IN DEM DIE FINSTERNIS DEN SCHATTENWALL NIEDERREISST, DER DÄMMERFLECHTER LAUT LACHEND TRIUMPHIERT UND EIN AUTOUNFALL DAMIT ENDET, DASS PISTOLEN GEZOGEN WERDEN
Dem ersten Ansturm der Finsterwärtigen hatte der Schattenwall standgehalten. Doch schon jetzt wurde deutlich, dass es nicht lange gut gehen würde. Weil der Wall, kaum dass die Welle der Kreaturen mit voller Wucht hineinkrachte, eine solche Erschütterung erfuhr, dass nicht nur ein Ruck durch die Insel zu gehen schien, sondern jener Wall auch noch Risse bekam, durch die die Dunkelheit von außen hindurchzusickern begann.
Beunruhigt beobachteten Ayumi, R’hee, Klandt und der Schattenvater vom Strand aus, wie die Kreaturen sich jenseits der Mauer für einen neuen Ansturm sammelten. Das halbe Dutzend Stammeskrieger, ihre Speere mit geschliffenen Dämmerscherben bestückt und vor den Augen Tücher mit Nacht, war ebenso besorgt. Der Gedanke, es in wenigen Augenblicken mit einer Übermacht tobender Kreaturen der Finsternis aufnehmen zu müssen, behagte ihnen gar nicht. Zumal sie längst begriffen hatten, dass dies ein anderes Dunkel, ein gefährlicheres war, als das, das sie kannten.
Klandt, dem der Schattenvater, obwohl der Hausmeister im Dunkel einiges aus eigener Kraft zu sehen vermochte, sicherheitshalber ebenfalls ein mit Nacht getränktes Tuch angelegt hatte, hob seinen Zeigefinger und wies in Richtung der zornigen Schattenrotte. »Was zum Geier ist denn das?«
Der Blick des Schattenvaters folgte seinem Fingerzeig. Und als er dem Hausmeister antwortete, klang seine Stimme seltsam tonlos. »Eine Finsterklaue. Eines der gefährlichsten Geschöpfe der sechsten Art.«
»Das ist wieder einer der Namen, die mir kein gutes Gefühl machen. Aber was tut dieses Finsterding da? Es sieht beinahe aus, als ob es den anderen Befehle gibt …«
»Ich fürchte, genau das tut sie. Sie ist vermutlich geschickt worden, um den Angriff anzuführen.«
»Geschickt?«, fragte Ayumi stirnrunzelnd.
Die Stimme des Schattenvaters klang müde, als er antwortete. »Vom Dämmerflechter. Der einen weiteren Meister endgültig aus dem Weg räumen will.«
Tatsächlich wirkte es, als ob die Finsterklaue die Reihen der Schattenhaften abschritt, Anweisungen gab. Und als ob sie diesen sogar Folge leisteten.
Bolge, Finsterlinge und Dachse, selbst Grantelschwarze sammelten sich in Gruppen.
»Sie werden den Wall in Wellen stürmen. Wie ein lebender Rammbock«, murmelte Klandt. »Und nach dem, was ihr erster Ansturm ausgelöst hat, wage ich zu behaupten, dass das Ding nicht lange standhalten wird.«
Jenseits des Schattenwalls formierte sich die erste Gruppe Ungeheuer.
Auf einen Wink des schattenhaften Riesenlöwen stürmten sie, Kopf voran, mit voller Wucht in den Schattenwall.
Wieder ging ein leichtes Beben durch die Insel. Die Risse im Wall wurden größer. Und kaum dass die erste Angriffswelle sich zurückzog, brachte die Finsterklaue die nächste in Stellung.
Die Besorgnis in den Augen des Schattenvaters war nicht zu übersehen.
