, regte der Minister sich auf.
Sein Gegenüber aber blieb ebenso ruhig wie zuvor. »Die Helligkeit ist nicht das Problem. Da ist die Leistung der Erebos 3000 ungeschlagen. Bei der Untersuchung habe ich jedoch feststellen müssen, dass jede einzelne dieser Lampen über ein eigentümliches zusätzliches Element verfügt. Nämlich eine verborgene Funksteuereinheit. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Der Minister legte seine Stirn in Falten und schaute verwundert erst den Techniker und dann seinen Assistenten an. »Nein, das tue ich nicht, verdammt noch mal! Also erklären Sie es mir! Molchert! Was genau hat dieses verborgene Steuerdings zu bedeuten?«
Thorben Molchert schluckte. Ihm war anzusehen, dass er sich alles andere als wohl in seiner Haut fühlte. »Es bedeutet, dass der Graf alle Lampen in der gesamten Stadt fernsteuern und, wenn er es will, von einem Moment auf den anderen ausschalten kann.«
Es brauchte einen Augenblick, bis der Minister ermessen konnte, was genau das bedeutete. Dann aber wurde er noch bleicher, als der Techniker es war.
Geifernd hasteten die wütenden Dunkeldachse auf sie zu.
Die ersten zehn Meter überwanden sie mit großen Sprüngen.
Nach der Schulter des Schattenvaters greifend schrie R’hee verzweifelt auf. »Tut doch etwas, Meister!«
Doch er hatte längst versucht, die Kreaturen dieser Dunkelheit mithilfe seiner Nachtzähmerfähigkeiten zu beeinflussen. Sie aufzuhalten. Ohne Erfolg. Die achte Dunkelheit schien die Geschöpfe der Finsternis zu verändern. Der alte Mann schwieg. Die Dunkeldachse setzten bereits zum Sprung an.
Und dann kam der Eiswagen aus der Finsternis geschossen.
Seine Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit.
Nur für den Bruchteil einer Sekunde sahen R’hee und der Schattenvater durch die Windschutzscheibe auf dem Beifahrersitz ein schwarz gekleidetes Mädchen mit einer Sonnenbrille, die beinahe größer wirkte als ihr Kopf. Und neben ihr einen Mann im Hausmeisteroverall, der mit entschlossenem Blick und durchgetretenem Gaspedal von der Seite in die tobenden Dachse krachte, die sich im Moment des Aufpralls in kleine schwarze Wölkchen auflösten, die sich im Dunkel verloren.
Hektisch wechselte der Fahrer vom Gaspedal auf die Bremse, sodass der Wagen im nächsten Augenblick direkt neben R’hee und dem Schattenvater zum Stehen kam.
Der Mann am Steuer nickte ihnen zu, während das Mädchen in Schwarz auf die offene Seitentür deutete und auf Nächtisch brüllte: »Rein hier! Schnell! Sofort!«
Und dann sahen der Alte und R’hee auch warum: Da waren Dutzende, womöglich Hunderte wild gewordene Dunkeldachse, Schattenbolge und Krummschwanzfinsterlinge, Kreaturen, die mit finsterem Blick hinter dem Eiswagen hertobten, um seine Insassen mit Zähnen und Klauen in die Finsternis zu zerren.
Hastig sprangen die beiden in den Laderaum des Wagens, eines der Rücklichter zersplitterte unter den Krallen einer schattenhaften Klaue, und der Fahrer gab wieder Gas. Gerade noch rechtzeitig.
Das Mädchen vom Beifahrersitz wandte sich hektisch nach hinten zu ihnen um. »Ich bin Ayumi. Das ist Herr Klandt. Ich bin blind, er ist Hausmeister. Und wir haben keine Ahnung, wo wir hier sind. Alles andere später.«
»Der Strick! Folgt dem Strick!«, rief der Schattenvater, der durch die Heckscheibe entsetzt die rasende Rotte aus Finsternis hinter dem Wagen sehen konnte, auf Nächtisch aufgeregt aus.
Eilig übersetzte Ayumi, und im Licht der Scheinwerfer folgte der Hausmeister in rasender Fahrt dem faserigen braunen Strick, der sich gegen das undurchdringliche Schwarz des Bodens abhob und jenseits des Lichtkegels in der Finsternis verschwand.
Die Situation war ein wenig merkwürdig. Anders merkwürdig als die sonderbaren Dinge, die David in den letzten Tagen gesehen und gelernt hatte, aber doch merkwürdig. Zusammen mit Meister Watanabe saß er zu Hause bei seinen Eltern am Wohnzimmertisch vor einer Tasse Tee. Im Hintergrund flimmerte der stumm geschaltete Großbildfernseher. Davids Vater war vor kaum einer Stunde von der Arbeit heimgekommen und ihm war anzusehen, dass er nur darauf wartete, den Fernseher wieder laut stellen zu können.
Aber zumindest seine Mutter erweckte den Eindruck, sich ein wenig für die Belange ihres Sohnes zu interessieren. »Ein Hausarbeitsprojekt also? Na, erzähl doch mal, worum geht es denn da genau?«, fragte sie, während sie zwei kleine Schüsselchen mit Snacks auf den Tisch stellte. Ayumis Großvater beugte sich neugierig vor, aber David trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein. Er kannte die kleinen trockenen Teigknubbel, und wusste zwar nicht genau was sie, aber mit Gewissheit, dass sie widerlich waren. Seine Mutter bot sie Gästen immer an. Was auch einer der Gründe war, dass David ungern welche mitbrachte. Und es wäre einfach nicht fair gewesen, den Alten in diese Falle laufen zu lassen.
