Über einen schmalen Pfad führte David seine Eltern zwischen riesigen Büschen und Sträuchern hindurch. Immer wieder musste er die Blätter exotischer Pflanzen beiseiteschieben und seine Mutter war aufgrund ebenso fremdartiger Insekten froh, im Vorfeld eine halbe Dose Mückenspray auf sich, ihren Mann und ihren Sohn entleert zu haben. Es war ein eigentümliches Gefühl. Keine zwanzig Minuten von der Innenstadt entfernt bewegte Familie Gliehm sich, den feinen weißen Sand vom Strand noch an ihren nackten Füßen, plötzlich in hellem Tageslicht durch einen dichten Dschungel.
Davids Eltern staunten, wie entschieden ihr Sohn vorausging. Als ob er den Weg tatsächlich kannte.
»Und wie genau ist dieses Ding jetzt hierhergekommen?«, wollte seine Mutter wissen und schaute sich verstört um. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, dass sie eigens für den Besuch auf der Insel ausgesucht hatte. Die meisten Pflanzen um sie herum hatte sie noch nie zuvor gesehen, noch nicht einmal von ihnen gehört.
»Glaub mir, Ma, das ist zu kompliziert. Vielleicht erzähl ich es dir irgendwann mal, aber im Moment haben wir dafür echt keine Zeit. Wir sind spät dran. Kommt schon, die anderen warten!«
»Du meinst der kleine alte Mann und deine anderen Freunde?«
»Ja, ganz genau. Ihr werdet staunen, wer da alles noch auf euch wartet!«, rief David vergnügt aus und eilte weiter voran.
»Er hat doch nie Freunde gehabt, oder?«, wandte sein Vater sich leise an seine Mutter.
»Ich glaube, in letzter Zeit hat sich da einiges getan«, flüsterte sie zurück.
»Ich kann euch übrigens hören.« David lachte, schob die Blätter eines riesigen Farns beiseite und eröffnete den Blick auf eine kleine Lichtung, hinter der sich wiederum inmitten einer Felswand der Eingang einer Höhle erhob.
Vor dieser stand im strahlenden Sonnenlicht ein großer Tisch, unter dem Pickel und Tiger friedlich dösten, während Herr Klandt, die beiden Meister, Ayumi, R’hee, Krigk und der riesige Menga vor Schalen mit Obst saßen und auf sie warteten. Tinkerbell lief auf dem Tisch auf und ab, schnüffelte an den Schalen und rieb sich zwischendurch immer wieder an einem kleinen Karton, der dazwischen stand und von dem David sich denken konnte, was drin war. Ayumi sprang als Erste auf und kam ihm freudig entgegengeeilt. Lachend umarmte sie ihn und Pickel sprang an ihnen hoch. Um sie herum zwitscherten fremdartige Vögel. Die Stimmung war ausgelassen. Vergnügte Gesichter, wohin man schaute. Die Begrüßung war herzlich. David ging von einem zum anderen, stellte alle seinen Eltern vor, die sich, als sie Watanabes Hand schüttelten, sehr deutlich daran erinnerten, wie der alte Mann sie in ihr Schlafzimmer geschickt hatte. Schließlich setzten sie sich neben Herrn Klandt, den sie zumindest schon ein wenig kannten, und David versicherte seiner Mutter, dass sie eigens für sie das veganste Obst der Insel aufgetischt hätten. Das Lachen löste die Stimmung, dazu kam die Erinnerung an das, was sie alle gemeinsam durchgestanden hatten. Wobei Menga, unendlich froh darüber, dass sein Verrat ihm verziehen war und er wieder inmitten der seinen weilen durfte, bei Weitem am lautesten lachte. Man hatte beinahe das Gefühl, als ob die Insel unter seinem Gelächter erbebte. Alle waren ausgelassen und vergnügt. Und doch fühlten Davids Eltern sich nicht recht wohl in dieser fremdartigen Kulisse, an diesem Ort, der nicht einmal hätte hier sein dürfen. Das änderte sich interessanterweise, als einen Moment später der Minister und sein Assistent aus dem Dschungel traten und sich zu ihnen gesellten. Als ob mit diesem Mann ein Anker zur Realität geworfen wurde, der die Wirklichkeit auf beruhigende Weise mit diesem unwirklichen Ort verband. Die Tatsache, dass der Minister ihren Sohn herzlich begrüßte, machte Davids Eltern jedenfalls sichtlich stolz. Die beiden Neuankömmlinge, die in ihren Anzügen etwas deplatziert wirkten, setzten sich zu der Gruppe und während Pickel und Tiger vergnügt um den Tisch tobten, hob Ayumis Großvater seinen Becher. »Freunde, ich möchte mit euch trinken! Auf die Dinge im Dunkel und die Dinge im Licht!«
Auch die anderen griffen nach ihren Bechern und der Schattenvater tat es dem Nachtwahrer nach. »Auf das, was war, und das, was wird!«
Nachdem Watanabe seinen Trinkspruch übersetzt hatte, stimmte auch der Hausmeister mit ein.