Dennoch war es Klandt, der zunächst noch einmal das Wort ergriff. »Wenn sie durchbrechen, werden wir ihnen hier auf dem Strand nicht lange trotzen können. Gibt es einen Ort auf dieser Insel, der sich besser verteidigen lässt?«
Der nächste Ansturm der Schattenhaften ließ die Insel erzittern. Der Wall begann zu bröckeln.
Und der Schattenvater antwortete dem Hausmeister: »Die Höhlen. Der Ort, wo alles angefangen hat. Wo wir die Frauen und Kinder versteckt haben. Der Eingang kann mit ein paar Männern eine Zeit lang gehalten werden.«
»Gut, dann sollten wir uns in die Höhlen zurückziehen. Jetzt. So schnell wie möglich.«
Als eine weitere Welle dunkler Leiber in den Wall krachte, sammelte sich die kleine Gruppe Menschen, um den Strand geschlossen zu verlassen. Gefolgt von den Kriegern ging der Schattenvater voran. Er, R’hee und Ayumi waren bereits im dichten Urwald verschwunden, als der nächste Angriff den Schattenwall zerriss und eine Welle tiefschwarzer Klauen und Zähne sich auf den Strand ergoss. Zwischen den Ungetümen hindurch drängte die Finsterklaue nach vorn. Den schwarzen Blick starr auf die Fliehenden gerichtet, hetzte sie ihnen nach. Und während sich auch der Rest der dunklen Welle aus finsteren Leibern in Bewegung setzte, schrie der Hausmeister den anderen zu: »Lauft! Verdammt noch eins, lauft!«
Alle begannen zu rennen.
Und sie wurden noch schneller, als hinter ihnen die ersten verzweifelten Schreie der Krieger erklangen.
»Nun, alter Mann? Hast du noch etwas zu sagen?« Triumphierend baute der Dämmerflechter sich vor dem alten Watanabe auf und schaute kurz zu den aus der Wand ragenden Resten des Balkons empor. Im Hintergrund begann der Körper der Finsterklaue sich langsam aufzulösen und mit dem sie umgebenden Dunkel zu vermischen. Einige Meter entfernt hob Menga, der seine Augenbinde noch immer nicht gefunden hatte, den Nachtflammenwerfer vom Boden. Skadwa lachte leise auf und gab dem Dämmermahr ein Zeichen, worauf dieser den Riesen mit einem wuchtigen Hieb bewusstlos schlug und er leblos zu Boden fiel.
Dann wandte der Dämmerflechter sich wieder dem Nachtwahrer zu und musterte ihn verächtlich. Da lag er. Zwischen Trümmern und Schutt. Kuro Watanabe. Der mächtige Nachtzähmer. Verrenkt. Besiegt. Sein Bein war übersät von Prellungen und kleinen Wunden. Womöglich war es sogar gebrochen.
»Was sollte ich sagen …«, hustete der alte Mann unter Schmerzen.
Mit dem Fuß schob Skadwa beiläufig einige Steine beiseite und winkte den Dämmermahr heran, der mit behäbigen Schritten, von finsteren Tentakeln umwogt, langsam näher kam.
»Ich dachte nur, weil es doch deine letzten Worte sein werden …«
Ayumis Großvater atmete schwer. Alles tat ihm weh. Womöglich hatte er sich beim Sturz auch noch ein paar Rippen gebrochen. Er blinzelte ins Dunkel und sah die riesige Gestalt des Mahren, die sich im Dunkel hinter Skadwa aufbaute.
»Was … was hast du vor?«, fragte der Alte, dem das Sprechen sichtlich schwerfiel.
»Ich werde herrschen, alter Mann. Über die Dunkelheit, die Welt. Und beides wird eines sein.«
»Und was wird aus den Menschen? In deiner neuen Dunkelheit?«
Der Dämmerflechter, dessen Silhouette in diesem Moment auf eigentümliche Weise mit der des Mahren eins zu werden schien, zuckte mit den Schultern.