Im taghellen Licht der Erebos-Straßenlampen betrachtete David seine Mutter und antwortete sehr überzeugend: »Soll so ’n Aufsatz über besser miteinander leben und so was werden, den wir in Zweiergruppen erarbeiten sollen. Für Sozialkunde. Ist wichtig. Für die Halbjahresnote und so.«
»Oh, die Halbjahresnote. Natürlich. Also, wenn ihr wollt, könnt ihr auch hier arbeiten. Wir haben ja auch alles hier. W-LAN, Knabberkram, und ich könntet euch auch eine Pizza machen!«
David winkte ab. Was auch ein wenig mit der veganen Pizza zu tun hatte. »Nein, nein, Ma. Das hatte ich auch schon überlegt, aber wir würden euch sicher auf die Nerven gehen. Und du weißt ja, wie Pa wird, wenn er nicht die Ruhe bekommt, die er braucht.«
Sein Vater nickte zustimmend und steckte sich eine Handvoll Snackbrösel in den Mund. »Da hat der Junge absolut recht.«
»Und denkst du, dass ihr dann morgen schon fertig seid?«, fragte seine Mutter.
»Klar. Wir machen heute Abend etwas länger und morgen früh dann gleich weiter. Bis morgen Nachmittag dürften wir dann ’ne kleine Präsentation und ’n Text haben.« David wunderte sich, wie leicht das Lügen ihm fiel. Seine Mutter lächelte ihn an. Aber sie wirkte nachdenklich. Als ob sie doch noch Argumente suchte, das Ganze hier stattfinden zu lassen. Darum stieß David den Alten unter dem Tisch noch einmal an, damit dieser sich wie geplant erwachsen und verantwortungsbewusst verhielt.
»Wissen Sie, Frau Gliehm, meine Enkelin hat inzwischen ja vermutlich bei uns zu Hause schon alles vorbereitet. Vielleicht geben sie uns einfach ein paar Pizzen mit und die können die Kinder sich dann später auch bei mir machen. Während ich dafür sorge, dass sie fleißig sind und nicht zu spät ins Bett gehen.«
Davids Mutter staunte, wie selbstständig das blinde Mädchen zu sein schien, wenn es ihr gelang, alles ganz allein vorzubereiten. Sie fand den Gedanken jedenfalls gut. »Ja, das klingt nach einer schönen Idee! Ich schau gleich mal, wie viel ich noch im Tiefkühler habe. Moment!«
David atmete innerlich auf. Und ahnte dabei, dass es seinem Vater, der bereits ungeduldig mit der Fernbedienung spielte, nicht anders erging.
»Und wenn der Junge Ärger macht, rufen sie einfach an und ich hol ihn wieder ab«, murmelte er ein Angebot, von dem David nicht sagen konnte, ob es ernst gemeint war oder nicht.
Während der alte Watanabe mühsam lächelte, kam Davids Mutter mit ein paar Tiefkühlpizzen auf dem Arm zurück.
»Na schaut doch mal, was ich hier habe!« Gerade wollte sie sie freudig emporrecken, als draußen die Straßenbeleuchtung erlosch.
Das Dunkel, das die Wohnung im nächsten Moment erfüllte, war kein gewöhnliches. Das allerdings bemerkten nur der alte Watanabe und David, dessen Eltern das Ganze bloß für einen Stromausfall hielten. Mit einem Mal änderte sich alles. Nicht nur das Gesprächsthema. Mit ernstem Blick nickte Ayumis Großvater David zu.
»Du weißt, was du zu tun hast. Hol Menga, den Flammenwerfer, das Benzin und die Gläser mit Nacht.«
Davids Vater, der aufgestanden war, um eine Taschenlampe zu holen, stutzte. »Wie? Was? Flammenwerfer?«, fragte er verstört.
»Das hat dann jetzt aber nichts mit Sozialkunde zu tun, oder?«, wollte Davids Mutter verunsichert wissen.
Nun jedoch hatte David nicht mehr die Zeit und auch nicht die Ruhe zum Lügen, und er klang beinahe etwas genervt als er seine Hände hob und seinen Eltern sehr bestimmt sagte: »Ma, Pa, hört mir zu. Es ist nicht immer leicht mit euch, aber ich hab euch wirklich gern. Sehr sogar. So sehr, dass ich wirklich ungern dabei zusehen würde, wenn ein Grantelschwarz oder so etwas euch verschlingt.«
»Das klang jetzt fast ein bisschen wie Ayumi …«, murmelte Watanabe wie zu sich selbst.
»Ja, ist mir auch aufgefallen«, meinte David.
Unterdessen versuchte sein Vater die Taschenlampe einzuschalten. Doch es blieb völlig dunkel. Auch als er den Schalter ein weiteres Mal betätigte. Verwirrt starrte er auf das Erebos-Logo im Griff. Sonst hatte sie immer funktioniert.
David seufzte. »Ihr werdet es nicht verstehen, aber es wird vermutlich dunkel bleiben. Am besten setzt ihr euch irgendwo hin, wo ihr nicht im Weg seid, und Meister Watanabe und ich kümmern uns um alles.«
Mahnend meldete der Alte sich zu Wort. »Wir haben keine Zeit, Junge. Skadwa wird nicht lange brauchen, um mich in der Dunkelheit zu finden. Und dann wird er kommen, um mich zu holen. Wir sollten uns vorbereiten, solange wir es noch können.«
Ohne zu zögern, wandte David sich zum Gehen, während Ayumis Großvater bei seinen Eltern blieb.
Verwundert blickte sein Vater seine Mutter an. »Sag mal, Schatz, hatte der Junge nicht immer Angst vor der Dunkelheit?«
Statt seiner Mutter antwortete David selbst und schaute, während er bereits in der offenen Tür stand, über seine Schultern noch einmal zu seinen Eltern zurück. »Hatte er. Aber jetzt solltet besser ihr sie haben.«