»Die Gewissheit, dass wir mit den richtigen Menschen an unserer Seite alles schaffen können.«
»Nicht nur Menschen, Herr Klandt!«, rief David und prostete in Richtung des Kartons. »Auf Rocky und Tinkerbell!«
»Auf Rocky und Tinkerbell!« Der gesamte Tisch lachte und dann tranken sie.
Sie saßen noch lange dort an dem riesigen Tisch. Sprachen über die erlebten Abenteuer, dachten zusammen an die Schrecken und Wunder der vergangenen Tage, spielten mit den Hunden und genossen das Licht der Sonne. Hinter ihnen gähnte dabei der Eingang der Höhle, in der so viele Nachtzähmer seit Urzeiten ihr Handwerk gelernt hatten.
»Meister?«, wendete David sich, während der Rest des Tisches in angeregte Gespräche versunken war, dem alten Watanabe zu. »Was ist mit der Prophezeiung? Dem Auserwählten?«
Ayumis Großvater schaute ihm in die Augen. »Mit Prophezeiungen, mein Junge, ist das so eine Sache.« Lächelnd wiegte er seinen Kopf hin und her und zitierte noch einmal die Prophezeiung: »Der erschafft, was zuvor nicht war. Der tut, was noch nie getan wurde. Der das Dunkel verändert. Das bist du. Weil du eine Insel unweit von Düsseldorf geschaffen hast. Weil du deine Ängste besiegt, die Welt gerettet und das Dunkel verändert hast.«
»Wow«, murmelte David leise. Der Auserwählte …
Watanabe aber sprach weiter. »Oder Klandt. Der Tinkerbell erschaffen, Nacht mit Benzin gemischt und eine Finsterklaue gezähmt hat.«
David blickte zu Klandt hinüber, der seinen Eltern gerade wild gestikulierend irgendetwas erzählte, das seine Mutter zum Lachen brachte. Ja, ihm hätte er es auch gegönnt, der Auserwählte zu sein. Doch Watanabe war noch nicht fertig.
»Oder selbst Krigk, der im Dämmermahr gefangen war. Und dann ist nicht einmal sicher, ob der Auserwählte nicht vielleicht sogar ein Mädchen ist.«
David schaute sie an. Krigk, R’hee und Ayumi. Und auch sie schienen ihm gute Auserwählte.
»Selbst der Dämmerflechter hätte es sein können. So wie er es sich erhofft hatte. Oder auch Tinkerbell. Am Ende spielt es keine Rolle. Weil Prophezeiungen den Menschen Hoffnung, aber niemals Gewissheit geben. Und dafür sind sie da. Wenn du mich fragst, sind wir vielleicht auch alle auserwählt. Die einen etwas mehr, die anderen etwas weniger.«
Seltsamerweise stellte diese Antwort David zufrieden. Sie hatte etwas Versöhnendes. Das niemand besser als irgendjemand anderen machte. Und weil er es jedem hier gönnte, Teil irgendeiner Prophezeiung zu sein. Zufrieden betrachtete er das vergnügte Grüppchen am Tisch. Seine Freunde, seine Eltern, Molchert und den Minister. Einer seltsamen, aber guten Prophezeiung. Wobei er trotzdem hoffte, dass die ganze Sache sich nicht wiederholte.
»Und was wird jetzt? Was ist mit der Innernacht? Wie gefährlich ist sie noch?«, wandte er sich dem alten Watanabe wieder zu und schaute ihn besorgt an.
»Ach David …«, entgegnete der. »Weißt du, die Innernacht hat es immer gegeben. Und daran wird sich wohl auch nie etwas ändern. Weil sie ein Teil des Menschen ist. Und damit er das Licht überhaupt zu schätzen versteht, muss die Innernacht vermutlich sogar existieren. Am Ende geht es einzig darum, dass sie nicht zu groß wird, und wir lernen mit ihr umzugehen.«
David nickte nachdenklich. Das war eine gute Antwort. Eines Meisters würdig. Das würdige Fazit eines Abenteuers, wie es wohl nur Menschen erlebten, die zumindest ein wenig auserwählt waren …