»Das wird sich zeigen. Ich denke, sie werden sich verändern. Wenn ihr eigenes Dunkel sie erst umgibt und zugleich in ihnen ist. So oder so, wird die Dunkelheit die Welt regieren. Und ich bin es, der die Dunkelheit regiert.«
Der alte Watanabe schloss die Augen und atmete, begleitet von einem rasselnden Geräusch, tief ein. Er dachte an seine Enkelin. Ayumi. An David. An die Freude, die er empfunden hatte, als die beiden gemeinsam mit ihm im Keller des fensterlosen Hauses gelernt hatten. Er hatte in ihnen bereits eine neue Generation Nachtzähmer gesehen, die gemeinsam mit Krigk und R’hee eines Tages womöglich … Tränen traten unter seinen geschlossenen Augenlidern hervor.
Skadwa schmunzelte und stieß Watanabe mit dem Fuß an. »Na, na, na. Du wirst doch jetzt auf den letzten Metern nicht noch sentimental werden, alter Mann?«
Mühsam hob der Nachtwahrer seine Lider. Seine Augen hinter der dunklen Brille, in der ein schmaler Sprung klaffte, schienen beinahe leer. Als ob alle Hoffnung daraus verschwunden war.
Was immer der Dämmerflechter vorhatte, was immer auch geschah, er würde ihn nicht aufhalten können.
Und doch schämte er sich der Tränen nicht, die ihm über die Wangen liefen, als er Skadwa trotzig entgegenfunkelte, während dieser weitersprach: »Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Du und der Schattenvater, ihr werdet all das nicht mehr miterleben. Die Gefahr ist zu groß, dass ihr die achte Dunkelheit irgendwann ebenfalls verstehen und beherrschen lernt. Du verstehst sicher, dass ich euch nicht am Leben lassen kann, nicht wahr?«
Fassungslos schüttelte der Alte den Kopf. Skadwa gab dem Dämmermahr das Zeichen, ihm den Garaus zu machen. Bedrohlich hob das schwarze Ungetüm seine finsteren Tentakel.
Seufzend senkte Watanabe den Kopf, als er plötzlich aus dem Augenwinkel einen Tentakel des Dämmermahrs bemerkte, der von einem Moment auf den anderen wie erstarrt schien. Als ob er in der Luft festgefroren wäre. Müde wandte er den Kopf und blinzelte, während der Dämmerflechter ihn noch immer triumphierend anstarrte, ungläubig in die Dunkelheit. Alle Tentakel des Unholds waren mit einem Mal erstarrt. Und von einem Moment auf den anderen begannen sie sich aufzulösen. Watanabe stutzte kurz. Dann musste er lächeln. Verstört bemerkte der Dämmerflechter die Veränderung in seinem Gesicht, den auf den Mahr gerichteten Blick des Alten und drehte sich langsam zu seinem Ungeheuer herum.
Und entsetzt musste er mit ansehen, was damit vor sich ging. Wie der riesige Dämmermahr zusammenbrach, völlig reglos verharrte und sich von außen nach innen hin langsam aufzulösen begann. Skadwas Augen weiteten sich vor Schreck. Das konnte unmöglich wahr sein!
Langsam löste der Körper des Ungetüms sich in Nichts auf und vermischte sich mit dem Dunkel. Vor den Augen des Dämmerflechters schrumpfte seine Schöpfung, wurde kleiner, schmolz. Fassungslos beobachtete er, wie erst der Kopf und dann die Schultern in der Finsternis verschwanden und der Dämmermahr sich mehr und mehr verflüchtigte.
Skadwa begriff ebenso wenig wie Watanabe, was hier eigentlich passierte, und keiner von beiden hätte mit dem gerechnet, was als Nächstes geschah. Dass im Inneren des Körpers nach und nach etwas sichtbar wurde.
Vor ihrer beider Augen knieten, zitternd und einander im Arm haltend, David und Krigk, von denen das langsam schwindende Dunkel zäh herabtroff. Verwirrt blinzelten die Jungen die beiden Männer an.
Reglos stand Skadwa dort. Der alte Watanabe lachte müde. Beinahe im gleichen Moment tauchte Menga aus dem Dunkel auf. Eine riesige Beule auf der Stirn, zornig den Flammenwerfer im Anschlag, brüllte er, so laut es ging: »Zur Seite!«
David reagierte beinahe gleich, er griff nach Krigks Schulter und warf sich mit ihm zu Boden, lachend lehnte Ayumis Großvater sich zurück und dann wurde Skadwa von einer grellen Stichflamme ergriffen.
Im Gegensatz zu der Finsterklaue und seinem Mahr brannte er nicht lichterloh, sondern löste sich einfach gleich in Dunkelheit auf. Dünne finstere Schwaden, die in die lichtlose Luft entwichen und sich binnen weniger Augenblicke in reines schwarzes Nichts verwandelten.
Als Erstes kümmerte Menga sich um die Jungen. Dann griff er Ayumis Großvater unter die Arme und half ihm, sich aufzurichten. »Und jetzt?«, wollte er wissen.
»Sollten wir herausfinden, wo Ayumi und die anderen sind. Und sie dort rausholen.«
»Klingt nach einem Plan«, entgegnete Menga, während er seinen leeren Gürtel begutachtete. Kurz darauf hob er den Kopf und blickte sich verwundert um. »Ich dachte, wir hätten ihn besiegt. Warum ist es noch immer dunkel?«
»Weil da noch jemand anders die Finger im Spiel hat«, murmelte Watanabe.
»Der Graf«, flüsterte David, der langsam wieder zur Besinnung kam.
Menga blickte ihn nachdenklich an. »Gut. Dann heißt unser Ziel also Erebos Industries.«
Ayumis Großvater nickte schwach. »Ja. Aber hol bitte den Wagen. Ich glaube nicht, dass ich jetzt ein Dunklon reiten könnte …«
Im hinteren Teil der Höhlen brannten kleine Feuer, an denen die Frauen und Kinder des Dorfes sich wärmten.
Während die verbliebenen Krieger sich im Eingangsbereich in Stellung brachten und eine zweireihige Speerphalanx bildeten, betrachtete Klandt im spärlichen Widerschein der Fackeln die Malereien an den Wänden. Der Schattenvater blickte sich um. Das unruhige, aus den Höhlen dringende Licht war ungewohnt. Jahrhundertelang hatte hier unten allenfalls ein Notfeuer gebrannt. Hier unten hatten, verborgen vor den Menschen, vor allem Schatten gewohnt. Jetzt war es plötzlich umgekehrt. Aber für solche Gedanken war keine Zeit. Auf dem Weg hierher hatten sie drei Männer verloren. Das schwächte ihre kleine Gruppe merklich.
Hinter seinem Rücken erklärte R’hee Ayumi gerade die verschiedenen Höhlen, wofür diese ihr im Gegenzug von den Kellern des fensterlosen Hauses erzählte, deren Aufbau dem der Höhlen sehr ähnlich war.
»Das ist unglaublich. Wunderschön«, murmelte der Hausmeister, der die meisten Kreaturen, die vor langer Zeit schon an die Wände dieser Höhlen gezeichnet worden waren, wiedererkannte. Weil er sie im Dunkeln gesehen hatte. Viele davon hatte er gefürchtet. Bis er gelernt hatte, mit ihnen umzugehen. Sich mit ihnen zu arrangieren. Auf seine Art. Und jetzt wusste er, dass es Männer wie Ayumis Großvater und diesen Alten gab. Nachtzähmer, die die Gesetze der Dunkelheit kannten und lehrten.
Bevor er diesen Gedanken aber fortführen konnte, erklangen vom Eingang her die aufgeregten Rufe der Krieger.
Die Nachtwärtigen hatten die Höhle erreicht.
Tatsächlich ermöglichte es ihnen die Enge des Ganges, den Ansturm der Geschöpfe zu bremsen und sich zu verteidigen. Zumindest eine Zeit lang würde das funktionieren. Aus dem Inneren konnte der Schattenvater erkennen, wie die Finsterklaue draußen vor der Höhle noch immer die Angriffswellen der Geschöpfe koordinierte. Wie das Untier kleine Gruppen aufteilte, die es eine nach der anderen in die Höhle hetzte. Schattenbolge und Dunkeldachse, die sich, von den Dämmerscherbenspeerspitzen verwundet, in dünne Schwaden Finsternis auflösten. Dann folgte auch schon die nächste Welle.
Und mit jedem Ansturm schwächten die Kreaturen die Stammeskrieger mehr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis zunächst die erste und daraufhin die zweite Reihe einknickte. Dann würden die Nachtwärtigen die Höhle fluten. Und der Schattenvater wollte sich gar nicht vorstellen, was geschah.
Der Hausmeister drehte den Kopf und folgte mit den Augen dem besorgten Blick des Alten. Er sah die Krieger, die sich mit verbissenen Mienen gegen die herantobenden Kreaturen zur Wehr setzten. Die ersten brachen bereits geschwächt zusammen. Auch Klandt war bewusst, dass sie nicht lange standhalten würden.
»Die Höhle«, wandte er sich an den Alten und bedeutete Ayumi hektisch, seine Worte ins Nächtische zu übersetzen. »Hat sie noch einen anderen Ausgang?«
Der Schattenvater schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
Unter dem nächsten Ansturm einer wilden Horde Grantelschwarze brach ein weiterer Speerträger zusammen. Damit war ihre erste Verteidigungsreihe nun komplett weggebrochen. Aus dem Inneren der Höhlen drangen die Stimmen von Müttern, die beruhigend auf ihre ängstlichen Kinder einredeten.
Als nun die nächste Rotte Finsterwärtiger in die Speerphalanx krachte, nahmen R’hee und Ayumi einander in den Arm. In dieser Höhle wirkte das kleine Mädchen in Schwarz mit ihrer Sonnenbrille beinahe wie eine Außerirdische.
Klandt richtete sich auf. Er atmete tief durch, schaute von den letzten verbliebenen Kriegern zum Schattenvater und den beiden Mädchen hinüber.
Dann krempelte er seine Ärmel hoch, zog sich die mit Nacht getränkte Binde vor die Augen und stapfte zum Höhleneingang hinüber.
Draußen machten sich einige Dunkeldachse bereit zu stürmen. Hinter ihnen stand die Finsterklaue, die den Höhleneingang nicht aus den Augen ließ. In diesem Moment wirkten der Hausmeister und die Finsterklaue, er hinter einer Reihe Speerträger, sie hinter einer Reihe Dunkeldachse, beinahe wie Spiegelbilder.
Doch noch bevor die Dachse sich im Dunkel in Bewegung setzen konnten, schob Klandt plötzlich von hinten die Krieger beiseite, trat in den Gang, schob die Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus, der die Finsterklaue zusammenfahren ließ. Im nächsten Augenblick setzte sie sich mit geschmeidigen Schritten in Bewegung, schob sich durch die Gruppe der Dachse, näherte sich, ihre Augen starr auf die des Hausmeisters gerichtet, gravitätisch langsam dem Eingang.
Klandt schluckte, er streckte beide Hände weit von sich, vollführte langsame, ruhige Bewegungen und raunte den anderen, ohne sich umzuwenden, zu: »Los. Verschwindet. Ab in die Höhle. Ich weiß noch nicht, wie das hier ausgeht. Aber für den Fall, dass es schiefgeht, möchte ich nicht, dass ihr dabei zusehen müsst.«
Der alte Volvo donnerte durch die leeren Straßen einer finsteren Stadt.
Das Licht der Scheinwerfer reichte kaum zwei Meter weit. Dann wurde es von dem gleichen Dunkel verschlungen, das auch alles andere verschlang. Einem fremden merkwürdigen Dunkel, das die Welt veränderte.
Der alte Watanabe, der sich von seinem Sturz erstaunlich schnell erholt und offenbar keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte, fuhr schneller als erlaubt und starrte konzentriert vor sich auf die Straße.
Menga saß auf dem Beifahrersitz und blickte ungläubig hinaus ins Dunkel. Dank des Nachttuches vor seinen Augen vermochte er zu sehen, dass die Nacht um sie herum in Bewegung war. Überall in der Finsternis regten sich Kreaturen, schlichen, hetzten, sprangen umher. Einige kaum größer als eine Männerfaust, andere riesig wie das Dunklon, auf dem sie geritten waren. Es waren Hunderte, Tausende womöglich, die, unsichtbar für die Menschen, um die Häuser streiften und die Nacht mit einem sonderbaren Leben erfüllten. Die meisten dieser Geschöpfe kannte er aus Erzählungen des Schattenvaters. Einige von ihnen hatte er daheim auf der Wand in den Höhlen auf Whaku sogar gesehen. Aber hier, in der Stadt, inmitten der Zivilisation, wirkten sie geradezu unwirklich. Wie die Ahnung einer alten Magie, die unbemerkt von den meisten immer schon existiert hatte.
Krigk saß in sich zusammengesunken auf der Rückbank und starrte vor sich hin. In Gedanken war er noch immer im Dämmermahr gefangen. Er begriff nicht, was um ihn herum geschah, und das Dunkel in seinem Inneren lichtete sich nur langsam.
Neben ihm hatte David den Karton mit den beiden Schattenhamstern, den er unbedingt hatte mitnehmen wollen, auf den Schoß genommen und blickte versonnen hinein. Ineinandergekuschelt schliefen Rocky und Tinkerbell am Boden des Kartons. Obwohl sie völlig verschieden waren, schienen sie sich prächtig miteinander zu verstehen. Auch wenn er wohl nie mit ihr zusammen in die Sonne blinzeln und nie das sehen würde, was sie sah. Aber das war kein Hindernis. Ebensowenig wie bei David und Ayumi. Er seufzte schwermütig, hoffte, dass ihr nichts passiert war. Dass sie sie bald fanden. Zurückholten. Und er nahm sich sogar vor, ihr dann etwas zu sagen. Vielleicht zumindest.
Es war die Stimme ihres Großvaters, die David schließlich aus seinen Gedanken riss. »Wir müssen einen Weg finden, diese Dunkelheit zu beenden«, sagte er laut.
»Wir müssen vor allem Ayumi und die anderen finden!«, empörte David sich auf dem Rücksitz.
Der alte Watanabe versuchte ihn zu beschwichtigen. »Das auch. Aber zunächst müssen wir diese Finsternis besiegen. Spürst du es nicht? Wie es dort draußen mit jeder Minute dunkler wird? Wenn wir dem nicht Einhalt gebieten, wird die Sonne womöglich nie wieder aufgehen …«
»Dann sollten wir uns beeilen«, drängte David.
Ayumis Großvater lächelte, drückte das Gaspedal noch ein wenig mehr durch und folgte dem Licht seiner Scheinwerfer noch ein wenig schneller. Und jetzt war es Menga, der den Blick von den Kreaturen der Dunkelheit losriss und sagte: »Wenn dieser Graf also tatsächlich die Lampen kontrolliert und sie wissentlich abgeschaltet hat, damit der Dämmerflechter sich Euch holen kann, dann stecken die beiden unter einer Decke?« Der Hüne wusste über die neue Beleuchtung der Stadt nur das, was in den Medien zu sehen war. Fernsehen und Zeitung. Der Graf als Wohltäter, Erebos Industries als Retter. Weil sie das Licht brachten, das Verbrechen in der Dunkelheit unmöglich machte. Zumindest war es den Menschen dort draußen so verkauft worden. Bis das rettende Licht verloschen war …
Der Alte nickte nachdenklich, den Blick unablässig auf die Straße gerichtet. »Ja. Die beiden scheinen Verbündete, oder zumindest so etwas Ähnliches …«
»Was meint Ihr damit, Meister Watanabe?«, fragte Menga, der sich insgeheim gewünscht hätte, für seinen Flammenwerfer noch ein paar Gläser mit Nacht übrig zu haben.
»Weißt du, ich habe auch schon über die beiden nachgedacht. Sie scheinen sehr viel Zeit auf ihren Plan verwendet zu haben. Erebos Industries ist schließlich nicht immer das riesige internationale Unternehmen gewesen, das es heute ist. Das hat Jahre gedauert. Jahrzehnte. Was für einen groß angelegten Plan spricht …«
»Jahrzehnte? Ernsthaft?« Menga staunte. Er war schließlich selbst Teil eines Planes gewesen, der aber allenfalls einen Bruchteil dieser Zeit in Anspruch genommen hatte. Und was das für die Beziehung Skadwas und des Grafen bedeutete, konnte er nur ahnen.
»Vorsicht!«, schrie David plötzlich von der Rückbank.
Beinahe im gleichen Moment trat Ayumis Großvater auf die Bremse.
Auch er hatte die riesige schwarze Limousine gesehen, die von rechts im Schritttempo auf die Kreuzung gefahren war. Doch der Vollbremsung zum Trotz konnte er nicht verhindern, dass der Volvo seitwärts in den fremden Wagen krachte. Während der alte Watanabe angeschnallt war, wurden Menga, David und Krigk nach vorn geschleudert. Geistesgegenwärtig hielt David, bevor er gegen Watanabes Kopfstütze knallte, noch die Hand über den Karton.
Menga traf es nicht ganz so gut. Weil sich vor ihm anstelle einer Kopfstütze die Windschutzscheibe befand. Schmerzerfüllt schrie er auf, zerrte sich das Tuch vom Gesicht, hielt sich den Kopf und stieß Schimpfwörter in der Sprache seines Stammes aus, die David sogar erröten ließen, obwohl er sie nicht verstand.
Während Ayumis Großvater benommen den Kopf schüttelte, Menga noch immer fluchend die anschwellende Beule auf seiner Stirn abtastete, David beruhigend auf die beiden durcheinandergewirbelten Schattenhamster einredete und Krigk noch immer nicht recht bei Sinnen war, öffneten sich plötzlich die Türen der Limousine. Zwei Anzugträger sprangen heraus und zogen Pistolen unter ihren Jacketts hervor. Sie richteten sie auf Menga und Watanabe, bellten dabei einige knappe Befehle, während David durch die offene Hintertür auf dem Rücksitz des fremden Wagens den Innenminister zu erkennen glaubte.
Die Personenschützer zerrten den Alten und den Hünen aus dem Wagen. Was seltsam wirkte, weil sie beide einen guten Kopf kleiner waren als Menga. Der allerdings ein wenig angeschlagen war. Außerdem war offensichtlich, dass sie mit ihren Waffen umgehen konnten. Während seine Freunde ausstiegen und sich flach auf den Asphalt legen mussten, bemerkte David über ihnen das aus der Dunkelheit hervorleuchtende Erebos-Logo auf dem Turm der Fabrik.
Zumindest waren sie so gut wie da. Wenn auch nicht ganz so wie geplant.
Die Bodyguards des Ministers schrien noch immer. Menga und der Alte legten die Hände über den Kopf. David sah, wie einer der Leibwächter sich ihm zuwendete und ihn anbrüllte. Als er ihn aus dem Wagen winkte, leistete David sofort Folge. Allerdings nicht ohne den Karton mitzunehmen. Was den Mann offenbar ebenso irritierte, wie Krigk, der völlig abwesend auf der Rückbank des Volvos kauerte.
Verwirrt blickte der Personenschützer erst seinen Kollegen an, dann wieder zu David zurück und richtete die Waffe auf ihn. »Der Karton! Runter damit!«
David schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Weil sie dann sicher weglaufen.«
Das war eine Aussage, die die Verwirrung seines Gegenübers nicht schmälerte.
»Stell ihn ab! Ganz langsam!«
»Das kann ich nicht. Tinkerbell gehört ja nicht mal mir. Und Rocky eigentlich auch nicht. Ich mein, wenn die abhauen, finden wir die nie wieder!«
»Tu, was ich sage, Junge! Sofort!«, blaffte der Leibwächter ihn an.
Eingeschüchtert ging David langsam in die Hocke und fragte kleinlaut: »Aber auf Ihre Verantwortung. Sie kennen sich ja schließlich mit Schattenhamstern nicht so aus.«
Dem Mann war anzusehen, dass das Verhalten des Jungen ihn sichtlich verunsicherte. Inzwischen war auch der Minister aufmerksam geworden und lugte vorsichtig aus dem Wagen.
Und jetzt erkannte ihn auch Ayumis Großvater. »Herr Minister! Gut, dass wir Sie treffen!«
Jetzt war der Angesprochene an der Reihe, verwundert zu sein. Und der alte Watanabe fuhr schnell fort, bevor irgendjemand ihm den Mund verbot oder der Mann wieder im Wagen verschwand. »Sie und Ihre Leibwächter werden uns sicher behilflich sein können, wenn wir zum Grafen wollen!«
Damit hatte er die volle Aufmerksamkeit des Ministers, den nun selbst seine Leibwächter nicht davon abhalten konnten, auszusteigen, stirnrunzelnd die kleine Gruppe aus dem Volvo zu betrachten und dann auf den Turm zu weisen.
»Sie … Sie wollen also auch zu Jan Graf Erebos?«, fragte er Watanabe. »Warum genau, wenn ich fragen darf?« Er konnte seine Neugier nicht verhehlen. Hinter ihm tauchte Molchert in der offenen Wagentür auf.
»Herr Minister! Steigen Sie wieder ein! Hier ist es nicht sicher!«
Der Angesprochene aber winkte ab, während Watanabe vom Boden aus in Richtung des Turmes nickte.
»Oh! Weniger sicher, als Sie denken. Weil ein neues Dunkel sich erhebt. Und eben darum sollten wir so schnell wie möglich dort hoch, um das Ganze zu beenden.«
»Weil das Dunkel sich erhebt?«, fragte der Minister und hob eine Braue, während Molchert ihn wieder in den Wagen zu zerren versuchte.
»Sie werden gleich verstehen, was ich meine. Lassen Sie mich Ihnen nur kurz etwas zeigen.«
Weder die Leibwächter noch Molchert hatten ein gutes Gefühl dabei, als ihr Vorgesetzter den alten Mann aufstehen und zu dem Hünen hinübergehen ließ, dem er eine faserige Stoffbinde abnahm, um sie dem Minister zu überreichen. Dieser zögerte einen Augenblick, legte sie dann aber den Anweisungen Watanabes folgend vorsichtig an.
»Ach, du lieber Himmel!«, entfuhr es ihm.
Und Menga, der Alte und David wussten sehr genau, weshalb. Weil er sie jetzt sah. Die Horden von Dimmlingen, Schemenschnablern, Grantelschwarzen und Schattenkeimlingen. Dunklons, Zwielichtlinge, Schattenbolgs und umherschwirrende Nachtwanzen und Dämmerflügler.
Während der Minister sich ungläubig einmal um seine eigene Achse drehte, entglitten ihm langsam die Gesichtszüge. Und sie alle wussten, dass er ihnen jetzt nichts mehr abschlagen konnte und dass er und seine Bodyguards ihnen zur Seite stehen würden, wenn sie den Grafen in seinem Turmzimmer stellten.